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Menschliche Evolution und Kultur gehören



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Menschliche Evolution und Kultur gehören 6 zusammen

6.1 Was ist Kultur?

Es wäre völlig falsch, sich Menschwerdung zunächst als biologisches und danach als kulturelles Geschehen vorzustellen. Kultur entstand nicht erst, nachdem der Mensch seine für den Aufbau der Kultur nötige Ausstattung erlangt hatte, sondern war von Anfang an wesentlicher Bestandteil humanoider Evolution. Kulturelle Phänomene sind auch nicht auf den Menschen beschränkt, sondern in Ansätzen bereits bei anderen Tieren vorhanden. Schimpansen haben eine Kultur des sozialen Umgangs und des Werkzeuggebrauchs. Delphine haben eine Sprache mit einer Syntax, die schrittweise von den Jungtieren erworben wird, und Buckelwale haben eine Gesangskultur, die sich wandelt und Anregungen von anderen Gruppen übernimmt. Ein nettes Beispiel wurde bei japanischen Makaken beobachtet. Diese Primaten, die sich normalerweise nur im Wald aufhielten, gewöhnten sich daran, Süßkartoffeln, die man auf einer freien Sandfläche hinwarf, aufzuklauben und zu essen. Ein Jahr später wurde ein Weibchen beobachtet, wie es eine Süßkartoffel zum nahegelegenen Wasser trug, sie mit einer Hand ins Wasser tauchte und mit der anderen den Sand abrieb. In den darauffolgenden Jahren breitete sich diese Technik langsam auf die ganze Gruppe aus. Später wurde das Kartoffelwaschen ins Meer verlegt. Es ist zu einer festen Tradition der Makaken geworden, die die Kinder von ihren Eltern lernen (Kummer 1975).

Dennoch wird niemand bezweifeln, dass menschliche Kultur qualitativ etwas Neues in der Evolution darstellt. Es gilt nun herauszuarbeiten, worin dieses Neue besteht.

Camilleri (1985) kennzeichnet Kultur folgendermaßen: (a) Kultur umfasst die Gesamtheit der erlernten Bedeutungen, die in einer Population weitverbreitet sind, (b) sie bewerkstelligt, dass Werthaltungen und soziales Verständnis von allen (mehr oder minder) geteilt werden und (c) sie führt zu Verhaltensmustern, die diese gemeinsamen Wertüberzeugungen widerspiegeln. Aber dieses Verständnis greift zu kurz, weil es Kultur rein mentalistisch als etwas definiert, was sich in den Köpfen von deren Mitgliedern abspielt.

R. Oerter, Der Mensch, das wundersame Wesen, 111

DOI 10.1007/978-3-658-03322-4_6, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014


Schon im Alltagsverständnis gehören Kunstwerke, Gebäude und technische Errungenschaften zur Kultur. Solche materiellen Objekte regulieren das Alltagsleben bis in alle Einzelheiten. Man denke an Autos, Straßen, Computer, Mode etc. Daher beinhaltet Kultur in fast allen Definitionen die Produkte des Verhaltens anderer, besonders derjenigen, die vor uns lebten (Segall et al. 1990, S. 26). Solche Produkte können materielle Gegenstände, Ideen oder Institutionen sein. Mit Herskovits (1948) können wir Kultur daher präziser als den vom Menschen gemachten Anteil der Umwelt verstehen. Kultur ist eingebettet in Natur und bildet mit dieser zusammen ein Ökosystem. Biologisch gesehen bestehen Ökosysteme aus biotischen Gemeinschaften von aufeinander bezogenen Organismen, die in einem gemeinsamen Habitat leben. Ökosysteme haben die unterschiedlichste Größe (vom Wassertropfen bis zum Erdball) und können sich wechselseitig überschneiden. Menschliche Ökosysteme enthalten neben der Natur immer auch Kultur als Umwelt. Zum Habitat gehören daher nicht nur biologische Lebensräume (Biome), charakterisiert durch Klima, Bodenbeschaffenheit, Flora und Fauna, sondern auch materielle und geistige Güter und Einrichtungen der Kultur. Kultur ist adaptiv in dem Sinne, dass sie die wechselseitige Anpassung des Ökosystems und des Menschen bewerkstelligt. Insbesondere zeigen dies die materiellen Produkte der Kultur, wie Wohnung, Kleidung, Nahrungszubereitung und Werkzeuge. Kulturelle Gegenstände und Einrichtungen passen also einerseits die Natur an den Menschen an, andererseits sorgen sie für die Anpassung des Menschen an vorhandene

natürliche Lebensbedingungen.

