Lea Ritter-Santini: L’italiano Heinrich Mann, Bologna 1965 Übersetzt von Sabine Russ Einleitung



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III.

Alfred Kantorowicz, der erste Interpret und Kurator der neuen Ausgabe der Göttinnen100 , ordnete das umfangreiche Material bezüglich des Romans und blieb hängen bei den Zeitungsausschnitten, die Mathilde Serao und Edoardo Scarafoglio betreffen, die in den berühmten Skandal der Untersuchung der Regierung zur schlechten Verwaltungsorganisation der Stadt Neapel verwickelt waren. Dabei handelt es sich genaugenommen um einen deutsche, ausgesprochen übelwollenden Bericht101, der die Aktivitäten Scarfoglios aufgrund seiner Verbindungen zur Camorra erklärt und rechtfertigt; Kantorowicz glaubt, in Serao und Scarfoglio mögliche Vorbilder für ein schwieriges und geheimnisvolles Paar in Die Göttinnen zu sehen: die Bildhauerin Properzia Ponti und den Schriftsteller Jean Mortoeuil. Der Zeitungsausschnitt diente aber zu etwas anderem: er informierte den Soziologen Heinrich Mann über die neapolitanischen Sitten und Gebräuche, damit er seine Figur Don Saverio Cucuru, den unehrlichen Spekulanten in dem mysteriösen Land „der redenden Tiere“, der Umgebung entsprechend gestalten konnte. Das Land der „redenden Tiere“102 ist Manns Neapel: sehr ähnlich dem „porösen“ Neapel Walter Benjamins, und auf der gleichen Ebene wie später auch Bloch Neapel darstellen wird. Die Briefe Christl von Hartungens über die Mittel und Wege der Camorra sind ein weiterer Beweis für den Wunsch des Schriftstellers, genaue und exakte Einzelheiten über die sozialen Bedingungen der Figuren zu erhalten, die er handeln lassen wollte. Mehrere Male füllt die Hilfe von Hartungens Lücken auf und erklärt die Bedingungen und wenig verständliche Situationen oder übermittelt erbetene Informationen in den Ausführungen von Anmerkungen und Notizen. Die Untersuchung in Neapel und die Informationen von Hartungens dienten der Vermeidung von Verkürzungen - sehr gefürchtet in diesem kompositorischen Handwerk - und der Absicherung der Legitimität, was als instrumentalisierte Erfindungen zum Vorteil der Figuren gelten könnte. Statt dessen organisiert Heinrich Mann seine Figuren um die Realität von bekannten und wichtigen Ereignissen, ließ sie sich im Spiel erprobter psychologischer Reaktionen bewegen oder in Modellen, die auch anders und verschiedenartig für die gleiche Figur sein können, zuerst nach menschlichem Ermessen erprobt, also möglich, um sie dann in seine Invention, in eine von Lust dominierten Logik zu zwängen, „die Menschen zu durchschauen“ (das ist auch der Titel eines Kapitels im frühen Roman „Im Schlaraffenland“). Matilde Serao hatte zu ihrem Vorteil einen gewissermaßen genetischen Aspekt, ihre Mutter war Griechin und der Vater Neapolitaner, der für Heinrich Mann, entweder erfunden oder aus Anhänglichkeit an die eigene Biographie, mehr oder weniger für alle weiblichen Figuren seiner Romane von enormer Bedeutung ist. Serao war eine Freundin Bourgets, den sie im Sommer ‘92 im Aostatal getroffen hatte; ihr ist die Veröffentlichung im Anhang des „Mattino“ von Terre promise zu verdanken, denselben Roman, den Heinrich Mann noch vor Sensations d’Italie103 vermerkte, während er sich auf die Reise nach Italien vorbereitete, aber weniger in der Art des Meisters Bourget, von dem er bereits gelernt hatte, die Gefahr in einem zu sehr anpassungsfähigen Dilettantismus herauszulesen. Eine der nunmehr üblichen Arten ist das Reisen: „aber das Reisen mit einer totalen Unterordnung der eigenen Person unter den Druck des neuen Landes wie „ein Chemiker einen Körper dem Druck einer neuen Temperatur unterwirft“ […] das bedeutet, den Vorrat aufgebraucht zu haben, die Ideen und die von zuhause mitgebrachten Gewohnheiten, und in Italien das eigene innere Leben auf italienisch zu leben“104, das genauso unzuverlässig sein oder werden kann wie die deutsche „Schwärmerei“. Heinrich Mann wollte von beidem gleich weit entfernt bleiben. Und daher läßt sich auch die Rolle des Beobachters, auch des biographischen, erklären, einzelgängerisch aber äußerst aufmerksam, noch nicht schon bei den Erklärungen Gegé Primolis, aber bei den Artikeln aus „Messaggero“, der „Tribuna“ oder „Rinnovamento“ - darin lesen oder schreiben die Figuren seiner Romane - und eines auf italienische Art übersetzten „Intransigente“, das sicherlich enthüllt, wie sehr Heinrich Mann in diesen Jahren zwischen dem 19. und 20. Jhd, in Rom oder in Neapel, die bitteren und streitbaren Artikel verfolgt hat, die H. Rochefort dort geschrieben hatte105. In einer der ersten Novellen Geschichten aus Rocca de’Fichi, datiert 1896, die aufgrund ihrer Intonation und ihres Ambientes Die kleine Stadt ankündigen und in einer Rahmenerzählung die zehn Jahre später entstehenden Figuren vorwegnehmen, findet sich „der ehrenwerte Colajanni“ zitiert, der vielleicht mit seinem klingenden Namen zum italienischen Kolorit der Novelle für die deutschen Leser beigetragen hat, aber eher darauf verweist - es ist das Jahr des gemeinsamen Aufenthaltes der Brüder Thomas und Heinrich in Palestrina und Rom - daß die Polemik und die beunruhigenden Artikel des Abgeordneten Napoleone Colajanni (einer der frühen Meridionalisten106, Sizilianer und föderalistischer Republikaner) offensichtlich ein würdiges Argument waren, um verfolgt, geteilt und kommentiert in einem literarischen Text mit ganz anderem Ton eingefügt zu werden; die Bizarrheit eines römischen Prinzen, der damit endet, sich in häßliche Steinkopien zu verlieben und das Original der lebenden Frau aus dem Volk nicht wiedererkennt, in die er sich unsterblich verliebt hatte, wenngleich ihn das stolze und kraftvolle Mädchen einem braven und gesunden Untertan-Künstler vorzieht, um ihm Erholung zu verschaffen.

