Rechtskunde einführung in das strafrecht der bundesrepublik deutschland anhand von tötungsdelikten


Skizzierter Gang eines Strafverfahrens



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2. Skizzierter Gang eines Strafverfahrens




2.1 Überblick

1.) Vorverfahren/Ermittlungsverfahren

Ein Ermittlungsverfahren beginnt, ausgelöst durch eine Anzeige oder die aufgefundene Spur eines möglicherweise begangenen Verbrechens, durch das Anstellen von Ermittlungen gegen einen namentlich bekannten Be­schul­dig­ten/"Bekanntsache" oder (wenigstens zunächst) gegen "Unbekannt" meistens durch oft kriminalistisch untermauerte Vorarbeit der Polizei, aber unter der Regie der StA, die Ermittlungsanweisungen erteilen kann.

Wie aufwendig solche Ermittlungen sein können und trotzdem geführt werden, macht ein in SPIEGEL ONLINE vom 21.10.06 berichteter Fall deutlich, an dem Scotland Yard arbeitet:

WISSENSCHAFT IM MORDFALL

Adam - niedergemetzelt für ein blutiges Ritual


Es begann mit dem Torso einer mit orangeroten Shorts bekleideten blutleeren Kinderleiche ohne Kopf, Arme, Beine mitten in London, die ein Barmann am 21. September 2001 auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle auf Höhe der Tower-Bridge in der Themse treibend gesehen hatte: Mehr hatte Scotland Yard nicht, als die Ermittlungen im Mordfall Adam begannen.

Es wurden die aufwendigsten Mordermittlungen seit Beginn der Aufzeichnungen von Scotland Yard, und es ist aktuell einer der grausigsten Mordfälle der Polizeibehörde. Bis heute sind Arme, Beine und Kopf des Kindes verschwunden. Britische Medien sprachen nur vom "Torso Boy", die Ermittler sagen der Pietät halber "Adam" - der wahre Name des etwa siebenjährigen Jungen ist ihnen aber immer noch ein Rätsel.

Dass sie in dem Fall inzwischen überhaupt vorankommen, verdanken die Fahnder modernster Wissenschaft. Die Polizisten bedienten sich einer Mischung aus Geologie und Genetik, Ernährungsforschung und klassischer Forensik, wie sie bis dahin noch nie in der Polizeiarbeit eingesetzt wurde.

Obwohl die Ermittler weder Tatwaffe noch Motiv kennen und kein Indiz für die Identität des Jungen haben, können sie mittlerweile dank der Forscher zentrale Fragen beantworten: Wo wuchs das Kind auf? Wovon ernährte es sich hauptsächlich? Was wurde ihm vor dem Mord verabreicht? Die Erkenntnisse der Wissenschaft liefern der Polizei ein exaktes Bild von den Umständen der Tat und der Umgebung des Opfers.

Die Arbeit der Ermittler begann, wie immer, mit einer Obduktion, die knapp sechs Stunden gedauert hatte. Danach stand fest: Dem Jungen wurde zuerst der Kopf und der Hals entfernt. Der Tod trat durch den massiven Blutverlust sofort ein. Weil der Körper komplett blutleer war, konnte der Junge nicht in aufrechter Haltung gestorben sein, sondern musste zumindest waagerecht gehalten worden sein, wahrscheinlich war er kopfüber gehängt und dann wie ein Tier abgeschlachtet worden. Nach dem Tod des Jungen wurden Muskeln und Gewebe beider Arme und Beine mit einem sehr scharfen Messer oder Skalpell zerschnitten. Die Knochen sind dann wohl mit einem schweren Gegenstand wie einem Beil oder einer Machete durchtrennt worden, denn die Knochenenden sind zertrümmert. Die Art der Schlachtung ließ auf einige Fachkenntnisse schließen.

Im ersten ersten Obduktionsbericht wurde festgehalten, dass Hautfarbe und Körpergröße auf eine afrikanisch-karibische oder asiatische Herkunft schließen lassen. Struktur und Größe der Knochen zeigte den Pathologen, dass der Junge eine gute, aber außereuropäische Ernährung genossen haben muss. In den Lungen fanden sich Spuren bestimmter Gräser und Kulturpflanzen, die im September nur in Nordwesteuropa vorkommen. Der Rückschluss aus diesem Befund: Der Junge muss also noch gelebt haben, als er in Großbritannien war.

