Sechstes Kapitel
Ein europäischer Dialekt
„Seine Sprache, das perfekteste Deutsch, das nach Heinrich von Kleist geschrieben worden ist (den er aber an Härte übertrifft, wie Stifter durch Reinheit die Präzision des Amerikaners Poe übertrifft und den leichten und beweglichen Schwung Shakespeares erreicht), seine Sprache hat das Ansehen aller europäischen Dialekte … Sie ist die europäische Sprache der europäischen Romane, des europäischen Romans, der von Heinrich Mann geschaffen worden ist.“
Als R. Leonhardt 1931273 die Lobrede auf die Sprache Manns schrieb und damit der Welle von Enthusiasmus folgte, die vom Künstlerkreis um Gottfried Benn ausgelöst worden war, hatte Heinrich Mann noch nicht die Romane um König Henri IV., geschrieben, mit ihren „moralités“ und dem eleganten Flair, dene nicht mehr die ansteckende Aura des „Zivilisationsliteraten“ anhaftete. Das Lob Leonhardts konnte daher ernster genommen werden als das des „klassischeren Deutsch“ mit seiner latinischen Eleganz, das K. Edschmid einem Bewunderer, und nicht nur in einzelnen gemeinsamen Linien Nachfolger Heinrich Manns gezollte hatte: Carl Sternheim.
Die Sprache aber hatte unterschiedliche Wirkungen: für Heinrich Mann bedeutete sie, vielleicht zu seinem Nachteil, daß die wiederholten und klaren Anspielungen auf die Konstruktion nicht fehlten, in einer Sprache zu schreiben, die sich im Grunde als viel schwieriger zu beherrschen erwies, sich kaum in eine Form pressen ließ: „Ich wünsche mir den Erfolg in Deutschland eigentlich nur des Geldes wegen, nicht um siener selbst willen, dafür ist mein Zugehörigkeitsgefühl zu diesem Volk nicht groß genug. Meine wirkliche Tragik … ist eben, daß ich deutsch schreiben muß. Welche Wirkungen versäume ich, die in Frankreich möglich gewesen wären …“ Der am 21.1.1910274 geschrieben Brief bestätigt das Unbehagen, auf die Sätze verzichten zu müssen, die während der Jugend die Hälfte seines Lebens ausmachten. Auch Leopardi hatte, während er seine Prosa „der verkürzten Leichtigkeit, seiner unbefangenen Geringschätzung und Korrektheit“, wie De Robertis sie definiert, im Zibaldone beschrieben: „Solange ich nichts anderes las als französische Autoren, die Gewöhnung schien natürlich, schien es mir, als ob sich mein natürlicher Stil nur dort finden ließe und mich meine Neigung dorthin führe.“. [Zitat nicht nachgeprüft, Anmerk. d. Übers.]. Dieselben von De Robertis definierten Qualitäten der französisierenden Tendenz lassen sich ebenso im Stil Heinrich Manns feststellen.
Der Briefwechsel zwischen Heinrich Mann und seiner Mutter erfolgte häufig in Französisch und ein Großteil der Notizen und Anmerkungen zu den zukünftigen Romanen sind ebenfalls in Französisch.275 Diese metaphysische Zweisprachigkeit, eine selbstgewählte Zweisprachigkeit, hatte derart tiefe Wurzeln erreicht, daß sie in den Jahren des amerikanischen Exils sogar den unvermeidlichen rein praktischen Einfluß des Englischen erstickte. Der Atem ist solch ein zweisprachiger Roman der zwiefachen Seiten, mit einem ausgesprochen klaren und präsenten Wechsel zwischen Wirklichkeit und Erinnerung, um die „Tragik“ zu reflektieren, von der der Autor bereits 1910 gesprochen hatte. Das Italienische hingegen hatte niemals die Intensität besessen, sich gefühlsmäßig gegen das Französisch Montaignes, Voltaires und Flauberts zu behaupten, wenn nicht in sehr kurzlebigen und kaum wahrnehmbaren Ausnahmefällen: Linguistisch hat das Italienische im Roman der „Bildung“ Heinrich Manns seinen größten Anteil: „Dieser Wohllaut, klar und sanft, die äußerste menschliche Distinktion“: eine menschliche, aber nicht literarische Distinktion. Diese Unterscheidung scheint fast die beiden romanischen Sprachen zu trennen und vielleicht auch die beiden Literaturen im Geschmack des Autors, obwohl er sie nicht vergleicht, sondern versucht, ihre Charakteristika zu entdecken, um sie in seinen technischen und sentimentalen Bedürfnisse umzuformen.276 „Man muß Geduld haben“ - schrieb Heinrich Mann an K. Pinkus 1939 aus Nizza - „waren die in jedem zweiten Satz von den Italienern wiederholten Worte, während der begrenzten und dennoch langen Zeitperioden die ich unter ihnen verbrachte. Seither ist die Tugend, die ich mir verordnet habe, die Geduld, ich kann schon fast nicht mehr anders.“ [Zitat nicht nachgeprüft, Anmerk. d. Übers.].