In den Werken dieser Periode verdoppeln und ordnen sich besonders die beiden Eindrücke des italienischen Lebens und des historisch-künsterlischen Italiens neu in einem dauernden Spiel der Ebenen und Interferenzen, von Projektionen und Sprüngen, die an Stendhals croniqueur denken ließen, wenn sich nicht Mann damit unterhalten hätte auch auf dem Schachbrett historische Figuren spielen zu lassen, indem er die als verifizierbar inspirierte romanhafte Erzählung ablehnt. Ihm fehlt dabei der typisch stendhalsche Genuß des italienischen, geschwätzigen Lebemannes, den er in seiner nur mit dem Bruder geteilten Einsamkeit zu verabscheuen scheint. Das Unbehagen, die nationalen italienischen Befürchtungen interessieren ihn genauso wie die Varitäten der Menschentypen, die die Fin de siècle-Gesellschaft von Venedig bis Neapel an ihm vorbeiziehen ließ. Daher muß ihn die ungewöhnliche Persönlichkeit Matilde Seraos interessiert haben. Die deutschen Kritiker haben bisher dem unbestreitbaren Vorbild des Bel Ami von Maupassant für den Romanhelden in Im Schlaraffenland zugestimmt, obgleich der Titel sicherlich eine italienische Erinnerung ist, die auf Paese di Cuccagna [Schlaraffenland] von Mathilde Serao zurückzuführen ist, an den Heinrich Mann vielleicht nicht gekommen wäre ohne die Vermittlung des angebeteten Bourget (Minnie Bourget ist die Übersetzerin ins Französische und Paul Bourget schrieb das Vorwort). Das vom französischen Autor im Vorwort seine Duchesse bleu (1898) hoch gerühmte Fresco des völkischen Lebens widmete er ausgerechnet Matilde Serao und lieh Heinrich Mann damit einige Details nicht nur des gleichnamigen Romans sondern auch den Göttinnen. Bourget ist sicherlich eine gemeinsame Wurzel, die Heinrich Mann, Mathilde Serao und auch Gabriele D’Annunzio107 genutzt haben. Besonders Gabriele D’Annunzio, der außerordentlich auf die Zeitströmungen und die gerade populären Namen geachtet hatte und besonders in den Jahren 1885 bis ‘95 noch eng dem neapolitanischen Ambiente verbunden ist. Matilde Serao ist Tochter eines Journalisten und selbst Journalistin in den Jahren des unruhigen Neapels zwischen ‘70 und ‘80. Sie hatte bereits andere Bücher geschrieben, die das Redaktionsklima und die Ängste eines jungen Schriftstellers am Beginn seiner politischen oder literarischen Karriere wiedergeben: Vita e avventure di Riccardo Joanna (1887) [Leben und Abenteuer des Riccardo Joanna] und La conquista di Roma [Die Eroberung Roms] (1885)108. Der junge Savezzo, der aus der Provinz der Novelle Die Ehrgeizige109 im Café Aragno anlangt, schäbig und schlecht gekleidet in einer Horde von Parlamentsjournalisten, trifft er die ehrgeizige Signora Camuzzi, die dazu entschieden ist, die römische Welt der Politik und der Aristokratie zu erobern. Er findet sich in „italienische Geschichten“ verwickelt wieder, die so genau beobachtet und so italienisch sind, daß sie aufgrund der Analogien oder zwillingshaften Verhaltens bestechen. Obwohl die zentralen Kapitel der „Wanderjahre“ im ländlichen Aufenthalt der Herzogin von Assy dokumentiert bleiben, so kann durchaus Il ventre di Napoli [Der Bauch von Neapel] (1885) mit seiner ganzen gärenden Vitalität den überzeugenden Bericht Gregorovius’ übertroffen haben110 Im übrigen wurde Matilde Serao auch in Frankreich gefeiert (auf ihrer Reise nach Paris von 1898) und F. Brunetière druckte La ballerina in der „Revue des deux mondes“, was eine Garantie für den der französischen Literatur verbunden Schriftsteller bedeuten konnte. Benedetto Croce identifizierte die Ableitung und Anlehnung von Paese di Cuccagna aus La Rabouilleuse von Balzac111: und man bestand nachhaltig auf der Rezension Balzacs, die durch Taine vermittelt in Manns Werk nachweisbar ist, besonders die großen Themen des Journalismus als literarische und politische Macht betreffend, den Schwerpunkt des Geldes in der Macht112, und die Glorifizierung einer dagegengerichteten Revolte. Die allgemeinen Beziehungen der verschiedenen literarischen Realisierungen konnten dem sozialen Interesse eines jungen Schriftstellers, der dabei ist seine Arbeitsinstrumente zu organisieren, nicht fremd bleiben.

Darum kann auch die breite und mächtige, mit einem Turm als Frisur gestaltete Figur der Properzia Ponti auch äußerlich nicht die bekannte, unelegante Figur der neapolitanischen Schriftstellerin verkörpern. Auch mit Pontis dramatischer Beziehung zum Pariser Literaten Mortoeuil sollten 1901 noch keine biographischen Details der Serao vorweggenommen werden, wie sie es 1904 in ihrem ehelichen Debakel tatsächlich erlebte.

Seine Vorliebe, die Geschichte soziologisch zu interpetieren - eben die „prophetische Gabe“, die Deutschland ihm nie verziehen hat - bildete sich langsam in den ersten Jahren heraus. Das war die Periode „ohne Pflicht, ohne Werk“, von der der Autor gewollt hat, daß sie nie völlig als der Beginn seines literarischen Werks beurteilt werde. Aber die Art und Weise, sowie einige Gründe für die Auswahl einiger Figuren der Göttinnen bestätigen, wie tief in ihm das Bedürfnis nach einem Repertoire an „funktionalen“ Figuren war. Diese benötigte er, um eine exemplarische Gesellschaft zu formen, die nicht von den historischen oder realen Ereignissen Europas abwichen, die seine Romane bevölkerten. Im übrigen überdauern Manier und Logik in der Auswahl seiner Handelnden, genauso wie in der Zeit, als er sich darin übte „schlechte Nerven“ zu haben und „lebte in einer jugendlichen Verzweiflung, die in Nihilismus überging“, auch in späteren Werken bis hin zur letzten Reifephase.

In den Göttinnen - die für den Leser mit der Erzählung von der Geste des „hocharistokratischen Rasseweibs“ Violante von Assy beginnen, von denen die europäische Presse im Juli 1876 voll war - sind die Bezüge zur italienischen Geschichte vor und nach der Einheit des Königreiches sehr zahlreich und haben doch oft den Charakter der „Beiläufigkeit“. Gerade diese Hinweise sollten dem geübten Mann-Forscher verdächtig sein, weil sich in dieser beiläufigen „nonchalance“ die wichtigen Hinweise auf Herkunft und Aufnahme verstecken. So wie „der ehrenwerte Colajanni“ in den feinen „Rahmen“ einer langen Novelle eingegangen ist, so teilt uns das mehr über die römische Lektüre Manns mit, als die vielen literarischen Entwürfe, die im Rom „Sommarugas“ dieser Jahre entstanden sind.