Die Leiche lag zwei bis fünf Tage im Wasser. Spuren eines Sexualverbrechens konnten nicht gefunden werden, im Muskelgewebe aber winzige Spuren von Hustensaft. Der Magen enthielt keine Speisereste und kaum Flüssigkeit. Daraus schlossen die Pathologen, dass sich jemand in London um den Jungen gekümmert, ihm Medizin verabreicht haben müsse. Aber da keine Speisereste im Magen gefunden werden konnten, musste die Person, die sich selbst um die medizinische Versorgung des Jungen gekümmert hatte, ihn bewusst hungern oder fasten gelassen haben. Warum?
Die Polizei sucht alle Vermisstendateien durch und schreibt jede Schule, jeden Arzt an, um die Identität des Opfers zu klären. Alles erfolglos.

Vier Monate nach dem Leichenfund, im Januar 2002, sind die konventionellen Verfahren der Forensik ausgeschöpft. Man hatte nur feststellen können, dass der Junge nicht in Europa aufgewachsen war, konnten aber nicht sagen, ob seine Familie aus Asien, der Karibik, Afrika oder einem anderen Ort der Welt stammte.

Scotland Yard ließ die 1,5 Millionen Einträge in der nationalen Gendatenbank durchsuchen. Die Recherche führte zu Ähnlichkeiten mit 34 Männern und 11 Frauen, ohne dass die Herkunft des Jungen dadurch geklärt werden konnte.

Nach der Untersuchung der hochvariablen HVR-Regionen der mitochondrialen DNA der Kinderleiche - eine DNA-Sequenz, die nur über die jeweilige Mutter an ihre Kinder weitergegeben wird und über deren Bestimmung und Rückverfolgung Wissenschaftler festgestellt haben, dass das Menschengeschlecht sich auf nur sieben Urmütter zurückführen lässt -, ergibt ein Vergleich der Regionen HVR1 und HVR2, dass der Mitochondrientyp des Jungen in Nord- und West-Afrika weit verbreitet ist. In Betracht kommen Niger und Nigeria, außerdem Senegal und Teilgebiet von Marokko, nicht aber der Süden und Osten von Afrika.

Nach einer Analyse der vom Vater an den Sohn weitergegeben Mutationen auf dem Y-Chromosom und einem Vergleich mit den von den Forschern gebildeten 18 großen Gruppen A bis R ergab sich, dass das afrikanische Kind Vorfahren der Gruppe E hatte. Das ließ den Schluss zu, dass der Junge der größten Wahrscheinlichkeitsannahme nach aus Westafrika stammen musste.

Doch Westafrika ist groß. Darum wird ein Umweltgeologe gebeten, chemische Spuren in dem Kinderskelett auszuwerten, die die Umwelt dort hinterlassen hat, weil die chemische Zusammensetzung von Knochen die geologische Beschaffenheit der Erdoberfläche und die Qualität des Wassers in der Umgebung eines Menschen widerspiegelt, denn das spezifische Isotopenverhältnis der Elemente Strontium und Neodymium erlaubt Rückschlüsse auf das geologische Alter und die Zusammensetzung von Gestein. Weil diese Elemente aus der Natur mit dem Kalzium in den Knochen reagieren, ergeben sich so Hinweise auf die Lebensumwelt eines Menschen.

Der Umweltgeologe kann drei Gesteinsformationen in Westafrika als Herkunftsregionen des Jungen eingrenzen: erstens das nigerianische Jos- oder Zentral-Plateau zweitens das Grenzgebiet von Ostnigeria und Kamerun und drittens das Gebiet, das nördlich von Ghanas Hauptstadt Accra beginnt, im Westen Togo und Benin durchzieht und sich nördlich von Nigerias alter Hauptstadt Lagos zum Yoruba-Plateau formt. Es kann sogar festgestellt werden, dass der Junge bis etwa vier Wochen vor seinem Tod in einer dieser drei Regionen gelebt haben nuss! Deshalb entschließt sich Scotland Yard, Nachforschungen vor Ort in Westafrika anzustellen. Der ermittelnde Beamte reist mit einem Team des Forensic Science Service binnen drei Wochen 17.000 Kilometer durch Nigeria. Überall, auch in entlegenen Ortschaften, wurden Boden- und Gesteinsproben entnommen, dazu Proben der Knochen wilder Tiere, die am Straßenrand als Buschfleisch verkauft werden, weil das Fleisch der Tiere Spuren im Knochenaufbau eines Menschen hinterlässt. In Leichenschauhäusern nahmen die Wissenschaftler Proben menschlicher Knochen. Jede Probe wurde geographischen Koordinaten zugeordnet. Das sollte eine Lokalisierung ermöglichen, wenn, zurückgekehrt, eine Übereinstimmung mit dem Knochenaufbau des Jungen festgestellt werden könnte.