Im Sinne des Ökosystems bewerkstelligt die Kultur vor allem das Zusammenleben der Individuen in einer Gesellschaft. Unter dieser Perspektive bedeutet menschliche Entwicklung die Aneignung der Handlungskompetenzen, die für das Leben im menschlichen Ökosystem nötig sind. Man nennt diesen Prozess Enkulturation. Daher definiert Cole (1993, 1995) Kultur als Medium, das artspezifisch zur Gattung homo sapiens gehört und sich durch Artefakte konstituiert. Kultur als Medium ist dann einerseits das Vehikel, das Entwicklung ermöglicht: ohne Kultur keine menschliche Entwicklung. Andererseits beinhaltet Kultur als Medium die Vermittlerrolle zwischen biologischer Umwelt und Individuum. Menschen benötigen zum Überleben die Kultur. In der menschlichen Evolution haben sich menschliche Gemeinschaften die Kultur als neues Medium geschaffen, daher die Bezeichnung artspezifisches Medium.

Biologisch formuliert, ist der Mensch ein kulturschaffendes Tier, er kann auch biologisch nicht als kulturfreies Wesen leben, genauso wenig, wie Schwalben ohne Nest existieren können. Abbildung 6.1 illustriert diesen Zusammenhang. Der Mensch lebt wie jedes Lebewesen in einem biologischen Ökosystem. Innerhalb der Naturbedingung von Atmosphäre, Temperatur, Nahrung und Schutzzone befindet sich die Kultur als vom Menschen gemachte Umwelt. Sie besteht aus Objekten und Einrichtungen, die das menschliche Leben erst ermöglichen und es gleichzeitig erleichtern (Werkzeuge) oder auch erschweren (manche religiöse Vorschriften). Diese die Natur überlagernde Umwelt enthält neben materieller Ausstattung dann auch die Rollenvorschriften, Kontrollmechanismen und Werte, die das Zusammenleben regulieren.

6.2 Der Gegenstand als Kernstück menschlicher Kultur

Abb. 6.1 Kultur im

Ökosystem des Menschen



6.2 Der Gegenstand als Kernstück menschlicher Kultur

Die Definition von Kultur als der vom Menschen gemachte Anteil der Umwelt sagt noch wenig darüber aus, was nun spezifisch menschlich an der menschlichen Kultur ist und wie die kulturschaffende Tätigkeit des Menschen vor sich geht. In dieser Frage hilft uns der Gegenstandsbegriff weiter. Was ist ein Gegenstand? Wie der Name schon sagt, ist es etwas, das uns gegenübersteht. Gegenstände oder Objekte (von obicere: entgegenwerfen, -stellen; obiectus: das Gegenübergestellte) sind zeitlich überdauernde Entitäten, die vom Menschen konstruiert wurden und gewissermaßen allen zum Gebrauch zur Verfügung stehen. Dies ist bei materiellen Gegenständen leicht einsichtig. Der Hammer, den ein Individuum konstruiert hat, kann von vielen benutzt werden. Seine Funktion und sein Gebrauch bleiben erhalten, selbst wenn der Konstrukteur nicht mehr lebt. Der Gegenstand hat eine Bedeutung, die ihm vom Konstrukteur hineingelegt wurde. Er ist also nicht ein vom Menschen unabhängiges Ding, sondern erhält durch den Konstrukteur und die Benutzer eine bestimmte Bedeutung. Im Werkzeug stecken Ideen, die der Werkzeugmacher „hineingelegt“ hat. Beim Hammer etwa ist die Idee die Nutzung der Hebelwirkung. Die Bedeutung des Gegenstandes, das Wissen um seine Funktion und das Wissen der zeitlich unbegrenzten Verfügbarkeit machen das Eigentliche des Gegenstandes aus. Unter diesem Aspekt gibt es in der menschlichen Umwelt nur Gegenstände, deren Bedeutungsgehalt vom Menschen konstruiert wurde. Seit die Hominiden Werkzeuge herstellten und nutzten, gab es auch bereits ein Verständnis des Gegenstandes als überdauerndem Objekt, mit dem ein bestimmter Nutzen verbunden ist. Selbst ferne Gegenstände wie der Mond erhalten ihre Bedeutung vom Menschen und werden dadurch erst zu Gegenständen. War der Mond im Altertum eine Göttin, so ist er heute ein lebloser Himmelskörper mit bestimmten physikalischen Eigenschaften.

