Lea Ritter-Santini: L’italiano Heinrich Mann, Bologna 1965 Übersetzt von Sabine Russ Einleitung



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II.

Die Sängertruppe erreicht den Platz in einer überfüllten Kutsche, wo sie im Café von den Vertretern des Komitees und den Neugierigen erwartet wird. Sie sind vorbereitet auf die Antithese von „Bürger“, die sie ja sind, und „Künstler“, von denen sie erwarten, daß sie exotische, singende Ausländer seien, schöne Frauen kennen, Champagner trinken und sich nie vor Mittag aus dem Bett erheben. Sogar der Advokat hat größere Schwierigkeiten, sich ihnen zu nähern, als er sich aus seiner Studienzeit erinnert. Gerade diese aufgefächerten Unterschiede von Reaktionen und Gefühlen, von Ambitionen, den Bedürfnissen der Künstler, den Revolten, den Begierden und Leidenschaften und dem Neid der Bürger verhindert die Gefahr eines Bürgerkrieges. Die um Don Taddeo, den Priester des Doms, gescharrte konservative Partei und die fortschrittliche, mit dem Anwalt Belotti an der Spitze - angefeuert vom Kampf um die Rückgabe des Turmschlüssels, worin der hölzerne Eimer, Emblem der Stadt und einer feindlichen Stadt entrissen258, aufbewahrt wird - drohen das erwartete Ereignis rückgängig zu machen, zu dem die Künstler extra eingeladen worden sind - die Aufführung der Oper Die Arme Tonietta. Die Sänger, die in der Herberge und privaten Häusern untergebracht sind, entziehen sich nicht der Bewunderung und der Liebe der Bürger. Jeder einzelne Sänger hat seine Geschichte: die leidenschaftlichste ist die des lyrischen Tenors Nello Gennari mit dem reichsten Mädchen der Stadt, Alba Gardini. Sie endet mit einem melodramatischen Ausgang für die Liebenden, die töten und sich umbringen aus Liebe, während die anderen Bewohner nach dem von Don Taddeo verursachten Brand wieder Frieden schließen. Don Taddeo hat den Brand als Sühne für seine allzumenschliche Schuld gelegt: er hat sich in eine Sängerin verliebt. Die Bürger begleiten die troupe, die zu anderen Vorstellungen in anderen Städten aufbricht, bis an die Tore der Stadt, die zu ihren Alltäglichkeiten zurückkehrt.



Heinrich Mann hatte in seinem „Prospekt“, der zwischen den Notizen aufbewahrt ist, eine eigene Interpretation skizziert: „Wenn in eine italienische Landstadt, die sich langweiligt, eine Operntruppe einzieht; wenn nun alle Herzen aufwallen, Liebe, Ehrgeiz, Klassenhaß und Verehrung der Größe, Alles sich auf einmal über den Platz und die Gassen ergießt; wenn die aus Musik geborenen Leidenschaften bis zum Bürgerkrieg fortwirken, bis zu Katastrophen der Führer und des Volkes, und weiter zur Versöhnung, zu einem großen Freudenfest, mit stürmischem Impressionismus auf die Beine gestellt und durcheinander gewirbelt, vermöchte alles dies, dieses Brausen der Massenpsyche in einem engen Gefäß, den Zuschauer wohl zu fesseln, auch wenn es weiter nichts bedeutet.