Daß Heinrich Mann ohne Schwierigkeiten italienisch gesprochen und angewendet hatte - ganz anders als der Bruder Thomas277 -, besonders während der langen Aufenthalte in Italien, kann aus zahlreichen Details abgeleitet werden: auch wenn sie fast nie die instrumentalisierte Übung überschreiten, hatten sie in den ersten Jahren eine formative Funktion, „damit sich das Talent eröffne“, sogar noch während der Arbeit an den Göttinnen. Der „Nachlaß“ versetzt uns in die Lage, das Maß der Bedeutung der Sprache zu klären, allerdings auf andere Art, als man es aus der Lektüre der Werke rekonstruieren kann. Es existieren keine Werkskizzen, noch nicht einmal kurze Novellen oder Übersetzungen von Teilen anderer Arbeiten in italienischer Sprache: während Heinrich Mann manchmal einige zunächst in Deutsch verfaßte Seiten ins Französische übersetzte oder umgekehrt278, oder Gedanken und Bilder rasch in dieser Sprache festhielt, beschränkte er sich darauf nur einige typische Phrasen, Zitate, Fetzen, Adressen und Hinweise in Italienisch festzuhalten. Einige Schwächen der doppelten Konsonanten und manch unsicherer Diphtong, th oder ph anstelle des einfachen t oder f, verraten die letzten orthographischen Unsicherheiten. Ein Übersetzungsversuch am Rand eines italienischen Textes ist nur auf einem einzigen Blatt mit dem Gedicht Stanchezza von Ada Negri erhalten und betrifft nur die ersten beiden Strophen. Das Gedicht wurde nicht aus einer italienischen Anthologie oder einem Gedichtband Ada Negris ausgewählt, sondern war nur ein poetischer Einschub in einer kleinen Zeitschrift, „Pro Pace“, die Heinrich Mann zwischen dem Material für Die Göttinnen gesammelt hatte, aber nicht direkt verwendete:
Fossa, la carne è stanca e vuol dormire
entro la terra tua gelida e sorda.
Passò tuonando e ruinando l’orda
del nemico. - Non resta che morire.
L’anima crocefissa alza il suo grido
ultimo, in vano, a Dio che non la sente.
La carne è stanca del suo sangue ardente.
Fossa, se per me t’apri, io ti sorrido.
O Grab, das Fleisch ist müde und will schlagen
In deiner Erde, der eiskalten, tauben:
Donnernd und Trümmer säend ging die Herde
des Feindes vorbei. - Nun bleibt nichts mehr, als sterben.
Vom Kreuze stößt die Seele ihren Schrei,
zu Gott hinauf, den letzten, Gott bleibt taub -
Das Fleisch ist müde seines brennenden Bluts.
Willst Du mir aufgehen, Grab, will ich dir lächeln.279
Die Handschrift hat eine einzige Korrektur, „brennenden“ und weist auf die Flüssigkeit, mit der sich die Verse aneinanderreihen und die, im übrigen, getreu die Bilder auflöst, die eine andere Wiedergabe ohne Zweifel noch kitschiger gemacht hätte. Aber vielleicht hat Ada Negris Gedicht Heinrich Mann gefallen wegen dieses „das Fleisch ist müde“, wegen des Echos für einen aufmerksamen Lesers des Symbolisten Mallarmés Brise marine, „la chair est triste, helas!“.