Nach einer neuen Obduktion des Torsos wurden im Verdauungstrakt der Kinderleiche kantige Kalziumphosphat-Partikel gefunden, die als Rückstände von zerstoßenen Knochen identifiziert werden konnten. Die neuen Untersuchungen wurden so detailliert und akribisch durchgeführt, dass außerdem Spuren von Gold, zerkleinerte Tonscherben und Quarzgestein tropischer oder subtropischer Herkunft, vermutlich von einem Flussufer oder einer Sandbank, gefunden wurden. Keines der gesicherten Stücke war größer als ein Millimeter. Die Schlussfolgerung aus diesem Fund: Ein bis zwei Tage vor dem Tod muss dem geschlachteten Jungen ein Trunk verabreicht worden sein, dessen Bestandteile keinerlei Nährwert besaßen, aber wohl nicht aus Londoner Leitungswasser stammte.

Die einzige Erklärung: Der Junge muss das Opfer eines Ritualmordes geworden sein. Vor seiner Opferung habe er zunächst fasten müssen, und vor der rituellen Schlachtung sei ihm ein ritueller Trank aus der Heimat verabreicht worden. Die These der rituellen Tötung wird dadurch gestützt, dass ein Forscher herausfand, dass dem Opfer kurze Zeit vor seinem Tod ein Stück einer Calabar-Bohne von der gleichnamigen Küste in Westafrika verabreicht worden war: Schon eine halbe Bohne kann einen Erwachsenen töten; in einer kleineren Menge wird das Nervensystem gelähmt, wodurch ein Opfer bei aufrechterhaltenem vollen Bewusstsein bewegungsunfähig gemacht wird. Diese Pflanze ist in Westafrika wegen ihrer Verwendung bei Verbrechen mit okkultem Hintergrund bekannt.
Damit scheint das Motiv der Ermordung von den Ermittler auf der Grundlage der Arbeiten der vielen Forscher aus den unterschidlichsten Fachbereichen gefunden worden zu sein, ein Motiv, auf das ein Afrika-Expert schon 2002 hingewiesen hatte, der den Fall so interpretiert hatte: Der Junge sei einer westafrikanischen Meeresgöttin in einem Ritual geopfert worden, bei dem man das Blut des Kindes über eine kleine Figur oder Statue der Göttin fließen lässt und anschließend trinkt, um von der so gnädig gestimmten Göttin etwas flehentlich Ersehntes von besonderer Bedeutung zu erreichen. Die Farbe der leuchtend orangeroten Shorts habe dabei den Wunsch symbolisiert, der geliebte Junge möge wiedergeboren werden.

Zwar ist die wahre Identität des Opfers bisher noch immer unklar. Doch die Herkunft konnte auf Grund der vorliegenden Ergebnisse auf einen 150 Kilometer schmalen Korridor zwischen den Städten Benin City und Ibadan in Nigeria eingeengt werden.

Scotland Yard hat inzwischen eine Ausbildungs- und Kooperationsvereinbarung mit Kollegen in Nigeria getroffen und einen Mitarbeiter in Lagos stationiert, der dort vergleichbare Fälle studiert, Experten in dem Land befragt, Tür-zu-Tür-Befragungen durchführen lässt, die Bevölkerung um Mithilfe bitte und Zeugen aufzutreiben versucht. So hofft Scotland Yard, dass ungewöhnliche Verbrechen doch noch aufklären zu können.

Bei einer "Bekanntsache" dürfen gegen den Beschuldigten keine unerlaubten Vernehmungsmethoden angewandt werden. Auch auf eigenen Wusch des Beschuldigten hin darf kein so genannter »Lügendetektor« eingesetzt werden. Ein Polygraph ist nach einem 1998 auf Grund von mehreren wissenschaftlichen Gutachten ergangenen Urteil des BGH in Strafsachen ein "völlig ungeeignetes Beweismittel".