Violante von Assy fehlten in ihrer Struktur als „Superfrau“ - Einheit und Dreiheit - und ihrer ersten Funktion als Diana, das heißt als grande dame, die sich auf die Freiheit versteift hat, die Idee eines schönen, freien und glücklichen Volkes ihren Reichtum und ihre Heimat opfert, ohne die Erinnerung und die Mystifikation viele der glaubwürdigen Abenteuer und viel von der politischen Bizarrerie, die in den Jahren andersartige Dimensionen und Deformationen annahm113 - die der großen italienischen Damen des Risorgimento114.

Die Prinzessin Cristiana Belgiojoso115, die Herzogin von Plaisance, die aristokratischen Konspirantinnen, die das Leben Stendhals so unruhig machten, die adligen Carbonare im Kampf mit Diplomaten und Religiösen sind weitere Bezugsfiguren, obwohl sie nach und nach von der Welle der Condottieri und den Damen einer idealisierten Renaissance verschluckt wurden.



Die Herzogin Manns vereinigt in ihrer vieldeutigen Varietät, die ihr nur ein Roman der Dekadenz zugestehen konnte, die politischen Tugenden der hochstehenden Patriotinnen, die künstlerischen Überteibungen der Personen des ausgehenden Symbolismus, die von einer perversen Hartnäckigkeit durchdrungenen Exzesse der Frau-Menade, die in der Literatur des Fin de siècle heftig wütet116. Das Muster des biographisch-literarischen Mosaiks konnte nicht ausschließlich der Erfindungsgabe Manns entsprungen sein, der, wie wir gesehen haben, die verschiedensten Wege verfolgte, um sich dann von den ungewöhnlichsten Erinnerungen - die für andere später Hauptstraßen werden sollten - bis zum Stamm der Komposition zu vereinen. Vom Palast in Zara, wo der Roman seinen Anfang nimmt, bis zur Villa des Gianicolo und der Lungara bevölkern ihn Figuren, die in irgendeinem Jahrhundert oder Geschichtsmoment Italiens, wenn auch nur literarisch, eine Rolle gespielt haben. Auch wenn es nicht klar ist, ob sich eine Demaskierung lohnen würde, handelt es sich doch um eine Galerie der lebenden Bilder, denen nur die Beschriftung fehlt. Die letzte Nachfahrin der antiken Normannen, die an der ligurischen Küste angekommen waren, die in einer neoklassischen Imitation zu Hause ist, würde den italienischen Interpreten auslachen, der auf den Inseln der Küste von Zara noch nach einer Erinnerung Foscolos sucht. In Wirklichkeit ist die Herkunft wieder einmal zu unterscheiden, wie fast jedem Urtext und jeder Vorstellung des jungen Heinrich Mann, zwischen „italienischem Material“ und französischem Filter. Es existiert in der Tat in der Bibliothek Manns ein Werk, das vielgelesen aussieht, eines „kleinen romantischen“ Franzosen, Philarète Chasles117, das die verschiedenen Inspirationen belegt. Das zweite Kapitel ist Carlo Gozzi und seinen Memorie inutili gewidmet, den Abenteuern in Dalmatien und den Femmes dalmates: durch einen französischen Autor und Hinweise zu einem der wenigen italienischen Schriftsteller, den die deutschen Autoren in der Romantik gehört und assimiliert haben: „der gute Europäer“ nähert sich der Freiheit des „Übernationalen“. „Die Alchimie des Schaffens“, so nannte es Max Brod118, erfordert verschiedene Reagenzgläser. Die Herzogin schmückt er auch mit Stücken von Gozzis Dalmatien, der Patriot und „Freiheitsheld“ San Bacco ist bereit, ihr und ihrem Fall jede weitere Möglichkeit seiner Bestätigung des eigenen Ruhms zu opfern. Der Garibaldiner und Markgraf, mit der gleichen aufgeblasenen und ernsten Unnötigkeit wie ihn auch ein Lampedusa gezeichnet haben könnte, ist Vorbild vieler zukünftiger Novellen des Risorgimento. Der Mythos Garibaldis ist hierbei an eine elegante Gesellschaft angepaßt, die ihre Unternehmung Fiume noch nicht erlebt hat. Heinrich Mann komponiert ihn mit einer popolaren Anekdotik, die in dem gewöhnlichen Schmuck des galanten Kosmopolismus gekleidet, in den Göttinnen die Figuren der „Tat“ darstellen, damit sie nicht allzusehr ins Auge fallen. Seine in Aktion übersetzten Ideen haben die Kraft, Nino zu begeistern, den Cupido der dekadenten Venus, der in der Bewunderung des Helden „der beiden Welten“ stets im Dienst der Freiheitssuchenden, herangewachsen ist. Mann folgt dem Mythos Garibaldis119, der Inkarnation des idealen Typus der Menschlichkeit, in Jahrhunderten gereift. Zu seiner Verbreitung und zu seiner literarischen Glorifizierung trugen G.C. Abba120 und Carducci bei, die ihrerseits die garibaldinische Poesie D’Annunzios, Pascolis und Cesare Pascarellas bestimmten. Das sind alle Autoren, vor allem Abba und Pascarella, die Mann gut gekannt hat, sofern die wiederholten Anmerkungen seiner Notizen etwas bedeuten. Dumas père war mit seinen Mémoires de Garibaldi (1860) und seiner nicht nur allgemeinliterarischen Hingabe, für Mann der ihm wichtige französisch-internationale Garant, daß sein Maß der Mystifikation keine Beschränkungen erleide und statt dessen dem nationalen Enthusiasmus folge. Mann konnte das finanzielle Opfer Dumas’ und sein Ehrenamt als Direktor der Schönen Künste in Neapel nicht übersehen haben.

Auf die Figur Garibaldis greift Heinrich Mann in jedem Roman oder Novelle mit italienischem Ambiente oder italienischer Motive zurück. Er plante eine Novelle zur Figur121: einige Notizen skizzieren Charakter und Psychologie und dabei wird jeder fremde oder kritische Ton vermieden. In Zwischen den Rassen befinden sich Garibaldiner zwischen den brüllenden Arbeitern auf der Piazza della Signoria, um das Bild einer heroischen Zeit wachzuhalten. In der Kleinen Stadt ist es derartig omnispräsent in der Verehrung („Er war ein Löwe“) und in der Erinnerung derjenigen, die mit ihm bei Bezzecca gekämpft haben, um jeden anderen Lokalheiligen zu ersetzen. Die Geschichte Italiens, von Garibaldi bis Giolitti, in all ihren Zerstückelungen und Deformationen, entsteht durch Andeutungen und Parabeln in den Werken dieser Zeit, ohne jedoch die Materie völlig zu beherrschen, die weiterhin literarisch bleibt.