Diese Übersetzung bleibt allerdings ein isoliertes Beispiel und ist nicht Teil einer breiteren oder nachgebesserten Arbeit. Dem Italienischen scheint die Sphäre der instinktiven Direktheit vorbehalten zu sein, die sich später in das nährende Substrat viel gelobter stilistischer Kühnheiten verwandelt. Für einen bereits literarisch und kritisch aktiven Schriftsteller (die zweite Hälfte des Jahres 1896 war er noch Redakteur der nationalistischen Zeitschrift „Das XX. Jahrhundert“) erstaunt die Enthaltung von einer natürlichen Vermittlerfunktion zwischen zwei Kulturen oder Literaturen, die ihm für Frankreich und seine Literatur so natürlich schien. Aufgrund einer Entscheidung, sie scheint offensichtlich, hat Heinrich Mann in den ersten Jahren in Italien nie als Filter von Ideen oder Lebensweisen zwischen Italien und Deutschland fungiert. Weder in dieser Zeit noch später hat er Essays über italienische Schriftsteller geschrieben, war weder freundschaftlich noch gemeinsamer Interessen wegen mit einer Persönlichkeit der italienischen literarischen Welt verbunden.280 Dennoch hatte er eine Art der Rezeption und Empfänglichkeit für diese Verschiedenheiten, deren Sprache er verborgen und anonym verfolgte. In den frühen Novellen, besonders in Das Wunderbare, existiert das Problem der Kommunikation noch nicht. Die Figuren sind in die Irrealität der italienienischen Villa eingetaucht, zwischen Lorrain und Böcklin, und verstehen und sprechen alle für eine internationale „Stimmung“ des Märchens notwendigen Sprachen. Dann erscheint der traditionelle Gebrauch des Deutschen, Namen und Titel zu bewahren, die, obwohl übersetzbar, zwar nicht den Wert verändern würden, aber die Art und Weise der an sie gebundenen Assoziationen, die im Original belassen eine verdoppelt evokative Kraft ausüben und als Signale eines Ambientes dienen: Contessina, Cavaliere, Villa etc. Heinrich Mann verzichtet allerdings auf jegliche Einführung eines lokal-ethnologischen Charakters; so auch in der Novelle Rocca de’Fichi, deren Titel an die Wiederholung parodistischer Töne denken ließe. Das ganze allusive Gewicht verlagert sich auf die Eigennamen, die später immer häufiger als präzise Indikatoren des italienischen milieu dienen, auch wenn sie sicherlich nicht von allen deutschen Lesern interpretiert werden können. Es fehlen jedoch die Methoden und Mittel der Romantik, d.h. die Seiten der italienischen Erzählungen mit kurzen verständlichen Phrasen oder Worten zu schmücken, die dann mit größter Sorgfalt und Treue erklärt oder übersetzt werden. Er übernimmt noch nicht einmal die Gewohnheit französischer Autoren - obwohl verläßliche Modelle der Nebenteile und immer informative „Reservoirs“ - zu erklären, worin die mit anderem Namen bezeichnete Sache besteht, woraus sie gemacht sei und warum sie so heiße. Nachdem er von den Brüdern Goncourt die Beschreibung der Karnevalskostüme übernommen hatte, verzichtet Heinrich Mann jedesmal auf die Beschreibung der von ihm benutzten Worte, die für jeden Nicht-Venenzianer oder Italiener unverständlich bleiben. Die Notizen und das Material zu den Göttinnen beinhalten hingegen die Zeichen der exakten Informationen, die mit großer Sorgfalt gesammelt wurden. In dieser Zeit der Sorge, für ein deutsches Publikum zu schreiben von dem er ein Urteil und die Gunst erhoffte, gibt Heinrich Mann häufig dem Drang nach, in der letzten Korrektur einer „revesionistischen“ Tendenz zu folgen: viele Worte, Fragmente oder Dialoge, die ursprünglich in Italienisch notiert waren, werden auf akademische Weise ins kostbare und noch gekräuselte Deutsch übersetzt, das teilweise noch in den Göttinnen benutzt wurde. Technisch war das bereits ein Wandel gegenüber dem Roman der Übung, wie Heinrich Mann seine erzählerische „Erstlingsarbeit“ bezeichnet: Im Schlaraffenland. „[…] Und dies kann nur geschehen mittels forca, farina e feste. […] Er hat aber recht, erklärte jemand, der offenbar italienisch verstand: Geben wir dem Volke nicht Brot und Feste, so kommen wir selbst früher oder später an den Galgen“. „Panem et circenses“ wäre für die Berliner Gesellschaft des Schlaraffenlandes zu unverständlich gewesen, die bereits ein Diskussionsthema hat, wenn man einer Schauspielerin „Brava“ zuruft: „Die Umstehenden stutzten; das Gerücht verbreitete sich, es sei das Feinste, brava zu rufen, mit einem a anstatt des o.“ [Im Schlaraffenland, S. 223, Anmerk. d. Übers.]