(Der BGH in Zivilsachen schloss sich 2003 dieser Ansicht an, als ein Vater in einem Missbrauchsfall durch ein Revisionsverfahren mittels Einsatzes eines »Lügendetektors« nachzuweisen begehrte, unschuldig zu fünf Jahren Haft verurteilt worden zu sein und daher nicht zu Schmerzensgeldzahlungen an seine Tochter verpflichtet zu sein.)
Bundesweite Beachtung fand 2003, wie vorstehend schon berichtet, der Fall des Frankfurter Vizepräsidenten der Polizei: Zu einem Zeitpunkt, als die Polizisten noch hoffen durften, das Leben eines entführten - in diesem Fall jedoch schon getöteten - Kindes noch retten zu können, ordnete der Vizepräsident die Zufügung von körperlichen Schmerzen unter Aufsicht eines Arztes an, damit der Entführer das Versteck verrate, in dem möglicherweise das entführte Kind seinem Tod entgegen sieche. Der stellvertretende Frankfurter Polizeipräsident glaubte in dieser schlimmen Zwangslage, entgegen der eindeutigen Gesetzeslage in Art. 104 I 2 Grundgesetz
Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich misshandelt werden.
und in
§ 343 StGB Aussageerpressung (1) Wer als Amtsträger, der zur Mitwirkung an

1. einem Strafverfahren ...

berufen ist, einen anderen körperlich misshandelt, gegen ihn sonst Gewalt anwendet, ihm Gewalt androht oder ihn seelisch quält, um ihn zu nötigen, in de Verfahren etwas auszusagen oder zu erklären oder dies zu unterlassen, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.

(2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren.“


einen übergesetzlichen Notstand für das Vorgehen der Polizei reklamieren zu dürfen, als er am 01.10.02 anordnete, den von ihm auf Grund des Fundes des Lösegeldes in der Wohnung des Festgenommenen als Kindermörder Eingestuften - in Anwesenheit eines Arztes(!) - durch Zufügung von Schmerzen unzulässig unter Druck zu setzen. (Wer sich dadurch nicht an das Mittelalter bis hin zu Friedrich dem Großen und an Nazi-Verhörmethoden erinnert fühlt, der muss als Pflichtlektüre das Buch von Eugen Kogon: „Der SS-Staat“, und dort die teilweise in Anwesenheit eines Arztes vorgenommenen Bestrafungsriten in Gestapo-Haft und in KZs lesen!) Aber die europäische Menschenrechtskonvention, die Antifolterkonvention, das Grundgesetz, das Strafgesetzbuch und § 136 a der Strafprozessordnung sind da völlig kompromisslos eindeutig: Sie verbieten Folter - gleich in welcher Form! Durch unzulässige Vernehmungsmethoden erlangte Aussagen unterliegen sogar einem absoluten Verwertungsverbot! Es hätte dahin kommen können, dass dem Kindermörder trotz seines (abgepressten!) Geständnisses „wegen eines von Verfassung wegen anzunehmenden Verfahrenshindernisses“ nicht der Prozess wegen des Mordes hätte gemacht werden können, da man nicht davon ausgehen kann, dass die Polizei von alleine die Kinderleiche gefunden und der Beschuldigte darum ohne Leiche nicht des Mordes hätte angeklagt werden können; man hatte nur das Lösegeld bei ihm gefunden. (Das absolute Verwertungsverbot kam dann aber nicht als Verfahrenshindernis zum Tragen, weil der Beschuldigte trotz gerichtlicher Feststellung des Verwertungsverbotes sowohl für die polizeiliche als auch die nachfolgende untersuchungsrichterliche Vernehmung auf Anraten seines Anwaltes in der Hauptverhandlung noch einmal, und dieses Mal ohne Zwang, ein Geständnis der nach seiner Darstellung angeblich unbeabsichtigten Tötung ablegte.)

Der Wille eines Beschuldigten darf nicht mit staatlichen Machtmitteln gebrochen werden. Das verbietet die in Art. 1 I GG für unverletzlich erklärte Menschenwürde. Darum bekennt sich das Deutsche Volk in Art 1 II GG „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft“. Der Bundesinnenminister kommentierte den klaren Verfassungsbruch des Vizepräsidenten der Frankfurter Polizei mit den Worten: „Man darf mit dem Gewaltmonopol des Staates kein Schindluder treiben.“