Die tradierte Berufung zum historischen Roman, die im reifen Heinrich Mann mit Die Jugend und die Vollendung des Königs Henri Quatre (1938) ausbrechen wird, ist notwendig, um seine genauen und nicht nur passiv referierten Kenntnisse zu rechtfertigen. Sie verifiziert sich im absoluten Bild und in den Details, vermittelt durch die Anlage zum kritischen Urteil über eine Epoche und ein fremdes Land, das sich in dieser Phase durchaus komplementar zum Autor verhielt. So attestiert ihm auch Georg Lukász viel später die höchsten Qualitäten, historisches und soziales Genie für den Untertan und Henri IV.

Die Willkür der chronologischen Verschiebungen und Fusionen, der Figurendoppelungen sind in den ersten Romanen noch Tribut der „erfinderischen“ Jugend und auch eines verbessernden, idealen Willens. Die Interpretation der Ereignisse oder der in die Leerräume eingeführten Figuren erhalten somit ihre Funktionalität.



Viele der für die Göttinnen erfundenen Figuren haben ein historisches Profil, oder existierten wenigstens in einer realistischen Perspektive, die rekonstruiert werden muß, noch ehe die vom Autor gewählte Intention der Gestaltung interpretiert werden kann. „Alle Figuren des Romans“ - unterstreicht U. Weisstein122 - „verweigern mit Nietzsche das christliche Ideal der Askese. Die einzige Ausnahme dieser Regel ist die Contessa Blà, deren mitleidige Natur nur den Wunsch kennt, jemanden zu pflegen und zu heilen.“ Es ist unbestreitbar, daß ohne die Lektüre Nietzsches, und noch mehr die der italienischen Verbindung Nietzsche-D’Annunzio, die Interpetation der Vibrationen in den Figuren im komplizierten Frühwerk Manns nicht möglich wäre. Aber auch die Contessa Blà, Freundin der Herzogin, gerade aufgrund ihres Widerspruchs zur Regel, das heißt mit ihrer mitleidigen und altruistischen Natur, ist einer Wirklichkeit untergeordnet, die die Re-Invention steuert. „Dabei liegen vielfach tatsächliche Geschichten zugrunde“, schreibte Heinrich Mann am 24. Februar 1901 bezüglich seiner Göttinnen an den Verleger Albert Langen: Der erste Anstoß, die für eine Figur notwendige Zündung, um geboren zu werden, war oft die Zeitungslektüre, wie es auch für Professor Unrat sein wird. Sicherlich sind nicht alle Zeitungsausschnitte, die im Archiv aufbewahrt sind, in die Collage der Göttinnen eingeflossen. Es existiert allerdings noch ein Ausschnitt aus der „Tribuna“123, unterschrieben Sombrero. Heinrich Mann war also ein eifriger Zeitungsleser. Für die „Tribuna“ schrieben außer D’Annunzio noch weitere wichtige Namen des römischen Journalismus, und auch die Contessa Lara. Sie war, eigentlich Evelina Cattermole, schön, unglücklich und mysteriös, Freundin Matilde Seraos und Febea Olga Ossani Lodis sowie der römischen Literaten zwischen 1880 und ‘95. Sie wurde von ihrem letzten Liebhaber - es gab einen großen Skandal im Dezember 1896 als sich Heinrich Mann gerade in Rom befand - der sie ausgenutzt und brutal mißhandelt hatte, ermordet.124 Heinrich Mann respektiert, ungewöhnlich seinen sonstigen Angewohnheiten gegenüber, viele Einzelheiten der effektiven Wirklichkeit: Evelina Cattermole wurde am 30. November in der Via Sistina 27 von ihrem bedeutend jüngeren Liebhaber getötet, der zum Typus der meridionalen männlichen Schönheit gehörte, sinnlich und stumpf, wie später der Dichter Orfeo Piselli, der letzte Geliebte der Blà. Trotz der offensichtlichen Interferenz der Topographie D’Annunzios, die zwischen der französischen Akademie und der Trinità dei Monti schwankt, handelt es sich um die Straße125, in der die Contessa Blà wohnt, die gleiche Jahreszeit, die die Herzogin von Assy schwächt und sie zur Abreise nach Venedig bewegt. Die Contessa Lara hatte ihre eigene Kolumne in „La Tribuna“ - „Cronaca femminile“ und war von Angelo de Gubernatis beauftragt worden, eine Modeauslese in „Vita italiana“ zu besorgen. Die Contessa Blà antwortet der Herzogin auf die Fragen nach ihrem Leben: „Ich schrieb als Contessa Blà anfangs Modebriefe, dann Plaudereien […] Mein Vater war Franzose […]“. Darin befindet sich sogar der biographische und fantastische Schwindel der Contessa Lara, die sich jahrelang darin gefiel, als Tochter eines Franzosen zu gelten, in Sacre Coeur erzogen, anstatt in der Toskana zwischen Florenz und Badia Fiesolana. Mann bedient sich nicht nur der journalistischen Details wie Tatort und Art der Verwundung, die sich perfekt mit der Beschreibung der Agonie im Roman decken, was ihm zwangsläufig in diesen Wochen ins Auge fallen mußten („La Tribuna illustrata“ vom 13. Dezember 1896 veröffentlichte tatsächlich ein Foto des Tatortes, das einen Eklat auslöste), sondern erweitert die Fakten um das psychologisch-soziale Umfeld. Die Contessa Lara war in Florenz eine häufige Besucherin des Salons an der Piazza Santo Spirito, den Maria Letizia Solms Bonaparte Wyse de Rude, Ehefrau von Urbano Rattazzi in hervorragender Weise leitete, und die von Alfons Daudet „die internationale Prinzessin“ genannt wurde. Sie diente offensichtlich als Modell, in viel stärkerem Maße aufgrund einiger pikanter Anekdoten, für die Herzogin von Assy126. Es stimmt überein in ihrer Beschreibung als tierlieb und mitleidig mit den Armen, denen sie mehr gab als sie verdiente. Die Freunde der Contessa Lara beschuldigten sie auch mehrfach der Opferbereitschaft gegenüber ihren Geliebten, die sie zur Sklavin des Mannes machte, in den sie sich oft nur aufgrund der rein physischen Attraktivität oder aus verzweifelter Einsamkeit verliebte. Heinrich Mann konnte das Faktum der Klatschseiten127 nicht entgangen sein, das später mit anderen Elementen kombinierend128, das Ende der sensiblen und intelligenten Frau betrifft, die Opfer eines ambiguen und brutalen Ausbeuters wurde. In sein offenes Universum von der Lektüre französischer Naturalisten bis zur Beobachtung des sozialen Ambientes der von ständiger Unruhe geprägten Schichten kehrten die Gesellschaftschroniken immer wieder und bleiben in stärkerem Maße präsent, als es die Attraktivität des Ästhetizismus des zunehmenden D’Annunzianismus je sein wird. Mit gleichermaßen zunehmendem soziologischen Interesse der späteren Jahre bemächtigt er sich des Falles Murri und der Figuren, in dem er nicht die Charaktere verändert, sondern die Positionen auf dem Schachfeld seiner Romanerfindungen.