“259 Die Mittel, mit deren Hilfe der Autor seine Idee „italianisiert“, oder besser, um das unverwechselbar impressionistische Thema konstruiert, nicht durch fremde Verkleidungen die Materie verrät, sind bereits ganz andere als in den Romanen der Herzogin von Assy, Zwischen den Rassen oder den Novellen. „Auch wenn es weiter nichts bedeutet“: der Roman hingegen ist auf genauen Korrespondenzen aufgebaut und erhält stellenweise die Technik der „Mischform“ eines Theaterromans. Die äußere Stilisierung der Figuren entsagt jeglicher psychologischer Interpretation und tendiert immer mehr zur Ähnlichkeit mit einem Untertitel, zu den Randbemerkungen des Hauptkomikers, damit die sichtbar gemachte theatralische Übersetzung mit dem Willen des Ausdrucks übereinstimme. Das Motiv wird exemplarisch für die Art und Weise, mit der der Autor den lyrischen Tenor Nello präsentiert und agieren läßt: „Aus seiner körnigen Marmorblässe war die Wärme gewichen, und die schwarze Haarwelle über der Stirn, die Barren der Brauen, der dickrote Mund sprangen gewaltsam hervor aus dem grellen Weiß.“ [Die kleine Stadt, S. 45, Anmerk. d. Übers.] Der Phänotyp ist der gleiche, dem Heinrich Mann seit der Entdeckung des panischen Orfeo Piselli treu geblieben ist. Aber in der Handlung der Kleinen Stadt ist die Figur funktional geworden, nur aufgrund seiner Rolle, die ihm seine physische Erscheinung zuweist: ihm ist nur eine melodramatische Sprache zugestanden, aus dem Rhythmus der Arien komponiert, begleitet von szenischen Gesten. Die bereits vor ihm, in anderen männlichen Figuren wiederholten italienischen Charakteristika, sind in seinem Beruf aufgehoben, aufgelöst im Repertoire der Assoziationen, die er hervorruft. Während sich Heinrich Mann in einem „choralen“ Roman engagiert, den er seit den Göttinnen geprobt und in den Variationen zahlreicher Figuren ausprobiert hat, mußte er den handwerklichen Schwierigkeiten des Zusammenhalts der Szenen Rechnung tragen. Bei jeder neuen Lektüre entdeckt man die minuziöse Sorgfalt, mit der die einzelnen Zellen dieser exemplarischen Gesellschaft gebaut wurden, jener Gesellschaft, der die Aufgabe übertragen wurde, „das hohe Lied der Demokratie“ zu singen. Gleichzeitig verursacht gerade diese extrem hohe Kohärenz von Intention und Realisierung manchmal eine gewisse Ermüdung. Kein anderes Werk Heinrich Manns kann sich einer höheren Treue des Ambientes rühmen, will heißen, „italienischer“ als dieses. Fast nichts kann als reines Signal eines persönlichen Geschmacks interpretiert werden, als Zeichen einer Vorliebe für eine Kultur oder national gesinnte Menschlichkeit. Die als Hintergrund verwendeten Straßen, die Häuser, der Platz und der Brunnen, sind in der Topographie Palestrinas wiederzufinden, auch wenn sie kleine Veränderungen, von einem zum anderen versetzte Detailänderungen erfahren haben, ähnlich wie bei Stendhal, die dazu dienen, sie noch anonymer und austauschbarer zu machen. Von der philologischen und literarischen Neugierde, mit der Heinrich Mann aus Texten der französischen Meister die venezianische oder meridionale Landschaft kopiert hatte, ist fast nichts übriggeblieben. Das ästhetisierte Mosaik des kunstvollen Gewebes ist ersetzt worden durch das schmucklose und essentielle „Gerüst“. Bereits zwischen 1904 und 1906 hat die kritische Loslösung - Zwischen den Rassen und die Essays dieser Jahre belegen dies - von der italienischen Welt begonnen, die in Die kleine Stadt zum Ende kommt. Sicher, dem deutschen Publikum, das die Lektüre nur mit „begeisterten Äußerungen“ begleitet, gefiel gerade diese genußvolle Geschichte, die als Vorläufer von Don Camillo und Peppone erscheinen kann - den von den Vereinfachern geliebten Figuren des ganz alltäglichen Italien.