Es besteht aktueller Anlass, die Worte des Präsident des Obersten Gerichtes Israels zu zitieren, der in der Urteilsbegründung der für Israel historischen Anti-Folter-Entscheidung, mit der die zuvor gerichtlich abgesegnete, jahrelang geübte Polizeifolterpraxis verboten wurde, ausführte: „Es ist das Schicksal einer Demokratie, dass ihr nicht alle von ihren Feinden angewandten Methoden zur Verfügung stehen.“ „Wenn man das Fenster auch nur einen kleinen Spalt öffnet, wird die kalte Luft des Mittelalters die ganzen Räume füllen“, mahnte fast lyrisch der Bundestagsabgeordnete Ströbele, seines Zeichens Rechtsanwalt. Und der Strafrechtsprofessor Beulke sekundierte: „Folter und Wahrheitsserum gehören ins Arsenal der Stasi, nicht in das eines Rechtsstaates.“
Je nach Ermittlungsergebnis: Einstellung des Verfahrens, Beantragung eines Strafbefehls oder An­fertigung einer Anklageschrift und deren Einreichung bei Gericht mit der Bitte um Eröffnung des Hauptverfahrens und Anberaumung eines baldigen Termins für eine Hauptverhandlung. Hinweis auf Eilbedürftigkeit bei einer "Haftsache". Wird die Eilbedürftigkeit nicht hinreichend beachtet, kommt die Strafjustiz in Schwierigkeiten, wenn die Presse dann Fälle wie die nachfolgenden aufspießt und mit dem aufgezeigten Missstand nicht nur den Volkszorn gegen die »Sesselpupser da oben« zu schüren, sondern auch ihre Verkaufszahlen anzuheben versucht:
Nach der Freilassung eines mutmaßlichen Mörders

Krisensitzung in der Justiz

Richter sollen länger arbeiten

Hamburgs Justiz steckt schon wieder in der Klemme.

Allein im Juli mussten sechs schwerer Straftaten beschuldigte Untersuchungshäftlinge auf freien Fuß gesetzt werden. ...

Unter den mutmaßlichen Kriminellen, die das Oberlandesgericht freiließ, weil ihnen nicht rechtzeitig der Prozess gemacht wurde, ist erstmals ein des Mordes Angeklagter. ...

Wie berichtet, hatte das Oberlandesgericht in den ersten drei Monaten dieses Jahres schon zehn Gefangene aus dem Untersuchungsgefängnis entlassen, weil sie nicht innerhalb der in der Strafprozessordnung vorgeschriebenen Frist von sechs Monaten vor dem Richter standen. ...

Der spektakulärste Fall unter den jüngsten unprogrammgemäßen Haftentlassungen ist der eines Tankstellen-Räubers, der auf der Flucht im November vorigen Jahres einen Detektiv mit Kopfschüssen getötet haben soll. Er ist des Mordes und der räuberischen Erpressung angeklagt. Gemeinsam mit einem mutmaßlichen Mittäter kam er am 24. Juli frei. …


Die Hamburger Justiz ließ nach diesem spektakulären Fall verlauten, dass solche Haftentlassungen nicht nur Hamburg beträfen, sondern ein bundesweites Problem seien: Drogen-Kriminalität und andere Formen des organisierten Verbrechens mach­ten die Strafverfahren immer komplizierter und deckten die Gerichte immer mehr mit Arbeit ein, sodass ohne eine Aufstockung der Strafrichterstellen solche Justizpannen nicht zu verhindern seien.
"Weiter Haftentlassung wegen Terminnot

‘Auch in Zukunft sind Entlassungen aus der Untersuchungshaft wegen Überschreitung der Sechs-Monats-Frist nicht sicher auszuschließen'. Das räumte der Senat auf eine SPD-Anfrage ein. Denn die Belastung der Großen Strafkammern beim Landgericht habe weiter zugenommen. Wie berichtet, mussten in diesem Jahr zwölf und im letzten Jahr zehn Gefangene aus der Haft entlassen werden, weil ihnen nicht rechtzeitig der Prozess gemacht werden konnte."


„Justizpanne

Zwei Angeklagte wieder in Haft



Hamm – Die Freilassung dreier geständiger Mordverdächtiger aus der U-Haft wegen Überschreitens der Fristen sorgt bundesweit für Entrüstung. Politiker, Polizei und Opferschützer äußerten Empörung und Unverständnis über die Entscheidung des OLG Hamm. Die beiden Hauptverdächtigen wurden wegen älterer Vorstrafen aber wieder in Haft genommen.“

(HH A 21.01.02)


Letztlich muss »die Gesellschaft« durch die von ihr in die Verantwortung gewählten Politiker entscheiden, ob ihr der Rechtsfrieden die Bewilligung höherer Ausgaben auf dem Justizsektor, eventuell unter Beschneidung der Mittel für andere ebenfalls wichtige Bereiche, wert ist.