Es handelt sich dabei weniger um die stendhalsche Neugierde für die Prozeß-Gazetten, als um ein moderneres Bedürfnis, nicht den Beweis der Realität zu versäumen in dieser dauernden Gefahr des Überschwemmtwerdens vom Wiederspruch „Kunst und Leben“, vor dem sich Heinrich und Thomas Mann, genau wie ihre Figuren auch - ständig bedroht fühlten.

Die Funktion der Contessa Blà in der Struktur des Romans ist diejenige, Violante von Assy, bis sie sich in Venus verwandelt, eine Korrespondenz zu sichern, die die Intensität der Situationen begleitet und unterstreicht. Im zweiten Teil des Romans, Minerva, übernimmt Signora Gina Degrandis, die Mutter Ninos, die Rolle der Contessa Blà: und die Variationen über das Thema der Freiheit in den Dialogen der Freundinnen werden ersetzt von denjenigen über die Kunst. Im übrigen sind es die „Heldinnen“, die Heinrich Mann anziehen, die Vertreterinnen von Ausnahmesituationen, die großen Liebenden, allerdings im Gegensatz zu denen Rilkes129: der Typus, den er als literarisches Modell sucht, unterscheidet sich hinsichtlich Herkunftsland und weiblichem Schicksal, Begabung und einer fast männlichen inneren Freiheit, der Schönheit und einem gewissen Maß an subtiler Perversion ganz im Sinne des Stiles „Liberty“. Die „starke“ Frau130, die nie oder fast nie einen gleichwertigen Begleiter hat, ist keine moderne Erfindung Heinrich Manns, die er als Lösung oder Formel empfindet, die seine beobachtete Realität zum Ausdruck bringt. Sie ist im besten Falle ein literarisches Produkt zwischen historisch mythisierten, intuitiven oder modischen Modellen. Die Männer deuten im ganzen Frühwerk, ohne bis zu Unrat oder den Untertan zu gehen, zwischen Bel-Ami und Pulcinella sowie der Journalist im Schlaraffenland, bereits die Deformation und die Karikatur an: auch in den Göttinnen können nur wenige bestehen - das Kind Nino oder der alte San Bacco, die Jungen und Vitalen sind allesamt in einer Art von machtloser Qual gefangen und mehr als alle anderen, die Künstler.

„Er hatte das Gesicht eines sanften Fauns […] es war schwierig zu verstehen, was er dachte, wie er war, weil er manchmal schüchtern schien, manchmal düster und mysteriös […] „burlesk, voll Sehnsucht, abgefeimt, hilflos.“131 Alle Kritiker sind sich darin einig, im Gesicht des sanftmütigen Fauns und im Heidentum leicht die Poesie, die „in diesem Europa, wo niemand mehr Verse liest, Furore gemacht hat“, geschrieben von Jean Guigno, die ästhetizistische Haltung D’Annunzios132 wiederzufinden. Eine Vorwegnahme von Pippo Spano (geschrieben 1903, veröffentlicht 1905)133, - die Novelle, in der die Ambiguität der künstlichen Spannung von menschlicher Ernsthaftigkeit mit literarischer Sublimation verknüpft ist - bricht D’Annunzio, erkennbar an allen Details, die funktionale Hülle auf, die sie noch in den Umkreis der Göttinnen gebunden hatte, um somit zum theatralischen Vertreter der letzten Mystifizierung der Kunst zu werden, die das Leben unterdrückt, um Formen zu erschaffen, denen die Kraft fehlt, die Kunst zu ersetzen. Jean Guignol in den Göttinnen und der Dichter Mario Malvolto in Pippo Spano sind nicht nur, wie man sich zu interpretieren begnügt, eine groteske Karikatur Gabriele D’Annunzios und seiner menschlichen Gefräßigkeit im Namen der Literatur, sondern sind als Beispiele einer dauerhaften, verborgenen Beziehung von Anziehung und Ablehnung, von kongenialer Interpretation und feiner Satire zu verstehen. Die Bezugnahme entdeckt die ungewollt autobiographischen Strukturen, die der Autor in seiner Zeichnung hinterlassen hat134. Im übrigen: „Gute Satiren schrieb nie jemand, er hätte denn irgendeine Zugehörigkeit gehabt zu dem, was er dem Gelächter preisgab: ein Apostat oder ein Nichteingelassener. In Satiren ist Neid oder Ekel, aber immer ein gehässiges Gemeinschaftsgefühl. Einem Fremden gelingt keine“, hatte Heinrich Mann für Flaubert geschrieben.



Allzu gemeinsame Wurzeln zu seiner Geschichte - Burckhardt, Nietzsche, Flaubert, Maeterlinck, Péladan, Swinburne, Huysmans -, ohne die Temperamentsunterschiede zu berücksichtigen, näherten Heinrich Mann dem gestürzten Übermenschen seiner Novelle und erlaubte ihm doch die nationale Distanz und kritische Freiheit. Das Aussparen der eigenen Seele, damit sich die anderen daran berauschen konnten, ist, besonders im Pippo Spano, keine Vorstellung, die als einfach Mann’sche akzeptiert werden kann: „An der Seele sparen“135, exemplarisch, aber mühevoll verurteilt in der d’annunzianischen Amoralität war ein Thema, auf das bereits Arthur Schnitzler bestanden hatte. Da die persönliche Freundschaft zwischen Mann und Schnitzler erst 1907 entstanden ist, schließt die gegenseitige Kenntnis der Werke und Ideen nicht aus: In Die Frau mit dem Dolche (1900) sind viele Elemente in den Inventionen Manns wiederzufinden. Auch Schnitzler konnte der Renaissance-Verkleidung nicht widerstehen, die allerdings die Form einer Traumflucht oder einer Vision annimmt136. Es ist ein Gemälde, wie auch in Fontanes L’Adultera, im Stil der florentinischen Renaissance - Frau mit Dolch - die das Bedürfnis nach Analogie in den Figuren erweckt, die aufgrund einer äußerlichen Ähnlichkeit, zu einer nachfolgenden, gefährlichen Identifikation mit den im Gemälde dargestellten Figuren veranlaßt werden. Pauline und Leonhard verwandeln sich durch die Suggestivkraft des Bildes (oder des Traumes) in Paola und Lionardo und gehorchen dem Ruf des Bildes, das fast die Funktion einer dritten Figur übernimmt - großer Künstler, Maler in einer szenischen Realität wie in der Renaissance-Vision - für die auch die Ehefrau nur ein Instrument ist, um die Beobachtung in technische Perfektion zu übersetzen. Die verwandelten Figuren begehen die letzte Geste, die zur völligen Identifikation dient. Paola tötet Lionardo, damit Remigio, der Ehemann, die Schmach des Ehebruch nicht an ihm rächen kann, und Remigio nutzt die tragische Realität dieser Szene, um das Gemälde zu beenden - das ist genau der Moment der Traum-Vision, von dem das Bild inspiriert ist - und dem die Größe einer dramatischen Auflösung noch gefehlt hatte. Das künstlerische Benutzen, der Geiz an Gefühl in jeder Angelegenheit, die das Recht dazu hätte, den Ehrgeiz des Berufs zu überflügeln, kurz das Dilemma „Kunst und Leben“ im menschlich-moralischen Debakel des Pippo Spano, sogar die Antithese von Kraft der Zeit, Renaissance, und dem zweifelnden, krankhaften Zögern der Gegenwart, waren bereits in Schnitzlers Drama zum Ausdruck gebracht worden. Die Analogie der Frau mit dem Dolch führt zum dramatischen Ende der Properzia Ponti, „die ungeheure Frau aus Marmor, die sich erdolcht“. Die Bildhauerin tötet sich aus Liebe mit dem Dolch des Riccio (die Epoche muß auch in den Details konsequent umgesetzt werden und das Renaissance-Stilett ist in diesen Jahren auch nur durch das Gift der Borgia ersetzbar) und wird zum Bild der Frau aus Marmor, das sie selbst geschaffen hatte und dem sie, ein mysteriöses und tragisches Los, mit der Erfüllung ihres Schicksals ähneln wird.