Der ganze zentrale Teil des Buches, das Abwechseln der Kommentaren des Publikums, das der Vorführung beiwohnt, und aus denen man nur mit großer Aufmerksamkeit in Teilstücken das Drama260 rekonstruieren kann; der zentrale Teil der Erzählung, der die raschen Umstürze des politischen Glücks des Advokaten verfolgt, ist eine Demonstration der angenommenen Identität von Straße und Theater - die Straße auf der Bühne und das Theater für die Straße. Das lärmende Publikum einer italienischen Theateraufführung wurde, von Stendhal bis E.T.A. Hoffmann und H. James, genaugenommen zu einen topos der Interpretation einer Psychologie des Volkes; jetzt ist es der „Antiwagnerianismus“, der nicht mehr den „Kunsttempel“ akzeptiert, sondernnur die direkte Teilnahme am Geschehen auf der Bühne. Nicht anders als Heinrich Mann läßt E.M. Forster in seinem italienischen Roman Monteriano (1905) die Figuren, wie zum Beispiel in Madame Bovary, der Aufführung von Lucia di Lammermoor beiwohnen: „Eine Oper? Und ob diese Leute zu leben verstehen. Sie ziehen es vor eteas schlechtes zu haben, als überhaupt nichts. Und darum haben sie vieles gute. Wie schlecht es auch sein mag, die Vorstellung dieses Abends wird lebhaft sein. Die Italiener lieben die Musik nicht still und lautlos wie die verhaßten Deutschen. Das Publikum hat seinen Teil und manchmal auch mehr.“ Und weiter: „Das Publikum begleitete die Musik mit Klatschen des Rhythmus’ und trommelnd und sich in der Musik wiegend wie Weizen im Wind … Philip hatte das Prinzip, auf dem die italienienische Oper beruhte, begriffen! Sein Ziel ist nicht die Schaffung einer Illusion, sondern eine Unterhaltung anzubieten, die nichts anderes im Sinn hat, als die Verwandlung dieser Abendveranstaltung in einen Gottesdienst. Bald begannen sich die Balkons zu füllen. Die Familien grüßten sich untereinander von einer Seite zur anderen. Die Leute im Parkett begrüßten ihre Brüder und Söhne im Chor und riefen ihnen zu, wie gut sie sängen. Als Lucia beim Brunnen erschien, ertönte lebhafter Beifall und Rufe „Willkommen in Monteriano“. Lucia begann zu singen und einen Moment lang wurde es ganz still. Sie war korpulent und häßlich; aber ihre Stimme war noch immer wunderschön und während sie sang, rumorte es im Publikum wie in einem Bienenstock. Während der gesamten Koloratur wurde sie von Seufzern begleitet und ihr hoher Ton von Schreien universaler Freude erstickt. Das Publikum schien betrunken zu sein; gewaltig Wellen der Erregung, wie aus geringem Anlaß entstanden, durchliefen heftig das Theater.“ (S. 141-146, Zitat nicht nachgeprüft, Anmerk. d. Übers.]



Es handelt sich dabei um das gleiche Theater wie in der kleinen Stadt, dem allerdings nur das politische Spiel fehlt, jedoch frei vom Schmachten der vokalisierte Soli, die Stendhal in Entzücken versetzte. Die arme Tonietta ist tatsächlich die Fusion aller Elemente der späten veristischen Oper, die Heinrich Mann geduldig aneinandergereiht hat, um sie in der Handlung einer Aktion, die durchaus von Verga sein könnte, einzufügen. Die Skizze des gesamten gleichnamigen Werkes und der Novelle bestätigen den tiefen Eindruck, der durch die raschen Zwischenrufe des kommentierenden Publikums entstanden ist. Allerdings fehlen auch die Peitschenhiebe nicht: das Volk, das zur Kirche geht, die Prahlerei der Cavalleria rusticana261, der Mord aus Eifersucht mit dem Messer. U. Weisstein hat bereits versucht, die Verschiedenheit des Stils der Skizze der unabhängigen Oper Die Arme Tonietta, die als Theatervorstellung nur fragmentarisch eingebaut ist, der gleichnamigen Novelle und der Intention, die Basis der Inspiration Manns, daß heißt der Musik und der Figur Giacomo Puccinis262, zu interpretieren. Die melodramatischen Lyrismen sind in einigen Arien und Duetten erhalten geblieben; das läßt sich aus dem Kommentar des Publikums schließen, das sich gegen die Ideen veristischen Stils zur Wehr setzt: „Aber solche Sachen singt man nicht, zum Teufel“ und hingegen in der psychologischen Identifikation mit der Idee des „umblühten Hauses“ dahinschmilzt, das von nah dem „blühende Garten“ ähnelt, aus dem es sicherlich