Noch fehlen in diesem Roman des Anfangs die folkloristischen Hinweise, die am besten in die Erzählung von der Italien-Reise Claire Pimbuschs, der neurotischen reichen Freundin der Türkheimers, gepaßt hätten. Sie ist bereit, die italienische Betonung zu imitieren, obwohl sie noch nicht einmal das deutsche „h“ aussprechen kann: „‘aben Sie Gold?“ Mit völlig erneuerten Mittel entschließt sich Heinrich Mann, die Details seiner meridionalen Landschaften zu konstruieren: „Die lebhafte Welt des Südens geschaffen aus Gesten, der pathetische Redundanz seiner Sprache, seiner melodische und einschmeichelnde Süße, imitiert Heinrich Mann mit Leichtigkeit, mit der gleichen Leichtigkeit, die auf die leuchtende, brilliante Rhetorik der pointe der Franzosen zutrifft“, hatte W. Schröder281 erkannt, einer der intelligentesten „Lobredner“ des Schriftstellers in den 30er Jahren, der allerdings nicht versucht hat, die Häufigkeit oder das Zutreffende seiner Intuition zu belegen. Es war leicht, sich bei einem „stürmischen Impressionismus“ aufzuhalten, wie es der Autor selbst definiert hat, in dem die Beschreibung der Gesten und Stimmen genauso wichtig war wie das Motiv, das sie hervorgebracht hatte. K. Schröter enthüllt das absolute Fehlen einer kritischen Überprüfung des Stils und der Sprache Heinrich Manns und zitiert die kurzen Andeutungen, die sich am Anfang des Aufsatzes von Ihring befinden.
Hermann Kesten hingegen vernachlässigt in seinem Buch Meine Freunde, die Poeten nicht die Sprache Heinrich Manns, im Gegensatz zu fast allen Interpratoren und Kritiker, sondern widmet ihm ein ganzes Kapitel: „Kühn wie der Stil ist die Sprache Heinrich Manns. Seit Anbeginn erneuerte er die sie, machte sie bekannter und bereichterte die deutsche Sprache. Er, der lange Zeit in Italien und Frankreich gelebt hat, hat zunächst die Effekte des italienischen und französischen Romans vermittelt, dann durch die französische Sprache auf die deutsche Sprache und Literatur gewirkt. Er erneuerte einige lateinische Tendenzen in der deutschen Prosa. Und bewegt sich nicht gezwungen, wenn er die deutsche Sprache benutzt. […] Sicher, das Deutsche ist eine Sprache, die viele Freiheiten läßt. Er aber wagte neue, kühne Ausdrücke anderer Sprachen. Er bereicherte sich und erblühte in einer linguistisch fremden Heimat. Die Übersetzung der Bibel, Rabelais’, Homers, Horaz und Ciceros machten Epoche in deutscher Sprache. Heinrich Mann, der an Gallizismen nicht gespart hat, wollte neue espressive Möglichkeiten schaffen …“282
Solange das zu „vermittelnde“ italienische Ambiente in der Erzählung noch altertümlivh oder historisch ist - wie das der Novellen Ginevra degli Amieri, Fulvia, Auferstehung und andere - oder auch aristokratisch-international wie in den Göttinnen, genügen die Paraphrasierungen berühmter Verse, als einfache Einschübe oder Bemerkungen eingefügt, oder die Collage optisch-künstlerischer Zitate, um das Ambiente präzise anzudeuten. Das (anonyme) Zitat Petrarchas in Minerva war die Bestätigung der Authentizität der Ereignisse, die nirgendwo anders stattfinden konnten als in Italien. Das ästhetische Hilfsmittel der „Stilmischung“ wird hingegen selten angewendet. Außer in den Teilen, in denen es unbedingt notwendig ist, die völlige soziale Verschiedenheit der Figuren zu den von Heinrich Mann bis dato präsentierten darzustellen, greift er auf das Register eines anderen Stils zurück. Oder er gebraucht den Dialekt, um nationale oder internationale Charakteristika darzustellen - z. B. die bayrische Episode in Zwischen den Rassen - mit der gleichen herzhaften Eindringlichkeit, die Herrn Alois Permaneder charakterisiert.283