Ähnlich müssen wir uns immaterielle Gegenstände als menschliche Konstruktionen vorstellen. Werte wie Ehre, Treue, Verlässlichkeit, Hilfsbereitschaft, sind mehr oder minder klar definierte Richtlinien für Handeln. Sie sind Gegenstände, Begriffe (also etwas, was wir „begreifen“ können) und damit erst in der Kommunikation „handhabbar“. Wissen, das sich im Laufe der Menschheitsgeschichte angesammelt hat, ist in „Gegenstände“, nämlich einzelne Wissensbereiche, aufgegliedert. Mathematische Gegenstände wie Dreieck, Würfel, Gleichung, Beweis und Gesetze sind Werkzeuge, mit denen wir analog zu materiellen Werkzeugen umgehen. Selbst über unsere Gefühle und Motive sprechen wir als Gegenstände, denn wir benutzen Begriffe für sie. Damit wir bei dieser sehr grundlegenden Betrachtung nicht vergessen, in welcher Welt wir leben, sei ein Beispiel menschlicher Not angefügt. Jean Ziegler (2005) UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, zitiert eine brasilianische Soziologin, die unter anderem mit ihrem Team Äußerungen der Ärmsten und Hungernden gesammelt hat. Es kamen Äußerungen, die den Hunger vergegenständlichten:


  • „Der Hunger kommt von außen, von außerhalb des Körpers.“

  • Zahlreiche Befragte nennen den Hunger „das Ding“ (a coisa).

  • „Das Tier fällt über mich her, was soll ich tun?“

Der Hunger wird zu etwas Materiellem vergegenständlicht. Hoffen wir, dass solche Vergegenständlichungen in absehbarer Zeit verschwinden.

Evolutionär kann man die zentrale Rolle des Objekts oder Gegenstandes durch die wachsende Bedeutung des Werkzeuggebrauchs erklären. Wie wir bereits beschrieben haben, verfeinern und vermehren sich die Werkzeuge dramatisch, besonders in den letzten 40.000 Jahren. Hinzu treten Gegenstände besonderer Art, nämlich Figuren, Zeichnungen und Schmuck mit symbolischer Bedeutung. Solche Gegenstände bilden gemeinsame Bezugspunkte für die Gruppe und verleihen ihr eine gemeinsame Identität.

Abbildung 6.2 stellt in systematischer Form die zentrale Rolle des Gegenstandes in der menschlichen Kultur dar. Zunächst werden die Umgangsqualitäten des Gegenstandes erkundet und erprobt. Die Funktion des Gegenstandes erhält Nachhaltigkeit, man kann ihn immer wieder nutzen, und er kann von vielen Akteuren genutzt werden. Man denke an Werkzeuge wie Hammer, Messer, Speer, Pfeil und Bogen. Gegenstand und Funktion werden durch die Sprache gebannt und festgehalten: der Gegenstand erhält einen Namen. Die sprachliche Semantik kennzeichnet die Funktion des Gegenstandes und den Gegenstand selbst. Man kann also annehmen, dass Sprache nicht unabhängig vom Gegenstand entsteht, sondern gleichzeitig mit ihm, d.h. mit der menschlichen Konstruktion von überdauernden, vom Individuum unabhängig gewordenen Objekten.

Die Gebrauchsqualitäten des Gegenstandes, also der handelnde Umgang mit ihm, erzeugt Handlungsschemata, die vom Individuum gespeichert werden. Das Handy in Gestalt des Smartphone oder anderer wunderbarer Kommunikationsgeräte sind moderne Beispiele für die Interaktion eines Subjekts mit einem Gegenstand. Die Gebrauchsqualität eines modernen Handys ist so reichhaltig, dass der Benutzer mit seiner Exploration niemals zu