entstanden ist. Aber nicht die Unterschiede oder Gemeinsamkeiten mit den Modellen und Stilen erklärt hinreichend, warum Mann die Oper gewählt hat, um in seiner exemplarischen Stadt aufzuzeigen, wie es geschieht, daß man „einen unwiderruflichen Schritt aufwärts, zur Größe“ vollzieht. Die lyrische Oper ist vielleicht die einzige „Gattung“, mit der es der Kunst gelungen ist, mit allen sozialen Klassen zu kommunizieren und in ihnen zu agieren, ohne Unterschiede der Intensität, nur die Schwankungen des persönlichen Geschmacks innerhalb der Grenzen der Begeisterung gelten lassend. „Diese Vorgänge, nicht wahr, Beatrice? haben uns tiefer bewegt als eine Liebestragödie in unserem Dorf, unter unserem Fenster. Warum? Was macht diese Dinge groß?“, fragt der einzige Intellektuelle der kleinen Stadt: „Daß ein Volk sie mitfühlt, Orlando: ein Volk, das wir lieben! Denn es ist noch dasselbe, dem wir unsere Jugend gegeben haben.“ Und der alte Literat Ortensi interpretiert die Anfeuerungsrufe von der Galerie und den Logen an den Tenor, damit er sich am „Herren“ dafür räche, daß er ihm die Liebe zu Tonietta vergiftet hat, als ein Zeichen: „Ein Zeichen für das, was wir getan haben! Aber auch was wir taten, ist nur ein Zeichen, denn immer aufs neue wird die Menschheit Herren zu stürzen haben, wird der Geist sich messen müsen mit der Macht.“263 [Die kleine Stadt, S. 215-216, Anmerk. d. Übers.] Heinrich Mann war ein zu aufmerksamer Leser Stendhals und der Romantiker, später zu guter ein Kenner der Geschichte und Kultur, nicht nur literarisch, Italiens, um sich der essentiellen Bedeutung der Oper während des Risorgimento nicht bewußt zu sein. „Ich wußte es, wir seien nicht allein; ein Volk höre uns! Wir wecken seine Seele, wir … Und es gibt sie uns! […] Es erfindet für uns, dieses Volk, es fühlt und tönt in uns“, sagt der Maestro Dorlenghi. [Die kleine Stadt, S. 219, Anmerk. d. Übers.] Von der exklusiven Kontemplation über die Kunstwerke der erhabenen Kirchen oder prächtigen Sälen über den volkstümlichen Genuß des Melodrams des Volkes war die Wende vollzogen. Der in der Romanrezension von L.D. Frost in der Zeitschrift „Die Zukunft“264 enthaltene Vorwurf war ungerecht und belegt das Mißverständnis, das die deutschen Kritik noch immer beherrschte, nämlich die Phänomene der „Artistik“ interpretieren zu müssen: „Wir leben von der Verherrlichung uns ferner Zeiten, fremde, anders in Kultur und Zivilisation, für andere Situationen und Rassen. Unser Historismus, unsere Menschlichkeit, unsere kulturelle Idee und Demokratie richten sich auf die von fremden Elementen genährte Schwärmerei. Psychische Kreuzungen, hybride Untersuchungen sind alltägliche Dinge“: die unerschöpflichen Themen Heinrich Manns - wie L.D. Frost in einer einzigen Formel festhalten wollte - konnten noch auf die Göttinnen, noch ganz im Geist des „XX. Jahrhunderts“ zutreffen, waren aber für Die kleine Stadt völlig verfehlt. Der Antwortbrief des Autors, in der gleichen Zeitschrift veröffentlicht, „der starke, schöne Brief“ wie ihn Th. Mann bezeichnete, diente als legitime Rechtfertigung für die Kritiker, den „Zivilisationsliteraten“265 neu zu interpetieren und ist vielleicht der am häufigsten verwendete Kommentar zur Absicht des Autors über sein Werk, das als Meisterwerk der Frühzeit gilt. Viel wichtiger allerdings sind die nicht Notizen im bereits zitierten „Prospekt“, der nicht veröffentlicht wurde, weil die unterschwellige Polemik einiger Zeilen zuviel verraten: „Die Kenner der Herzogin von Assy und des Professor Unrat werden dennoch in einem Roman von H. Mann nach geistigen Absichten suchen. Sie werden bemerken, daß den Bewohnern dieser Stadt von der Eitelkeit bis zur Ränkesucht keine der Schwächen fehlt, die man menschlich nicht, und daß gleichwohl etwas von jener Milde, jener Hilfbereitschaft, jener Brüderlichkeit aus ihnen herausdrängt, die auch wieder Menschlichkeit heißen. Ihr großer Mann ist gewiß nur ein kleinstädtischer Advokat, Kirchturmpolitiker, Topfgucker und Wichtigtuer; und doch macht die ehrliche Liebe zu seiner Stadt, daß er eine tragische Stunde erlebt und für Augenblicke um seine