Als schnelle Abhilfemaßnahme wird vermutlich die 6-Monats-Frist verlängert werden. Es gibt dahingehende politische Bestrebungen.

Doch jede neu zu findende Grenze muss sich an dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientieren, der in einem vor dem BVerfG verhandelten Fall (SPIEGEL ONLINE vom 30.09.05) ganz sicher nicht gewahrt worden war:

Der mutmaßliche Mörder, der 1997 sein eigenes Mietshaus in Düsseldorf in die Luft gesprent und dabei den Tod von sechs Mietern verschuldet haben soll, um die dann fällige Versicherungssumme kassieren zu können, muss nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wohl freigelassen werden, weil die Mühlen der Justiz zu langsam gemahlen haben. Der Mann, saß schon acht(!) Jahre in Untersuchungshaft. Das Landgericht Düsseldorf hatte gegen den ehemaligen Hausbesitzer im Jahr 2001 lebenslange Haft wegen sechsfachen Mordes verhängt, doch der BGH hatte das Urteil 03 wegen eines Verfahrensfehlers aufgehoben. In der Neuauflage des Prozesses vor dem Landgericht Düsseldorf hat ein bereits rechtskräftig zu lebenslanger Haft verurteilter Mittäter gestanden, zusammen mit dem Hausbesitzer einen Stopfen von der Gasleitung geschraubt zu haben.

Die überlange Verfahrensdauer sei nach dem Urteil der Verfassungsrichter der Justiz anzulasten, weil die Neuauflage des Prozesses auf einen Verfahrensfehler zurückgeht. Der BGH hatte gerügt, die Aussage der Ex-Frau seines Mitangeklagten hätte im ersten Prozess nicht verwertet werden dürfen, weil ihr Anwalt von der Vernehmung durch den Ermittlungsrichter nicht informiert worden war. Die Verfassungsrichter verwiesen den Fall zur abschließenden Entscheidung über die Haft an das Oberlandesgericht Düsseldorf zurück.

Die Verfassungsrichter hielten es für fragwürdig, warum das Verfahren überhaupt so lange gedauert hat: Schon bis zum Beginn der ersten Verhandlung waren fast zwei Jahre verstrichen. Der Prozess zog sich dann zwei weitere Jahre hin. Im Revisionsverfahren benötigte die Bundesanwaltschaft ein halbes Jahr für ihre Stellungnahme und der BGH weitere neun Monate, bis ein Termin zustande kam.

Bis zur Neuauflage des Prozesses, der seinerseits seit anderthalb Jahren lief, als das BVerfG angerufen worden war, dauerte es wieder mehr als ein halbes Jahr. "Es kann in einem Rechtsstaat von Verfassungs wegen nicht hingenommen werden, dass die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte nach acht Jahren Untersuchungshaft nicht mehr in Händen halten als einen dringenden Tatverdacht", kritisierten die Verfassungsrichter.
Ein Jahr darauf berichtete DIE WELT am 13.01.06, dass der BGH prüfe, ob die lebenslangen Haftstrafen dreier mutmaßlicher Mörder wegen überlanger Verfahrensdauer reduziert werden müssten. Der Fall wegen gemeinschaftlichen Mordes war beim Bundesverfassungsgericht, das ja 05 seinerseits überlange U-Haftstrafen als verfassungswidrig gegeißelt hatte, mehr als sechs Jahre rechtshängig! Die Verteidiger behaupten, die lange Verfahrensdauer stelle eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMKV) dar und forderten deshalb eine mildere Strafe.

2.) Zwischenverfahren

Gerichtliche Überprüfung des Ermittlungsergebnisses der StA, um den Angeschuldigten vor einer eventuell unnötigen Hauptverhandlung zu bewahren.

Je nach Ergebnis der Überprüfung: Ablehnung der Eröffnung eines Hauptverfahrens oder Beschluss zu seiner Eröffnung.


3.) Hauptverfahren

Erlass des Eröffnungsbeschlusses gegen den Angeklagten durch das Gericht, wenn eine Verurteilung hinreichend wahrscheinlich erscheint.

Vorbereitung der Hauptverhandlung.

Hauptverhandlung mit Urteil durch den/die Strafrichter.


4.) Rechtsmittelverfahren (möglich, aber nicht verbindlich)

Eingeleitet durch Berufung und/oder Revision des bisherigen Angeklagten, aber noch nicht rechtskräftig Verurteilten oder der StA.