6.2 Der Gegenstand als Kernstück menschlicher Kultur



Abb. 6.2 Der Gegenstand als Kernstück menschlichen Handelns

Ende kommt. Einfache Handlungsschemata finden wir bereits beim Säugling. Er erwirbt eine Handlungsgrammatik, die der Sprachgrammatik vorausgeht und deren Grundlage darstellt (Bruner 1987). Wenn das Kind z.B. aktiv einen Gegenstand manipuliert, praktiziert es die Struktur Akteur-Handlung-Objekt. So erfährt es zunächst handelnd, was später die Sprachgrammatik ausdrückt. Nämlich die in den meisten Sprachen vorfindbare Relation Subjekt – Prädikat – Objekt (der Mann schwingt den Hammer, das Kind läutet die Glocke, der Jäger tötet das Wild). Semantik und Syntax sind also nicht unabhängig vom Gegenstandsbezug entstanden, sondern haben sich im Gegenteil aus ihm entwickelt.

Es gibt noch eine weitere Funktion des Gegenstandes: Er wird zum Bestandteil der Identität sowohl des Konstrukteurs als auch des Nutzers. Der Werkzeugmacher als Schöpfer des Gegenstandes definiert sich teilweise durch sein Werk. Der Werkzeugnutzer erkennt den Wert des Gegenstandes und definiert sich analog zumindest teilweise durch den Besitz des Gegenstandes mit. Im modernen Leben ist Besitz von Gegenständen ein Statussymbol, und wohl auch in der Steinzeit war der Besitz von Werkzeugen identitätsbildend und statuserhöhend.

Die meisten Gegenstände haben längere Zeit Bestand. Die Menschen, die mit ihnen umgehen, vergrößern daher ihre „Zeittiefe“; fortbestehende Objekte der Umwelt machen Vergangenheit lebendig, Vorwegnahme zukünftiger Objekte und Erhalt bestehender Objekte machen die Zukunft konkret und anschaulich. So entsteht die Abfolge: Fortdauer eines Gegenstands, Speicherung im Gedächtnis und Vorausplanen von Handlungsketten, in die entweder der Gegenstand eingebettet ist (Nutzung des Messer beim Zerlegen des Wildes) oder die zur Konstruktion neuer Gegenstände führt (Verbesserung eines Schabers).

Damit können wir nun die allgemeinere Definition von Herskovits (Kultur als vom Menschen gemachte Umwelt) präzisieren als: Kultur ist das Universum von Gegenständen, wobei Gegenstände menschliche Konstruktionen darstellen.



Abb. 6.3 Grundschema menschlicher Interaktion

Die Allgegenwart von Gegenständen erkennt man am deutlichsten an den Ausnahmen. Es gibt psychische Zustände und Situationen, in denen wir Verschmelzungserlebnisse oder „ozeanische Gefühle“, wie Sigmund Freud es bezeichnet hat, erfahren. Ich und Umwelt sind eins. Dies kann als Erlebnis einer Landschaft, als Verschmelzungserlebnis bei Liebesbeziehungen oder als besonderer Bewusstseinszustand bei Meditation und Trance geschehen. Gerade die Ausnahmeerscheinung solcher Zustände macht deutlich, dass wir uns im Alltag immer etwas Bestimmtem gegenübersehen, eben den Gegenständen. Was wir wahrnehmen, sind Gegenstände (im weitesten Sinn), die wir benennen, ordnen und erklären. Wenn wir denken, beschäftigen wir uns in der Vorstellung mit Gegenständen. Denken als Probehandeln agiert immer mit einem Etwas.



6.3 Der gemeinsame Gegenstandsbezug als Prototyp sozialer Interaktion

Abbildung 6.2 weist auch auf die kommunikative Funktion des Gegenstandes hin. Die zwischenmenschlichen Kontakte, vor allem der Informationsaustausch verläuft über Gegenstände. Wenn wir miteinander sprechen, reden wir über Gegenstände, beginnend über das Wetter, bis hin zu komplexen politischen und wirtschaftlichen Zusammenhängen. In Abb. 6.3 ist dieser Sachverhalt genauer dargestellt. Er gilt spätestens für unsere Vorfahren der jungen Altsteinzeit. Zwei oder mehr Subjekte beziehen sich auf den Gegenstand. Sie


6.3 Der gemeinsame Gegenstandsbezug als Prototyp sozialer Interaktion

verständigen sich über ihn (gute vs. unbrauchbare Nahrungsmittel), handeln seinen Gebrauch aus (gemeinsame Jagd auf ein Wild, abwechselnder Gebrauch eines Werkzeugs) und vereinbaren die Bedeutung von Gegenständen (etwa die symbolische Bedeutung einer Fruchtbarkeitsfigur).