kahle Stirn einen heroischen Schein trägt. Welch armes Liebespaar, dieser wandernde Tenor, dieses Landfräulein! Aber haben gefahrvollere Gefühle in der Brust „asthmatischer“ Fürstenkinder geschlagen? Haben sie schrecklicher und süßer geendet? Diese kleine Stadt steht für eine große, sie steht für eine durch Liebe geadelte Menschlichkeit. Unrecht erhält hier, wer sich besser glaubt als die Gesamtheit, sich ihr allein und stolz gegenüber sieht. Das Talent, der Geist selbst geben hier kein Recht auf einsame Größe, sie verpflichten, zu dienen. Die egoistische Persönlichkeit wird bestraft in einer kleinen Sängerin; in einem herrschsüchtigen Priester dankt sie ab; der Geist findet zurück zum Menschentum. Das Genie gehört dem Volk, es kommt aus ihm, nährt sich von ihm, es ist eins mit seiner Wärme, seiner Liebe. Man höre hin; was hier klingt, ist das hohe Lied der Demokratie. Es ist da, um zu wirken in einem Deutschland, das ihr endlich zustrebt. Dieser Roman, so weitab er zu spielen scheint, ist im höchsten Sinne aktuell.“266

„Menschliches“, „Allzumenschliches“, vom „Gesellschaftskritiker“ geordnet, dargestellt und beurteilt, der der Varietät der „Sozialen Ordnung“ noch immer treu ist. Den technischen Entscheidungen, denen manchmal Klarheit oder theoretische Kohärenz267 geopfert werden - mehr als dreihundert Seiten der direkten Rede -, kerkern die Figuren in die Struktur der Drehbühne ein, die sie mit jeweils einem neuen Detail präsentiert in dem Licht des auszusprechenden Witzes, der auszuführenden Geste. Das Ziel der Anonymität, das die Zahl und die Verteilung der Teile - jeder in Länge und Wichtigkeit seiner Funktion abgemessen - verfolgt, wird durchbrochen und holt sich das Recht der Einzigartigkeit der Figur gerade dann zurück, wenn die Deformation des Typs am größten ist. Eine der vielen auf Karriere bedachten „Schauspielerinnen“ H. Manns, hart und verzweifelt in ihrer einsamen Verdammnis der Berühmtheit, ist die Primadonna Flora Garlinda, unversöhnlich und grausam in ihrem Ehrgeiz, keine der exemplarischen Figuren, die das Abenteuer der kleinen Stadt beeinflussen, sondern repräsentiert stattdessen das ganze Universum des Autors, der sie seit Jagd nach Liebe verfolgt. Die Bestrafung einer egoistischen Persönlichkeit wiederholt sich, solange Heinrich Mann sich nicht vom Thema lösen konnte, das er noch einmal in Die Branzilla aufnahm und in Zwischen den Rassen bereits angekündigt worden war: die Episode um Flora Garlinda, eine Variante in der Typologie des „Komödianten“, der das „Böse“ darstellt, hat die Selbständigkeit einer kurzen Novelle. Die getrennte Evidenz der Episoden behindert die Fusion einer gewollten Choralität: das „Gerüst“ kommt heraus, die Anlehnungen zeigen die Kammern auf und in einigen von ihnen zeigen sich nur wiederkehrende Komparsen, deren geringe Menschlichkeit sich bereits in äußerlichen Dingen aufgelöst hat. Die fast Brecht´schen gags - zwischen Heinrich Mann und B. Brecht bestand eine nicht nur ideologische Verwandtschaft268 - wie die der Ankunft der Mädchen aus der Via Tripoli im Theater (die einzige Einnahmequelle der kleinen Stadt bestätigt der Advokat) oder die beiden Gasthäuser „Zum Fortschritt“ und „Zum heiligen Agapitus“ sowie viele andere satirische oder groteske Übersetzungen von Situationen und Figuren, haben allerdings nicht den Wert einer fundamentalen Beobachtung, die sowohl die Wahl des Sujets als auch die Art und Weise der Erlangung von Glaubwürdigkeit beeinflußt hat: die Ballade des italienischen Volkes: „Tragiker werden die Narren, so oft der Deutsche hinzutritt“269 war die Schlußfolgerung im Zeitalter. Aber gerade die Lösung der Konflikte im langen Aufmarsch, der die Sänger bis an die Tore der Stadt begleitet, war das Ergebnis der unvorhersehbaren Beweglichkeit der Seelen. Die Mühelosigkeit der Überzeugung, die rasche Wandelbarkeit, das akrobatische Zurückwerfen der Meinungen, die schlichten und gefährlichen Wege der Gunst des Volkes, die zerstören und die Wachstumskrisen einer Gemeinschaft überwinden kann, haben nicht in jedem Land dieselben Mittel und nehmen nicht dieselben äußeren Formen an.