Der Bundesrat hat nach 2003 zum zweiten Mal einen Gesetzentwurf eingebracht, der den Rechtsmittelzug in Strafsachen durch Einführung eines Wahlrechtsmittels künftig auf zwei Instanzen beschränken soll.

Der Angeklagte steht danach vor der Wahl, ob er gegen das Urteil des Amtsgerichts mit der Berufung oder Revision vorgehen will. Die Gründe, die der Bundesrat für die Änderung anführt sind u. a. folgende:



  1. Erwartete Entlastung der Justiz

  2. Beseitigung des Widerspruchs im geltenden Recht, nur bei Strafverfahren, die beim Amtsgericht ihren Ausgang nehmen stehen bisher drei Instanzen zur Verfügung, für solche aber, die erstinstanzlich am Landgericht verhandelt werden, jedoch nur zwei.

3. Entsprechende Regelung im Jugendgerichtsgesetz (§ 55 Abs. 2 JGG), die sich im Jugendgerichtsverfahren bereits bewährt habe.

Die Bundesregierung führt dagegen insbesondere ins Feld: Das würde zu einem faktischen Wegfall der Revision gegen erstinstanzliche Urteile der Amtsgerichte als entscheidendes Rechtsmittel für die Wahrung der Einheit der Rechtsprechung und Rechtsfortbildung führen, denn wegen der Möglichkeit der umfassenden tatsächlichen und rechtlichen Überprüfung wäre künftig in diesen Fällen die Berufung das Rechtsmittel der Wahl.


5.) Vollstreckungsverfahren nach Verurteilung

Gegen den rechtskräftig Verurteilten wird die ihm auferlegte Stra­fe vollstreckt. Das Nähere regelt das Strafvollstreckungsgesetz. Vollstreckungsbehörde ist die StA, an die die Verfahrensherrschaft insoweit zurückgeht. Bei Bewährung überwacht wieder das Gericht die Lebensführung des Verurteilten, weil eine eventuell für eine Restfreiheitsstrafe ausgesprochene Be­wäh­rung vom Gericht mit der Folge der Freiheitsentziehung wider­rufen werden muss, und Freiheitsentzug kann nie von der Staatsanwaltschaft, sondern nur von einem Richter angeordnet werden. Das ist gesetzlich so geregelt.

Nach Verbüßung der Strafe können der Allgemeinheit besonders gefährliche Rechtsbrecher nach dem in § 66 StGB festgelegten Voraussetzungen in Sicherungsverwahrung genommen werden, wenn die öffentliche Sicherheit das erforderlich erscheinen lässt. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung kann schon mit dem Urteil ausgesprochen werden. In einer ständig sich wiederholenden 2-Jahres-Frist wird die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Sicherungsverwahrung überprüft.

Gegen Jugendliche durfte bisher keine Sicherungsverwahrung angeordnet werden. Nach der besorgniserregenden Zunahme von Jugendgewalt gewaltintensiver jugendlicher Straftäter - einer hatte ein Mädchen getötet, seine Strafe verbüßt. musste entlassen werden und tötete gleich nach seiner Entlassung erneut ein Kind - soll nunmehr eine nachträgliche Sicherungsverwahrung möglich werden. Voraussetzung dafür ist, dass der Betroffene nach Jugendstrafrecht für schwerste Gewaltverbrechen, Sexualdelikte oder Raub- beziehungsweise Erpressungen mit Todesfolge zu mindestens sieben Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Zudem müssen zwei Sachverständigengutachten belegen, dass der Jugendliche mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft gefährlich bleiben werde. Laut Gesetzentwurf des Jahres 2008 kann bei Jugendlichen im Gegensatz zum Erwachsenenstrafrecht über eine Sicherungsverwahrung immer erst am Ende des Strafvollzugs entschieden werden. Die Fortdauer der Sicherungsverwahrung gegen Jugendliche muss zudem in einem 1-Jahres-Rhythmus überprüft werden.


6.) Wiederaufnahme- und/oder Begnadigungsverfahren (möglich, aber nicht verbindlich)

Um der materiellen Gerechtigkeit willen kann nach deutschem Recht auch noch nach einem durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahren - unter er­schwerten Bedingungen - alles noch einmal sowohl zugunsten als auch zuungunsten des Verurteilten oder Freigesprochenen wieder aufgerollt werden, wenn einer der Wiederaufnahmegründe der §§ 359 Wiederaufnahmeverfahren zugunsten des Verurteilten oder 362 StPO Wiederaufnahmeverfahren zuungunsten des Verurteilten vorliegt.