Der Gegenstand bildet also das Kernstück der menschlichen Kommunikation und Interaktion. Zwei oder mehr Subjekte beziehen sich auf einen gemeinsamen Gegenstand. Sie können über ihn reden und Sachverhalte über ihn erzählen (was ist das für ein Gerät?), sie können ihn gemeinsam handhaben (Fällen und Ziehen eines Baumes), und sie können vereinbaren, dass einer ihn nutzt, um dem anderen zu helfen (reiche mir bitte das Trinkgefäß). Gewöhnlich handelt es sich um überdauernde Gegenstände. Durch sie vergrößert sich die Zeittiefe, die Umwelt bleibt stabil, man kann sich in ihr orientieren, weil sich nicht ständig alles verändert. Die vergrößerte Zeittiefe ermöglicht, wie wir schon früher gesehen haben, die Planung von Handlungen und damit auch die Planung der Herstellung von Gegenständen. Denken als vorgestelltes Handeln wird zum Probehandeln, so vermeidet man die Risiken des realen Handelns und etwaige negative Folgen.

Der gemeinsame Gegenstandsbezug benötigt allerdings noch weitere Fähigkeiten, die uns die Evolution mitgegeben hat. Zu ihnen gehört unsere Fähigkeit zur Kontrolle. Diese bezieht sich einerseits auf die Regulation der eigenen Bedürfnisse und Emotionen; denn nur, wenn wir sie zügeln können und ihnen nicht im Augenblick nachgeben, lässt sich eine gemeinsame Interaktion aufrechterhalten. Andererseits bezieht sich die Kontrolle auch auf den Umgang mit dem Objekt selbst. Die Organisation der Handlungs- oder Denkschritte beim gemeinsamen Gegenstandsbezug ermöglicht Abstimmung, Koordination und damit gemeinsames Handeln. Zwei weitere Geschenke der Evolution sind das Ich-Bewusstsein und unser Vorstellungsvermögen. Beide Fähigkeiten hängen miteinander zusammen und werden uns in späteren Kapiteln noch beschäftigen (s. vor allem Kap. 15). Für den gemeinsamen Gegenstandsbezug ist das Ich-Bewusstsein wichtig, weil sich Subjekte über den Gegenstand miteinander verständigen. Subjekte aber sind durch ihr Ich-Bewusstsein zu definieren, das über sich und die Welt reflektiert. Das Vorstellungsvermögen, die zweite Gabe der Evolution, ermöglicht die „gedankliche“ Vergegenwärtigung des Gegenstandes, auch wenn er nicht sichtbar ist. Der gedankliche Umgang mit Objekten erleichtert und beschleunigt Lösungen von Zielsetzungen. Vorstellungsleistungen werden besonders dann beansprucht, wenn es sich um ideelle Gegenstände, also um Wissen, Werte und psychische Begriffe handelt.

Schließlich werden noch zwei soziale Komponenten wichtig: die Empathie und die sogenannte Theory of Mind. Will man sich mit jemand über etwas verständigen, so ist es gut, seinen/ihren Gefühlszustand zu kennen. Unsere Fähigkeit zur Empathie teilen wir mit unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen, die ebenfalls Mitleid und Mitgefühl zeigen. Die Theory of Mind ist dagegen nur beim Menschen anzutreffen. Sie beinhaltet die erkenntnistheoretische Trennung von äußerer Wirklichkeit und dem Wissen um diese Wirklichkeit. Ab etwa vier Jahren erkennt das Kind, dass andere Personen ein anderes Wissen, auch ein falsches Wissen, eine falsche Überzeugung haben können (Wimmer und Perner 1983; Perner 1991). Zur Prüfung der Theory of Mind erzählt man dem Kind Geschichten, die konkret veranschaulicht werden. Wenn z.B. eine Tafel Schokolade in Abwesenheit von Max, dem Protagonisten der Geschichte, in ein anderes Schrankfach gelegt wird, wo wird Max nach seiner Rückkehr sie suchen? Ab etwa vier Jahren erkennen die Kinder, dass Max an dem ursprünglichen Ort suchen wird, während jüngere Kindern behaupten, er würde da suchen, wo jetzt die Schokolade ist. Für den gemeinsamen Gegenstandsbezug ist es von ausschlaggebender Bedeutung, das Wissen und die Überzeugung des Partners zu kennen (einen Überblick über die Theory of Mind bei Kindern vermittelt Sodian 2006).