Heinrich Mann hat in diesen Jahren die psychische Struktur der verschiedenen italienischen Klassen studiert; die die dabei allerdings vernachlässigt hat, war die des intellektuellen Bürgertums, wofür er weder Neugierde noch Interesse gezeigt hat. „Die kleinen Soldaten in den italienischen Galerien“, hatte er in einem Notizbuch zwischen den Skizzen zu Zwischen den Rassen geschrieben, Bemerkungen über reichgewordene Friseure und hochverschuldete Familien, die in prächtig Kaleschen auf den Alleen der Cascine flanieren: „Die kleinen Soldaten, die in Florenz die Bildergalerie des Palazzo Pitti besichtigten, verstanden soviel wie ich und wahrscheinlich mehr: aus ihrem Blut war dies geschöpft.“270 Zur selben Idee kehrt er im Zeitalter zurück: dieses sich an anonyme Personen wenden, wenn auch predigthaft, bezeugt schon die unüberbrückbare Distanz zwischen dem Hedonisten, der Burckhardt und Vasari studiert hat, Glossator von Gebhardt und Gauter, und dem Leser von C. Abba, Pascarella und Settimo Piperno.

Das Fehlen von Vermittlern - Freunden271 - für diesen Genuß, die äußere Erscheinung zu durchdringen, die Gewohnheiten, die Gesten, die Strömungen und die Möglichkeiten der Leute von der Straße, die er immer weniger unter der Aristokratie, immer weniger bürgerlich wählte, seine Art, die Zeitungen und Blätter des Amtsgericht zu lesen, haben ihm dabei geholfen, viele Mechanismen der Masse großer und kleiner italienischer Städte zu begreifen. Sicher, gegenüber wesentlich komplizierteren ethnologischen Gründe, in ihren vielschichtigen und wenig zugänglichen Verästelungen oder weniger brauchbar in exemplarischen Situationen, war er eingeschränkt: tatsächlich bezeugt keine seiner Figuren (die syrakusanische Mnais ist so offensichtlich klassisch-französisch, daß sie nichts sizilianisches an sich hat in der Atmosphäre deutschen Geschmacks und spät-symbolistischer Motive) den Willen zur Übersetzung auch jener Leidenschaften und der Unruhe, die bereits Verga und De Roberto entdeckt und erzählt hatten. Die Masse - die für die Beobachtungen Heinrich Manns bedeutsam war und die ihm den langen Aufenthalt im italienischen Theater angenehm machte - war die städtische oder fast zentral-settentrionale Masse Italiens. Die Aufenthalte in Riva und die Monate zwischen Florenz und Rom hatten ihm das Material nicht nur zur historisch-künstlerischen Beobachtung geboten. Der Streik in Riva, dem er beigewohnt hatte, mehr noch das politische Gebrodel während der Wahlen von 1904, waren ebenso wichtig wie der „Fall Murri“. Die florentinischen Streikenden, die die Durchgänge zwischen der Piazza della Signoria und den alten Straßen bis zum Arno besetzt halten, aber auch die rhetorischen Mittel und Korruption, mit deren Hilfe Pardi sein Mandat im Parlament erhält (um das Recht auf Abtreibung zu verhindern), hatte Heinrich Mann die Wege zu den Ideen und Figuren eröffnet, die einige Jahre später die Langeweile der Kleinen Stadt unterbrechen werden: „Die lange offene Säulenhalle der Uffizien toste von Volk. Es spritzte seine Wellen die Säulen hinan: aufden Sockeln, den Schranken wiegten sich stürmisch junge Leute, streckten die Arme über die heraufgewendeten Gesichter aus und redeten. Andere Studenten, Kokarden an den Hüten und die Taschen voll Zeitungen, legten Hand an die Wähler, hängten sich in den Arm ländlicher Bürger, die noch abwarteten, setzten mit dem Feuer ihrer Mienen endlich auch die der Männer in Bewegung - und die weißen Hände lagen in den brauen.“272 Heinrich Mann entscheidet sich für eine Darstellung im Detail - oder in Anspielungen - für einen in wenigen Tagen zusammengefaßten „Vorgang von hundert Jahren“, für die mögliche Genese einer Revolution und die Lehrfabel ihres Resultats, in dem er sich seiner Erfahrungen als Gast in Italien bedient.