Schnitzler hätte die Analogie der Figuren nicht anders konzipiert - in dieser ersten Periode, mit seiner magnetischen und bestimmten, sichtbaren Herkunft137. Auch Jean Guignol tötet sich selbst, vielleicht sogar um den Preis eines schönen Verses, und befreit sich damit noch von der Anklage, sich in die Literatur retten zu wollen, zu der ihn ein paar Jahre später Heinrich Mann in Pippo Spano verurteilen wird - und mit ihm alle Vertreter, die der Wahl „Literatur“ gegenüber der Alternative Leben getroffen hatten. D’Annunzio, der Dichter der Isoatta Guttadaura, verwandelte sich bereits in diesen Jahren in den Erfolgsschriftsteller, der die Tat bewunderte, die Aktion, obsessiv in den Werken Manns, verherrlichend in der Hofmannsthals.

Die Aufmerksamkeit Manns in der Kritik, die er in Jean Guignol darzustellen beabsichtigte, ist zweifach: auf die Worte gerichtet, eine linguistische Sorge, die immer subtiler wird, fast darum besorgt, einem rhetorischen Kanon zu folgen, die Anpassung, d.h. die zu den Objekten und Emblemen gehörenden exakten Adjektive in der gleichen Stillage, damit die einen und die anderen zur Wiederkennung der Figuren und Situationen dienen konnten, um die „phonische Beichte der reinen Vitalität“ zu widerrufen, die sich als das äußerst gefühlvolle Vorrecht D’Annunzios präsentieren sollte: „Der großartige Dichter der grandiosesten Rasse: er lobpreist, unermüdlich, die Schönheit, die große Schönheit, prall des Lebens […] die in seinem Bett liegt, haben aber seine Väter geschaffen und seine Kunst ist ein einziger Inzest […]“.

Die Umarbeitung Polizianos und die sichtbaren Einschübe Tintorettos und Carpaccios, die der Abgeordnete der Schönheit im Namen der Kunst zur Anregung des italienischen Bürgertums anbietet, dienen dazu, sich anstatt zwischen Crispi und Giolitti in der Erwartung des zukünftigen Königs von Rom zu wähnen, und gefielen trotz der von den gemeinsamen Meistern gefilterten Affinität Heinrich Mann nicht138. Jean Guignol ist also gefangen - der Phantasiereiche - in einer Situation der Kraftlosigkeit. Der Autor und Akteur der Venus-Fabel, die für die Herzogin von Assy komponiert und dargestellt wurde - seine „belle dame sans merci“ - im Amphitheater von Pozzuoli. Er ist der Schöpfer, der nach und nach die Lehmklumpen formt und sie wegwirft, damit die ihn versuchenden Figuren ihm unerreichbar bleiben und keine Spuren hinterlassen.

Die Kritiker sind sich darin einig, in diesem Teil der Venus, den stärksten Einfluß und die evidente Imitation D’Annunzios zu entdecken139. Das Klima eines Textes ist allerdings nicht ausschließlich aus Anzeichen gemacht, aus Echos oder Assoziationen: das Unternehmen legaler Literatur, die H. de Régnier sicherlich nicht gefallen hätte, ergibt aber präzise Aufschlüsse, kaum daß man sie mit der Absicht nach Verifizierung untersucht. In dem man den äußeren Zeichen folgt, mit denen die Mythen übersetzt wurden, d.h. die Worte und Bilder der „conque sonore d’une idée“, so entdeckt man keinen Gabriele D’Annunzio, der in den Seiten Heinrich Mann aufgenommen oder rielaboriert wurde. Die verwendete Technik, um den italienischen Poeten zu evozieren, ist wieder einmal das Produkt einer subtilen, künstlerischen Arbeit, in der man wiederum das kompositorische Vergnügen, die Freude der erfolgreichen Täuschung spüren kann. Das Material - und das wird niemanden überraschen - wurde von Henri de Régnier vorgelegt. Alle anziehenden oder kühnen Bilder, die das Publikum des Amphitheaters bewegen, von Jean Guignol während der Pausen seines Märchens herausgebrüllt oder erzählt, sind herausgelöste und neu zusammengesetzte, übersetzte, aufgelöste und nur andeutungsweise eingefügte Stücke aus den verschiedenen Gedichten aus Régniers Poèmes140.

Le Vase (aus der Sammlung Les Roseaux de la flûte, in Jeux rustiques et divins, gilt als das Meisterwerk des Symbolisten „Mardista“, gewidmet Pierre Louys, den Autor von Bilitis, woraus Heinrich Mann außer dem Namen Bilder für seine spätere Novelle Mnais (1906) entnehmen wird) diente als Vorlage der Struktur für die gesamte Entwicklung des Venus-Märchens, aber auch als Leihgabe der präzisen topographischen Bilder und der Figuren, die auf der Bühne erscheinen, und auf der Jean Guignol das Spektakel seines Lebensschwungs und seiner späteren impuissance zwischen Bergson und der für die Nachfolger Mallarmés typischen Niederlage bietet.