Nachdem der Bruch zwischen den beiden Methoden, Italien zu empfinden und zu hören, - das Venedig der Göttinnen und die römische Campagna der Episoden und Novellen - vollzogen ist, verlangt die Wahl des volkstümlichen Ambientes der Piazza im Roman der kleinen italienischen Stadt andersgeartete Zeichen, völlig entgegengesetzt zu den versteckten und übersetzten Versen Foscolos und Ada Negris. Eine leichter zugängliche Quelle in einem Roman am Anfang des Jahrhunderts, der von bescheidenen und armen Leuten erzählt, die das Abenteuer der Politik und der Kunst lebt, wäre der sentenziöse zweisprachige Charakter gewesen. Verga hat die tiefschürfendsten Töne seiner Choralität gerade im dauerhaften, fast nie oder nur ansatzweise übersetzten sizilianisch-italienischen Singsang der traurigen und weisen Sprichworte gefunden, in der Zeichenkette einer unübersetzbaren Gesellschaft, wenn nicht sogar in den linguistischen Emblemen, unbestechlich im Kontext, geheime, von der Syntax unberührte Chiffren.284 Auch die Ironie der Romantiker konnte auf den Gebrauch der italienischen Sprichwörter im Text verzichten, denen allerdings sofort eine offizielle Übersetzung, oder gar das entsprechende deutsche Sprichwort folgt. Ein Beispiel, das einen einfachen Vergleich ermöglicht, ist die Novelle Signor Formica von E.T.A. Hoffmann, ein Autor, der von Heinrich Mann immer und immer wieder gelesen wurde.285
Es wäre einfach und geradezu klassisch gewesen, den Text dieses Romans mit diesen sicheren und belegten Referenzzeichen zu versehen, eingefügt aus den soliden und bekanntesten Interjektionen. Aber die Bosheit des „Eulenspiegels“, die Bertaux bei H. Mann286 wiedererkannte, empfielt andere Mittel; die Fremdsprache öffnet den Weg für die Invention, spornt die Phantasie an und erlaubt es ihr nicht mehr, auf neue Bilder und neue Worten zu verzichten. Die Infiltration von Ideen und eigenen Ausdrücken eines fremden kulturellen Gebietes hat die Kraft, neue Bilder zu kreieren, in dem sie Gemeinplätze oder ungewöhnliche psychologische Situationen transportiert und sich deshalb dieser Fremdsprache bedient. Die Dialoge der kleinen Stadt sind ein ständiges Beispiel dieser Übersetzungen, die über hunderte von Seiten hinweg andauern.
Einige Situationen können sogar unbedeutend werden, wenn sie nicht auf italienische Art gelesen werden, d.h. wenn das richtige Verhältnis zwischen assoziativer Stimulanz und assoziativer Entsprechung nicht existiert. Wie in einem Beispiel, in dem Situationen vereinigt werden, die nichts bedeutsames an sich haben:
„‘Das ist doch schrecklich, immer solche Augen einer Unsichtbaren auf sich zu haben’, wiederholte Nello Gennari, den Blick gesenkt. Der Bariton nahm seine Uhrkette in die Hand.
‘Ich sage nicht, daß es eine große Annehmlichkeit ist.’
‘Was gibt’s? Oh, was habt ihr?’ und Italia hatte den Handrücken am Munde.
‘Du hast Hornbreloques, Gaddi?’ fragte der alte Tenor.
‘Man sollte sie nie ablegen.’
Rasch und ohne sich umzuwenden, spreizte er zwei Finger gegen das Haus Mancafede.“287
Nach der Zeit der ersten literarischen Übungen, die allerdings nicht gerade kurz war, scheint sich der Stil Heinrich Manns nicht den französischen Modellen angepaßt zu haben, sondern folgt fast den Vorschriften eines Malers, den er bewunderte und der wiederum sein Bewunderer war: Max Liebermann: „Zeichnen ist weglassen.“ In der Prosa der letzten Jahre, zwingt die Bilderdichte die Sprache zu eine immer exemplarischer werdenden Essentialität, weshalb der Leser in seiner Beziehung zum Text, eine seltene und gefährliche Eigenschaft besitzen mußte: die der „integrierenden“ Interpretation.288 Das „Weglassen“ war das Ergebnis eines langen Lebens und viel geübter Nützlichkeit; der persönlichen Freiheit wird ein großer Raum zugestanden und nicht, wie zu Anfang, dazu gezwungen, verbindlichen und schwierigen Reisen zu folgen. Aber die Gewohnheit, Signale zu benutzen, die nur Eingeweihten verständlich sind, kann sich wiederum genau dann in geheime Chiffren verwandeln, wenn man als Leser genaue, allgemeinverständliche Hinweise benötigt, bei den Charakteristika eines Ambientes zum Beispiel. „Der Bariton nahm seine Uhrkette in die Hand“: der normale, deutsche Leser, und vielleicht auch der Kritiker, überliest diesen Satz und somit auch die beschriebene Geste: in Deutsch übersetzt ist die Angst vor dem „bösen Blick“ vielleicht das eventuelle Berühren oder das Klopfen der Knöchel auf Holz; die magnetische Entladung, oder die Symbole, die in diesem Fall an der Uhrkette hängen, ist fähig, den bösen Blick zu absorbieren oder abzuwenden. Diese folkloristischen Elemente des italienischen Aberglaubens werden allerdings vom Leser nicht als solche erkannt. „Du hast Hornbreloques, Gaddi?