Vor einiger Zeit habe ich in Ägypten eine Statuette erworben. Dem Kauf ging ein Feilschen um den Preis voraus. Dem Angebot des Händlers setzte ich meine Preisvorstellung entgegen, auf die der Händler mit Entsetzen reagierte. Schließlich trafen wir uns irgendwo in der Mitte, wobei der Händler mir durch seine traurige Miene zu verstehen gab, dass ich ihn schwer geschädigt hätte. Die Theory of Mind erlaubte mir zu erkennen, dass die gezeigten Gefühle nicht dem wirklichen emotionalen Zustand des Händlers entsprachen. Das Handeln beim Kauf und Verkauf ist ein besonders anschauliches Beispiel für den gemeinsamen Gegenstandsbezug. Schade, dass diese Form der Begegnung bei uns verschwunden ist.

Witze leben oft von Missverständnissen beim gemeinsamen Gegenstandsbezug, wie folgendes Beispiel zeigen mag:

Beispiel

Professor zum Studenten: „Fährt eine Straßenbahn eigentlich mit Gleich- oder mit

Wechselstrom?“

Student: „Mit Wechselstrom!“

Professor: „Aber müsste die dann nicht immer hin und herfahren?“ Student: „Aber das tut die doch!“

Nicht selten ist der Partner zugleich das Objekt, auf das sich die Kommunikation richtet.



Beispiel

Wenn zwei Partner sich gegenseitig positive oder negative Merkmale in einer Unterhaltung zuweisen, werden sie abwechselnd zum Gegenstand. Die nachfolgende Geschichte beginnt mit einem normalen gemeinsamen Gegenstandsbezug. Danach werden die Protagonisten selbst abwechselnd zum Gegenstand der Kommunikation.

Der Ballonfahrer eines Heißluftballons fragt einen untenstehenden Mann nach dem Ort, wo er sich befindet, Dieser gibt ihm nach einigem Nachdenken die präzise Antwort „in einem Heißluftballon über mir“. Damit ist der gemeinsame Gegenstandsbezug gestört, weil jeder Partner einen jeweils anderen Ort meint. Daraufhin der Ballonfahrer:

„Sie sind sicher ein Mathematiker. Erstens hat es etwas gedauert, bis die Antwort kam, zweitens ist die Antwort vollkommen richtig und drittens kann ich mit der Antwort überhaupt nichts anfangen. Fakt ist, dass Sie keine Hilfe waren.“

6.4 Vier Grundkomponenten kulturellen Handelns

Der Mathematiker entgegnet: „Und Sie sind gewiss ein Manager. Erstens wissen Sie weder, wo Sie sind, noch wohin Sie fahren, zweitens sind Sie aufgrund einer großen Menge heißer Luft in Ihre jetzige Position gekommen und drittens erwarten Sie von den Leuten unter Ihnen, dass sie Ihre Probleme lösen. Tatsache ist, dass Sie in exakt der gleichen Lage sind wie vor unserem Treffen, aber jetzt bin irgendwie ich schuld.“

Die Geschichte karikiert den Mathematiker und den Manager. Sie bilden die eigentlichen Gegenstände des Textes.

AlsResümeewollenwirnochmalsfesthalten: DievomMenschenkonstruiertenmateriellen und ideellen Objekte machen die Kultur aus, eine Kultur, die sich von den ansatzweise bei Tieren vorhandenen Kulturen durch die Besonderheit der Gegenstände unterscheidet. Sie sind überdauernd, ermöglichen erst menschliches Leben, und sie sind nicht nur manuell, sondern auch sprachlich verfügbar. In den meisten Fällen verlaufen soziale Interaktion und Kommunikation über Objekte (im weitesten Sinn des Wortes). Um solche Gegenstände zu konzipieren bzw. zu konstruieren und über sie miteinander in Beziehung zu treten, bedarf es einer reichhaltigen Ausstattung des Menschen, die uns die Evolution mitgegeben hat. Es sind dies im Einzelnen folgende Fähigkeiten:



  • Sprache,

  • Empathie,

  • Theory of Mind,

  • Kontrolle,

  • Zeittiefe,

  • Vorstellungen/Repräsentationen,

  • Ich-Bewusstsein.