2006 war durch DNA-Analyse der mutmaßliche Täter eines 1993 verübten Mordes festgestellt worden. In seinem damaligen Verfahren war er mangels (ausreichenden) Beweises rechtskräftig freigesprochen worden: Hautpartikel und ein bei der Ermordeten gefundene Haar ihres Mörders hatten damals noch nicht analysiert werden können und die Sachverständigen mochten wegen der Faserspuren aus der häufig verkauften Dutzendware die gefundenen Faserspuren nicht der Bekleidung des Angeklagten eindeutig zuordnen. Der inhaftierte Angeklagte erhielt wegen der Lücken in der Indizienkette einen Freispruch - und zwangsläufig dann auch Haftentschädigung. Die Staatsanwaltschaft zog ihre Revision zurück. Damit war das Urteil rechtskräftig geworden.

Und nun lagen nach der Entwicklung des DNA-Analyseverfahrens 2006 erdrückende DNA-Beweise vor. Doch ein Angeklagter, der rechtskräftig freigesprochen worden war, konnte bisher in einem Wiederaufnahmeverfahren zuungunsten des Verurteilten nur innerhalb der bewusst eng gezogenen Grenzen des § 362 StPO ein zweites Mal vor Gericht gestellt werden. Die engen Grenzen des § 362 StPO lassen ein Wiederaufnahmeverfahren zuungunsten des Verurteilten nur dann zu, wenn sich herausstellt, dass im Prozess verwandte Urkunden gefälscht worden waren, ein Zeuge oder Gutachter sich des Meineids oder der Falschaussage schuldig gemacht hat oder einem hauptberuflichen Richter oder einem Schöffen eine strafbare Verletzung der Amtspflichten nachgewiesen werden kann; neue, selbst noch so erdrückende Beweise gegen den Freigesprochenen, die umgekehrt die Wiederaufnahme eines Verfahren zugunsten eines Verurteilten ermöglichen, reichten bisher nicht dazu aus – es sei denn, der Freigesprochene legt gemäß § 362 Nr. 4 StPO „vor Gericht oder außergerichtlich ein glaubwürdiges Geständnis der Straftat“ ab: Weil es unsere Rechtsordnung als gravierender ansieht, dass jemand zu Unrecht verurteilt sein könnte, als wenn ein Täter seiner Bestrafung entgeht, war es bisher leichter, ein Wiederaufnahmeverfahren zugunsten eines Täters durchzusetzen, als zu seinen Ungunsten. Der Gedanke des Rechtsfriedens nach einem formell abgeschlossenen Verfahren durch damit angestrebte Rechtssicherheit soll verhindern, dass jemand, der sehr raffiniert zu Werke gegangen ist, immer wieder vor Gericht gestellt und so - vielleicht sein Leben lang - irgendwann zermürbt werden kann. Das galt bisher auch für den Fall, dass neue Beweismittel seine Schuld wahrscheinlich machten.

Der 2006 offensichtlich gewordene Fall führte zu einer Bundesratsinitiative des Landes Nordrhein-Westfalen, mit der eine Änderung des § 362 StPO angestrebt wird: Es soll für die beiden von der Verjährung ausgenommenen Delikte Mord und Völkermord ermöglicht werden, ein Wiederaufnahmeverfahren zuungunsten eines Freigesprochenen über die bisherige Regelung hinaus auch dann in Gang zu setzen, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit den in dem früheren Verfahren erhobenen Beweisen jeden begründeten, vernünftigen Zweifel an der Täterschaft ausschließen, sodass der Freigesprochene in einer neuen Hauptverhandlung wegen eines von ihm begangenen Mordes oder Völkermordes überführt werden wird.

Da der freigesprochene mutmaßliche Mörder aber schon vor der Umsetzung der Gesetzesinitiative entdeckt worden ist, schützt auf jeden Fall ihn das Rückwirkungsverbot bezüglich belastender Gesetze.


Hat ein Wiederaufnahmeverfahren zugunsten eines Verurteilten zu keinem Erfolg geführt, bleibt dem möglicherweise zu Unrecht eine ihm auferlegte Strafe Verbüßenden nur die Einreichung eines Gnadengesuches zur Einleitung eines Be­gnadigungsverfahrens.


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