“289: der gleiche Moment der Verwirrung, die Suche nach Sicherheit, ist in der Geste der Sängerin Italia ausgedrückt, die sich den Handrücken an den Mund preßt. Die Passage erreicht ihren Höhepunkt - oder ihre Unverständlichkeit - der „Italianität“ mit der letzten beschriebenen Geste: „Rasch und ohne sich umzuwenden, spreizte er zwei Finger gegen das Haus Mancafede.“ Die Finger zu spreizen bedeutet nicht, Hörner zu zeigen, das Spreizen von Zeigeringer und kleinem Finger hingegen schon. Heinrich Mann war also schon so sehr von der mediterranen Kultur erfaßt, um noch die Symbole der Kultur ausführlicher zu beschreiben. Die Grausamkeit Galileo Belottis, der im Theater den traurigen Buckligen, der an den Eingang der Ränge gelehnt steht, schlägt und anderen noch dabei hilft, kann weniger absurd erscheinen, wie zum Beispiel sein Satz:. „Bucklig sind sie und bucklig bleiben Sie“, wenn man an die andersartige Bedeutung der Figur eines Buckligen in der Welt des Aberglaubens denkt. In der deutschen Welt hat der Bucklige weder eine negative noch eine positive Bedeutung: der Text ist damit entmagnetisiert.
Die Wege der stilistischen Erfindungen Heinrich Manns folgen zwei Richtungen: der Metapher und den Italianismen. Es sind ganze „Metapherfelder“290, die in einen Kontext eingebettet werden, der nicht um die Präsenz aller verschlossen signifikanten Elemente erleichtert ist, die allerdings limitrophe Bilderfelder anreizen und anziehen können. Wenn sich der Autor allgemein bekannter und in einem bestimmten Ambiente wichtiger Metaphern bedient, und sie in ein völlig anderes Ambiente verschiebt, so werden diese durch die unvermeidlichen Interpretationsunterschieden erneuert, die gerade durch eine andere Übersetzung hervorgerufen wird. Eine der gemeinhin bekanntesten Metaphern, in einem weiten europäischen Raum verständlich, die die eheliche Untreue begleitet, ist die der Hörner. In der kleinen Stadt, so derart öffentlich und extrovertiert, erlangt die Sexualprotzerei der im Vordergrund stehenden Männer geradezu die Form einer natürlichen Manie: „Er verdient es wie kein zweiter, dieser Ignorant, dieser Unverschämte! Ah, setze noch einmal dein höhnisches Lächeln auf, Freund - und aus deiner Stirn sieht man es indessen keimen“291 Die Entsprechung, d.h. das Verständnis, ist an den ersten Satz gelehnt, der eine grammatikalische und fast phonetische Treue mit dem unterschwelligen „Hörner aufsetzen“ hat, während der zweite Satz, „aus der Stirn keimen“, in Deutsch unverständlich ist, weil das Verb nicht in Verbindung zu „Hörner“ gebracht werden kann, sondern stattdessen das Bild des italienischen Satzes „auf der Stirn keimen“ übersetzt; „keimen“ ist ursprünglich an die pflanzliche Sphäre gebunden.292 Nicht weniger gewöhnlich ist die zweite Metapher: „[…] krank oder gesund, aber die Bekanntschaft Ihrer Frau haben wir gemacht. Mein Kompliment, Doktor, ein Schönes Stück Frau […]“, die wortgetreu „un bel pezzo di donna“ übersetzt, eine sehr italienische Bezeichnung, die keinem eifersüchtigen Mann Freude bereiten kann, wenn sie an seine Ehefrau gerichtet ist. Heinrich Mann legt sie dem Pächter Galileo Belotti, dem großmäuligen und blutrünstigen Bruder des Advokaten, in den Mund, um den Arzt zu ärgern, der von der Idee besessen ist, andere Männer könnten sich in seiner Abwesenheit an seine Frau heranmachen.