Es zeigt sich also, dass alle großen geistigen Errungenschaften der Evolution in den gemeinsamen Gegenstandsbezug einmünden

6.4 Vier Grundkomponenten kulturellen Handelns

Nun kommt das Individuum ins Spiel, das die kulturellen Gegenstände gebraucht, aber auch selbst herstellt. Alles individuelle Handeln ist also kulturelles Handeln. Dabei lassen sich vier Grundkomponenten unterscheiden, die in Folgenden genauer erläutert werden:



  • Vergegenständlichung,

  • Aneignung, • Objektivierung und

  • Subjektivierung.

Vergegenständlichung Sie bildet die nach außen gerichtete Komponente der Handlung und führt zu Ergebnissen, die längere oder kürzere Zeit fortbestehen. Vor allem erzeugt sie die Gegenstände selbst. Vergegenständlichungen im kindlichen Spiel sind Produkte des Bauens und Malens, ebenso der Umgang mit umgedeuteten Gegenständen im Symbolspiel oder das Musizieren (im letzteren Falle verschwindet der „Gegenstand“ nach der Aktion wieder). In der Schule sind Vergegenständlichungen Schulleistungen, die in schriftlicher oder mündlicher Form vorliegen, und im Erwachsenenalter gehören zu Ergebnissen der Vergegenständlichung alle Produkte des Arbeitsprozesses, wobei neue Gegenstände als Erfindungen besonders bedeutsam für die Veränderung der Kultur sind.

Erst durch die Vergegenständlichung kann das Subjekt sich als Akteur erfahren, seine Wirkung in der Umwelt erkennen und sich damit zugleich der Umwelt gegenüberstellen. So wird der Akteur zum Schöpfer und gewinnt Macht und Kontrolle über die Umwelt. Vergegenständlichung vermittelt also die emotionale Grunderfahrung von Macht und



Kontrolle über die Umwelt und führt gleichzeitig zur Erfahrung der umweltzentrierten Selbsterweiterung (Selbstvergrößerung). Gegenstände, die man selbst hergestellt hat, bilden gewissermaßen vom eigenen Körper entfernte Bestandteile des Selbst, man trägt ein Stück von sich in die Umwelt hinein. Diese Erfahrung und das Bedürfnis nach ihrer Wiederholung bilden eine allgemeine Grundlage für menschliches Handeln.

Aneignung Sie ist von der Umwelt (vom Gegenstand) auf das Subjekt gerichtet und hinterlässt Spuren oder Eindrücke beim Individuum, die wir als Wissen, Repräsentationen, Begriffe oder auch als geistigen oder materiellen Besitz kennzeichnen. Auch die Aneignung ist ein aktiver Vorgang, der materiell als Heranholen eines Gegenstandes (Besitz ergreifen), mental als Nachkonstruktion oder Einordnen aufgefasst werden kann. Während beim schulischen Lernen der Aneignungsvorgang augenscheinlich ist, bleibt er im Alltag oft verborgen. Wir lernen in den Medien ständig neue Personen kennen und eignen uns im Supermarkt neue Produkte sowohl materiell als auch mental (Speicherung im Gedächtnis) an. Beim Kleinkind beobachten wir Aneignung besonders augenfällig beim Explorieren, d.h. der Erforschung von Gegenständen. Durch dieses Erforschen gewinnt das Kind Kenntnisse über Gegenstände. Die durch Aneignung bewirkte Grundbefindlichkeit ist Sicherheit, die durch Orientierung in der Umwelt erreicht wird. Zugleich vermittelt Aneignung Selbsterweiterung in Form des Wissenserwerbs oder des Erwerbs materieller Güter. Die Handlungskomponente der Aneignung ist somit eine zweite Komponente des Individuum-Umwelt-Bezuges.

Aneignung und Vergegenständlichung sind ein dialektisches Begriffspaar. Sie sind gegenläufig, gehören aber beide zusammen und ergänzen sich wechselseitig. Sie sind die natürliche Fortsetzung biologischer Prozesse. Aneignung erfolgt biologisch durch Nahrungsaufnahme und durch Atmung. Vergegenständlichung bei biologischen Prozessen haben wir beim Körperwachstum von Tieren, bei Holzbildung von Bäumen und bei

Korallenriffen vor uns.