Um die Intarsienarbeit der symbolistisch-literarischen Anleihen exemplarisch zu belegen, genügt es, nur einige der Versatzstücke aus Le Vase aufzuzeigen, die sich in den Seiten Heinrich Manns wiederfinden lassen. Diese Anleihen folgen fast einer gehorsamen Ordnung der Wieder-Erfindung, eher orientiert an den Gesetzen des Geschmacks oder der Funktionalität als an einer strukturellen Ökonomie.

un jour encore Auf einmal lugte zwischen zwei

entre le feuilles d’ocre et d’or Stämmen ein Faun hervor,

Du bois, je vis, avec ses jambes gelb behaart, helläugig141

de poil jaune

danser un faune
Un autre fois Hinter ihm zeigte sich schon

un centaure passa ein alter Zentaur


un matin j’en trouvais trois à la Am Bach stand eine Nymphe

fontaine auf, schlank, mit fallenden

dont l’une me parla. Elle était Schultern … er wollte ihr

nue Bild gestalten.

Elle me dit: Sculpte la pierre

Selon la forme de mon corps …


Écoute autour de toi les heures Aber sie lächelte und ermahnte

dansées par mes soeurs dont ihn, er solle ihre Schwestern

la ronde se renoue entrelacée nicht vergessen
Et je sentis sa bouche tiède sur Sie schlenderte auf den Künstler zu

ma joue und küßte ihn auf den Mund


Les trois Nymphes debout au- Dann tanzten sie mit ihren Freun-

près de trois roseau roux dinnen auf der glänzenden

se prirent par la main et dan- Wiese. Sie faßten scih bei

sèrent; du bois den Händen … die braunen

les faunes sortaint par troupes, Faune krochen hindurch.
Des satyres boiteaux piqués par Ein Zentaur: er hinkte, es verfolgten

des abeilles. ihn Bienen, die er beraubt hatte.142


Ein weiteres indikatorisches Indiz ist insbesondere der von Guignol geformte Lehmklumpen: die Stellung und Art stammen aus Ode marine in Médailles d’argile
et moi couché

sur la terre durcie à mes ongles en sang

Je n’ai pour y sculpter mon rêve fremissant

et le rendre éternel en sa forme fragile

Qu’un peu d’argile

rien d’autre …


oder aus L’Empreinte, das nur dem Thema des Lehms gewidmet ist: „et sa matière est propre au portrait incertain“. Zentauren und Mänaden, Satyre deren „l’orgie en fleurs a peint de rouge les sabots“143, Nymphen und Driaden bilden das Repertoire der berauschenden Figuren, die Régnier, neben einer noch engeren Verwandtschaft zum Stil José-Maria de Heredias, an die feinfühlige literarische Bereitschaft Heinrich Manns weitergibt, der im letzten Teil seines Romans keine mythologisch-dekadente Anregung zurückweist, um sie mit manchmal noch feineren Tönen zu verstärken oder mit figurativen Reminiszenzen zu integrieren. Sie dienen ihm, um die D’Annunzianische Atmosphäre neu zu schaffen, in der auch der Granatapfel nicht fehlen darf, der neben verblühenden Rosen aufgeplatzt seine Saft vergießt. Auch konnte keine kritischere Verachtung evidenter sein als die Brechung der Symbole - die Rose und der Granatapfel -, der Jean Guignol beiwohnt. Um das Flair dieser Seiten zu genießen, bedarf es noch weiterer Beispiele, wollte man in allen Details der Architektur des theatralischen Märchens folgen, dessen Künstler „le talent ne garantit rien“, nachdem er einmal die beabsichtigte Mystifikation entdeckt hatte.
Jean Guignol führte tollwütig die Axt gegen einen Stamm, eine Dryade sprang ans Licht, blutend, und huschte davon ins Dickicht144
und die Prosa-Übersetzung von
Et j’ai levé la hache contre les arbres où vivaient les Dryades,

Et leur sang a saigné en gouttes …


des von Heinrich Mann hauptsächlich ausgebeuteten poetischen Dialogs (auch wenn diesmal fast keine Spur davon zurückbleibt, außer im definitiven Text des Romans) L’homme et la Sirène, gewidmet F. Vielé-Griffin, dem deutschen Autor gut bekannt. Im Monolog Violantes, auch im locus amoenus des Symbolisten dargestellt, „l’eau bordée d’iris“ („die großen blauen Iris glitten an ihren Brüsten hinauf“), sind die Verse der Sirène eingewebt und ein weiteres Gedicht, für dessen Entdeckung ein einziger Satz des deutschen Textes als Spion gelten kann: „Wer bist du?“… fragt Guignol, atemlos vom sinnlichen Gewirr der Liebe und Bilder: „Ich bin die Kurtisane“. Pour la porte des courtisanes hat der Seite Heinrich Manns das sinnliche Pigment gegeben:
Des antres fabuleux éclose à ta peau douce,

Et dans le pli secret de ta plus tiéde chair

La forme des coquilles roses de la mer …
Komm doch - lädt die Violante Mann-Régniers ein - sieh diese Muschel an, und dann suche an meinem Leib die Stellen, die ihr gleichen. Es gibt welche.
Auch diese Figur der literarisch verwirrenden Frau entschlüsselt sich in der Beschreibung einer Pose - unter Beibehaltung der Sprache und vieler Details - als Übersetzung des berühmten Bildes von Botticelli, der Geburt der Venus.

Bei der parallelen Lektüre kann man nicht darauf verzichten, eine eventuelle Enttäuschung aufgrund der vielen wiederholten Anleihen ausgewählter Interpretationen einzugestehen, von denen keine dazu dient, das Gemälde noch farbiger zu machen.


Régnier: Des endroits de ma peau se veloutent de mousses

H. Mann: Nimm die samtenen Moosbeete meines Körpers zum Kopfkissen

Régnier: Et des abeilles sont éparses dans mes rires

H. Mann: In meinem Schweigen summen warme Bienen


Die Beispiele, in denen auch Metatexte, nicht nur wörtlich sondern in kompletten Bildern und Versen eingefügt sind, vervielfältigen sich im „panischsten“ Teil der Venus, der für das Publikum und die Kritik hörbar die untertänige Abhängigkeit Manns von D’Annunzio festgelegt hat. Gerade deshalb hatte Heinrich Mann sie abgelehnt.

Jean Guignol, dem d’annunzianischen „Effige dell’Idea …, den die Künstler ohne Unterlaß in den Gedichten heraufbeschwören, in den Geweben, aus dem Lehm“ gesteht man es nicht zu: und Satyre, Faune und Nymphen fliehen, lachen, verlieren sich in der Dunkelheit des Waldes. „Unnötig … Kunst, oh Schreckliche, du enthüllst dich nicht. Wir bewundern dich unnötigerweise“: die Verse aus Poema Paradisiaco finden ihre grausame Metapher im Geisbock, der bleibt, um die Wut, die Begierde, die Enttäuschung über die Flucht der Nymphen, der Menaden, der Bienen zu hören, die alle bei den Parnassiens entliehen sind.