Es ist der Stil humilis, der niedrige alltägliche Stil, der die Piazza übersetzen will und eine ausgesprochen „gegenständliche“ Wahl der Metaphern verlangt. In den berühmten Winkeln der Kleinen Stadt, zwischen Dom, Piazza und Café, treffen sich die Anhänger der beiden Parteien - die Konservativen und die Fortschrittlichen - zu einer außerordentlich brutalen Auseinandersetzungen ihrer Anführer: „Sie haben mir meine Fabrik wegeskamotiert, sagte er zum Salvatori und klopfte ihn vor den Bauch; aber hier handelt es sich um die Freiheit, das ist ein anderes Paar Ärmel.“ Für den, der noch nicht davon überzeugt ist, daß es sich bei dem Klaps auf den Bauch um eine häufige Unterstreichung des Gesagten während vieler Unterhaltungen auf italienischen Plätzen handelt, wird „ein anderes Paar Ärmel“, eine „freche Ausländerei“ hinzugefügt. „Ein anderes Paar Ärmel“, eine völlig unbekannte Metapher in ihrer italienischen Bedeutung, wird von Heinrich Mann häufig dazu benutzt, Diskurse zu verstärken, wenn eine neue Behauptung im Chor der Streitenden Verteidung braucht.
Die kleinbürgerlichen Damen zu unterhalten ist die Aufgabe der Künstler, die angereist sind, um Die Arme Tonietta aufzuführen, ein Handwerk für Hunde: „Ja, wir sind da, sie lustig zu machen. Es ist ein Handwerk für Hunde“. Während in Deutsch die Metapher „ein Hundeleben“ exisitert und verstanden wird, besitzt „Handwerk für Hunde“ nicht die gleiche Assoziationskraft, um die in der italienischen Metapher ausgedrückte Idee des „Handwerks für Hunde“ zu vertreten. „Eine schöne Frau - wisperte der Advokat dem Reisenden ins Ohr - vom Stillsitzen soll sie junonische Formen bekommen haben“: „junonische Formen“ ist in Deutsch nicht üblich, und die Befriedigung, die der folgende Satz ausdrückt: „Seine Hände, die diese Formen nachbilden wollte, ließ er rasch wieder sinken […]“, hängt ganz vom psychologischen Gewicht des Adjektivs und des Substantivs ab, im übrigen im Italienischen an die Epoche gebunden und an den Geschmack des 19. Jahrhunderts.293
Eine weitere Sphäre, wenn nicht gänzlich unbekannt, so doch fremd für die deutsche Sensibiltät, ist das Verhältnis, gemischt aus Respekt und zur Schau getragener spöttischer Zutraulichkeit, zwischen Volk und Klerus, dieser unersetzlichen Klasse der Priester, Mönche und Nonnen, die einen bescheidenen Rang in der Geschichte der deutschen Literatur einnimmt. Heinrich Mann konnte nicht darauf verzichten, weil er gerade das Ambiente der kleinen Stadt wählte, die zwei Konvente besitzt, auch diese Atmosphäre zu übersetzen: und folglich „die heiligen Unterröcke“, jedes Mal, wenn die Fortschrittler des Dorfes von den Nonnen sprechen, das wunderbar zu den „heiligen Frauen“ paßt, die von den Garibaldinern in die Flucht geschlagen wurden; dann „Frauen, die es mit den Priestern haben“. Wie ein refrain taucht es in den Dialogen immer wieder auf.
Eine Art merkwürdiger Unbehaglichkeit befällt den italienischen Leser der Kleinen Stadt, ein leichte Unwohlsein vergleichbar mit dem Sehen eines italienischen, deutsch synchronisierten Films: die Bilder sind vertraut, verständlich interpretierbar, der Ton hingegen macht die Unstimmigkeit der Transskription deutlich. Es ist eine Art seltener Irritation: die bekanntere ensteht normalerweise aus dem Gegenteil, aus der Deformation der Bilder. Bei der ersten Lektüre des Buches gelingt es noch nicht, die Kontinuität zu definieren, später findet man sich in einem Netz von Hinweisen gefangen, in einem Zeichenfeld von Worten, die zu anderem dienen, aber vom ursprünglichen Zeichen nur noch die äußere Form haben; sie sind, gezwungenermaßen, ihrer magnetischen Assoziationskraft entleert, die sich in einem Feld entladen hat, das von anderen Zentren abhängig ist.294 Die in den deutschen Diskurs eingefügten italienischen Worte werden darin erdrückt und haben im besten Falle den Anschein von „Unbeholfenheit“ oder Humor, der sich im Modell, oder auch nicht, wiederfindet oder auch von ganz anderer Art als dem „nationalisierten“; „Buffonen“ oder auch „Buffone“, ein häufiger Ausruf in den Dialogen des Romans, kann, wenn überhaupt, auf „buffo“ zurückgeführt werden, das Wort, das in Deutsch noch immer den Sänger der Komischen Oper bezeichnet, also - im Zusammenhang - auf eine theatralische Komik. Die Feinde des Advokaten benutzen diesen Ausdruck allerdings in seiner typisch italienischen Bedeutung, beleidigend295, wie sie auch vom Übersetzer Heinrich Mann beabsichtigt war. „Gute Nacht“ oder „Buona notte“, häufig im Sinne von „wer nicht will, der hatte schon“ oder „Gute Nacht, Schlafmütze“ gebraucht, taucht häufig am Ende von schlagfertigen Wortwechseln auf und können daher im traditionellen Sinne interpretiert werden.