Das zweite Begriffspaar, das wir benötigen, ist ebenfalls in der Natur verankert: Objektivierung und Subjektivierung. Wir wollen diese Begriffe aber zunächst auf die menschliche Kultur anwenden. Diese Prozesse lassen sich vom Handlungsergebnis aus am leichtesten erkennen.

6.4 Vier Grundkomponenten kulturellen Handelns

Objektivierung Orientiert sich das Ergebnis der Handlung an der (vom Individuum unabhängig geltenden) Realität, so versucht der Akteur zu objektivieren. Dieser Prozess führt zu einer Verbesserung der Passung zwischen Wirklichkeit und Subjekt. Die „Wirklichkeit“ ist immer die von der Kultur geschaffene Wirklichkeit, nicht eine Realität „an sich“. Die Passung geht jedoch auf Kosten des Subjekts, es muss seine Strukturen verändern, um der Realität gerecht zu werden. Es handelt sich gewissermaßen um eine zentrifugale Passung (eine Passung „vom Subjekt weg“). Die durch diesen Prozess vermittelte Grundbefindlichkeit und Emotion ist die der Existenz von Welt, unabhängig von der eigenen Person und Handlung. Objektivierend erfährt das Individuum, dass es eine Welt mit Eigengesetzlichkeit gibt, die nicht den eigenen Wünschen gehorcht. Durch diese Handlungskomponente wird also eine egozentrische Erkenntnisposition durchbrochen, das heißt eine Sichtweise, in der ich mich als Individuum im Mittelpunkt der Welt sehe.

Subjektivierung Dieser Prozess gleicht das Handlungsergebnis an die subjektiven Bedürfnisse und Wissensstrukturen an. Im Vordergrund steht die subjektzentrierte oder zentripetale (zum Subjekt hin gerichtete) Passung von Wirklichkeit. Die Umgestaltung der Realität nach „eigenem Bild und Gleichnis“ ist notwendig, damit das Individuum sein bisheriges Wissen und Können zu den neuen Eindrücken in Beziehung setzen kann. Ein prototypisches Beispiel für Subjektivierung im Spiel haben wir im Symbolspiel vor uns, das die Wirklichkeit an das subjektive Wissen einseitig assimiliert. Wenn also ein Kind einen Stuhl als Fahrzeug umdeutet und auf ihm sitzend Motorengeräusch imitiert, so passt es die Realität den eigenen Bedürfnissen und Zielen an. Die gewaltigste vergegenständlichende Subjektivierung nehmen wir im religiösen Bereich vor, indem wir das Gute und Böse in Form von Gott und Teufel nach außen projizieren und damit eine subjektivierende Vergegenständlichung ohne realen Hintergrund vornehmen. Realität erhalten diese Vorstellungen dann allerdings durch die Kultur, die ihren Mitgliedern den Glauben an religiöse Vorstellungen vorschreibt (im Mittelalter) oder vorschlägt (in der Neuzeit). Die Grunderfahrung und -befindlichkeit der Subjektivierung ist das Heimischwerden in einer Welt, deren fremdartige oder andersartige Züge zugunsten der zum Subjekt passenden Merkmale vernachlässigt werden.

Subjektivierung und Objektivierung haben ihre Wurzeln wie das erste Begriffspaar in biologischen Prozessen, nur würden Biologen sie anders nennen. Subjektivierung bei der Nahrungsaufnahme entspräche der Assimilation der Nährstolle an den Körper, sie werden zu körpereigenen Zellen umgewandelt. Objektivierung entspricht der Anpassung des Organismus an die Umwelt. Die vier Grundkategorien sind also ausdrücklich so gewählt, (1) dass nicht ein plötzlicher Entwicklungssprung bei der menschlichen Kultur angenommen werden muss, sondern dass die Kultur der Hominiden die Fortsetzung biologischer Vorgänge darstellt; (2) dass zugleich die einfachsten und höchsten Formen geistiger Tätigkeit durch die beiden Begriffspaare erfasst werden können.

Begeben wir uns auf die Ebene individuellen Handelns, so mögen zwei Beispiele die vier Grundkomponenten kulturellen Handelns illustrieren, nämlich für musikalisches


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