Der Roman Zwischen den Rassen stellt ein wichtiges Stadium dar für die Realisierung dieser Idee: es ist nicht Sympathie, die vielen gesammelten Beispiele der kleinen Stadt zu wählen oder wenigstens in untergeordentem Maße; es ist stattdessen das Gesetz der Ökonomie und der literarischen Brauchbarkeit, für die sich der Autor entschieden hat. Die technische Schwierigkeit, das langwierige Abenteuer der Demokratie in einer durch die Zeit begrenzten Handlung zusammenzufassen, konnte nur in einer raschen filmischne Konzentration gelöst werden: Heinrich Mann hatte in der Masse der Italiener die Tugenden und Schwächen erkannt und vor allem den untrennbaren Humor, die Menschlichkeit, den starken Erotismus, den enthusiastischen Willen, die fast völlige Bereitschaft zur Extroversion (durch diese Fähigkeiten wird unruhig, rebelliert und amüsiert sich das Volk der Kleinen Stadt). Darin sah er die größten Schwierigkeiten - um nicht zu sagen die Unmöglichkeit -, nicht in Fanatismus auszuarten. Das bedeutete dem Autor viel, der die wilhelminische Trilogie geschrieben hat und La Haine, seine exemplarische Fabel. Es sind tatsächlich viele - fast zu viele, wenn man diese Verwendungsform akzeptiert - Gemeinplätze des italienischen Lebens und bequeme Verworrenheiten sind die Hilfsmittel der guten und klassischen Oper und in gewisser Hinsicht auch des Feuilleton-Romans. Aber in einigen der vielen Verfahren, in der die Schwächen und kleinen Heldentaten der Figuren der Kleinen Stadt festgehalten sind, ist das gesamte Ergebnis der langen Suche Heinrich Manns, sein „Heim“ in einem europäischen Land zu finden, festgehalten: die genaue Kenntnis der Grenzen und unauslöschlichen Wirklichkeit, die akzeptiert werden muß, oder auch nicht; so auch der grobschlächtige, komödienhafte Gallizismus des Ferruccio Belotti, seine bühnenreife captitio benevolentiae, die nachsichtige Selbstgefälligkeit und der Triumpf der Witwe Pastecaldi über die Liebesabenteuer des Bruders, die abgestumpfte und tierische Sensualität der Jünglinge im Laden, das absolute Fehlen der autonomen Persönlichkeit, die auf dem Platz oder der Kirche in den Männern und Frauen zerstört wird. „Wo ich mich gehen lassen möchte, muß ich Kritik üben. Das Temperament meiner mütterlichen Rasse schätze ich, wenn ich in Deutschland bin. Bei jenen aber sehne ich mich oft nach der deutschen Tiefe“, hatte Lola Arnold geantwortet und Heinrich Mann fährt nach den Romanen der Ära Giolittis damit fort, Notizen für den Untertan zu sammeln. 1907 haben die zehn Jahre - oder die Ewigkeit - seines Aufenthaltes in Italien ein Ende gefunden.


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