Es sind die poetischen Einflüsterungen der Medaillen aus Lehm, die die gewollte Verurteilung bilden, fast eine subtile übelwollende, kollektive Tortur, als man die Quellen entdeckte, die D’Annunzio kurze Zeit später wahrhaftig für einige lyrische Gedichte der Alcyone benutzt: derselbe Henri de Régnier, den Heinrich Mann geahnt hatte, als er sich für die Niederlage Guignols von La trace inspirieren ließ:
… renonce à l’argile

.


Tu risquerais ainsi de trouver sur la sable

Ou posérent les pas du passant adorable,

Empreinte au sol encore l’ongle d’un bouc, au lieu

D’y suivre le talon et l’orteil nu du Dieu.


Oder auch die Allegorie aus Dedicace:
Tu poursuis, en chantant, dans la glaise et l’argile

Pour lui rendre à jamais la forme ou tu le vois

Qui rôde en ta pensée et s’esquive à ta voix,

Un fantôme furtif qui fuit ton pouce agile.


In Lever de lune aber:
Laisse cette argile

Laisse cette terre

...........................

Vaine est l’ébauche que tu tentes

Car ma fugitive beauté

N’est vraiment belle que vivante,


die Herrschaft des Lebens „sur l’aile de la voluptè“ ist die antreibende Peitsche, die genau im Moment des höchsten Genusses trifft, wenn die Synthese von vitalem élan und künstlerischer Kreation nah und möglich scheint.

Es scheint die Sprache der Laudi zu sein: „Pan ist nicht tot“, bekleidet das Märchen der Venus. Man fühlt im Geflecht der Seite die dauerhafte, beharrliche Allusion auf Bilder des d’annunzianischen Repertoirs, von dem Heinrich Mann weiß, daß sie nicht dem italienischen Dichter gehören und genießt das ahnende, geheime Spiel145 so sehr, daß es manchmal schwierig wird, zwischen dem bearbeiteten Vers und dem autonomen Satz zu unterscheiden. Das ist übrigens ein Verfahren, das für Heinrich Mann geradezu klassisch werden wird: die literarische Fusion aller katalogisierten Elemente des gewählten Sujets, Zitierungen, gewollte und ungewollte Imitationen, integrierende Imitationen und autobiographisches Engagement, in der Satire sowie dem Essay. Die Struktur, mit der die Episode Jean Guignols konstruiert ist, die Novelle Pippo Spano, die autobiographischen Teile im Roman Zwischen den Rassen, ist die gleiche wie im Essay über Flaubert. Die heidnische Sinnlichkeit, die der Schule D’Annunzios zugerechnet wird ist in den Göttinnen nichts anderes als das Ergebnis der verschiedensten Assimilationen: Fragmente der Symbolisten, verbale Transpositionen sichtbarer Eindrücke, die vom Repertoire Renaissance bis Jugendstil hervorgerufen wurden, dekadentistische Module französischer Extraktion und ironischer imitatio D’Annunzios. Darüberhinaus ist es der Kontakt mit der Zeit, der die persönliche Substanz angriff, die bereits von der Bereitschaft zum Konflikt zwischen Kunst und Leben zeitgenössisch geworden war. Weithin verwundert jedoch die Intelligenz des gelesenen Textes, diese präzise Intuition, dieses sichere Gespür für die poetische Originalität und das beharrliche Mißtrauen gegenüber bearbeiteten Formen und geschmolzenen Resten, die es Heinrich Mann erlaubten, die Motive des Triumphes und der Schwäche eines Poeten, der das Land in dem er damals lebte, als das Genie der Rasse bezeichnete, zu identifizieren und anzuzeigen, noch ehe sie sich vollständig abzeichnen.. Aber „la génie même n’est pas une sulvegarde“, hatte der bereits verwendete Henri de Régnier geschrieben.

„Aber es thut mir weh, daß es jetzt in Dir unklarer und unzufriedener aussieht als früher. Bin daran ich schuld, mit meinen Romanen?“ schreibt Heinrich Mann einige Jahre nach der Veröffentlichung der Göttinnen an Ines Schmied, der er für viele Jahre gefühlsmäßig verbunden war. „Du kanntest doch schon vorher in der Litteratur recht schlimme Sachen.“ fährt er fort und versucht dabei die exzessive Sinnlichkeit zu erklären, die der Freundin mißfallen hatte: „Ich will dir sagen, woher, meines Erachtens, das Unbefriedigende dieses Buches kommt. Daher, daß die große, heidnische Sinnlichkeit, die darin gefeiert wird, doch eigentlich hier garnicht das Ideal ist. Sie ist nur Ersatz für etwas Höheres, woran man aber nicht glaubt […] Ich log nicht gerade; man kann sich Vieles suggerieren.“ Es ist gerade dieses „nicht-gerade-lügen“, der literarische Kompromiß, der auch Guignol verbietet, nur die d’annunzianische Maske zu tragen, die aber auch einige wahrere Züge eines Heinrich Mann versteckt, der die Realität sucht, von der er nur den „Ersatz“ besitzt: Das Symbol der schauerlichen Maske aus Menschenhaut, rot und geschwollen, fast die Haut eines Gesichts, die im Schlafzimmer in Pippo Spano aufgehängt ist: „Ich habe es immer für eine Erklärung der Kunst gehalten […] Diese abgezogene Haut, die mit der Form des verlorenen Körpers prahlt und auf unmögliche Weise sich färbt vom Lauf eines Blutes, das längst gestockt hat - mir war es die Kunst.“146 Die Maske aus menschlicher Haut, die die Frau später haben will und der Dichter sich mit einem Stück Papier abnimmt, ist das letzte Blatt beschrieben mit seinen Schreibversuchen.

„Sie wird erkennen,“ schreibt er in einem anderen Brief an Ines Nena, die den Jugendwerken Heinrichs skeptisch und ablehnend gegenüberstand - „daß es bei einem gewisse Nerven - und Geisteszustande lügnerisch wäre, wollte man die Natur einfach und schlicht wiedergeben. Daß Fieberhaftigkeiten, Grotesken, Gewaltsamkeiten unter Umständen das Einzige, Echte und Redliche sind.“147

Es sind noch immer die Versuchungen - die Gymnasiastenträume, die ihm der Bruder Thomas vorwerfen wird - der Literatur: „Talent ist gut für jene, die sich als Menschen nicht durchzusetzen vermögen“, bestätigt eine Figur der Göttinnen. Das Talent zu besitzen und die menschlichen Möglichkeiten zu realisieren, war allerdings das Ideal, für das das Mosaik der Göttinnen zusammengesetzt worden ist.


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