Die Einflüsse von Italianismen nehmen verschiedene Formen an: von einfachen absolut italienischen Ausrufen „Beim Bacchus“ (Perbacco) oder „Was Teufel“ (Che diavolo) anstelle der korrekten deutschen Exklamation „Zum Teufel“ bis zu Formen wie „Welch ein Typus“ für „Che tipo“, was im Deutschen grammatikalisch ungerechtfertigt neben dem gewohnten „Was für eine Type“, „Was für ein Typ“ steht oder auch „Fort, Beine“, um unser „A gambe“ zu übersetzen, das auf Deutsch unmöglich in so verkürzter Form ausgedrückt werden kann. Die Reihe der übersetzten italienischen Wendungen ist lang; vor allem, nachdem sie einmal ausgewählt sind, wiederholen sie sich zwei oder drei Mal: „Man muß Geduld haben“ wird zahllos eingefügt: „Was wollen Sie, man muß Geduld haben“ wiederholten bereits die Bauern in Zwischen den Rassen. „‘Meinen Respekt dem Reverendo’, wissen Sie - sagte ihm der Gevatter Achille noch, und die anderen riefen nach: ‘Auch den meinen’“ Dieser Satz klingt im deutschen Text so fehl am Platz, wo das gebräuchliche „Empfehlungen“ stehen müßte. Das ähnelt all den „Sie werden bedient werden, Er wird bedient werden“ oder den wiederholten „Ihr Diener“, die in derartigen Konstruktionen der Höflichkeitsformen nicht gebräuchlich sind und die die Antworten der Kellner und Untergebenen der italienischen Romane charakterisieren. Dieser Satz war übrigens ein erster Versuch der Italianisierung Heinrich Manns: man findet ihn bereits in den Göttinnen: „Die Frau Herzogin wird bedient werden, riefen sie ihr entgegen nach jedem ihrer Worte, unzählige Male und von allen Seiten, und sie sprangen und verrenkten sich dabei“ (S. 543 oder S. 51, Venus). Die spöttische Dienstbereitschaft der Neapolitaner konnte nicht in Formeln preußischer Knochigkeit übersetzt werden und die Kohärenz des Stils zum Gebrauch in Korrespondenz mit der Situation oder der Figur erlaubte die Kontamination italienisch-deutscher Formen. Für diese Technik, einzigartig aufgrund ihrer Kontinuität und die Zahl der Verzweigungen296, konnte Heinrich Mann die Beispiele nicht übernehmen, die der europäische Roman des „großen“ 19. Jahrhunderts bot: auch Henry James bediente sich einiger und sicherer gebrauchter Termini (casa, portone, blacone, piazetta, piano nobile), um R. Hudsons Rom „italienisch“ zu machen; den Schriftstellern jeglicher Nationalität genügten einige Einfügungen absoluter Superlative in die Dialoge, um die Figur florentinisch oder römisch erscheinen zu lassen, und die Adjektive waren meist beschränkt auf bellissimo, benissimo, simpaticissimo, meraviglioso, grandissimo. Doch Heinrich Mann beschränkte sich nicht auf diese linguistischen Abziehbilder - die auch Stendhal hin und wieder verwendete -, so wie er sich nicht damit begnügte, die kanonischen Metaphern zu verwenden oder neue daraus zu entwicklen, damit sich die Bewohner der Kleinen Stadt daran bedienen konnten: er respektierte die Realität oder hat die Anlehnung daran akzeptiert, damit seine Geschichte eines Volkes, das die Demokratie entdeckt, glaubhafter würde. „Heinrichs Bestes“ hatte Thomas gesagt; „begeisterte Äußerungen“: sicher ein Roman für eine leichte Lektüre verglichen mit den letzten Werken, aber nicht so leicht, um jeden Zweifel auszuschließen, daß er auch - und immer - bis in die Details verstanden würde.
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