Die Schaffhauser Opposition
Mit Ernst Uli in Zürich war auch Moritz Mandel aus der Partei entfernt worden. Zusammen mit Erb verabredeten wir eine Zusammenkunft in Schaffhausen, um die ganze Entwicklung zu besprechen. Erb bereitete die Konferenz heimlich und ohne Wissen Bringolfs vor. Außer Erb erschienen einige der wichtigsten Parteiarbeiter von Schaffhausen, die sich dem wahnsinnigen Kurs entgegenstemmen wollten. Mein Ausschluß war in Deutschland nicht unbemerkt geblieben. Die ehemalige Parteiführung unter Heinrich Brandler und August Thalheimer war anläßlich der Wittorf-Affäre aus der Partei ausgestoßen worden; sie konstituierte sich zur KPO (Kommunistische Partei Opposition), besaß vielerorts im Lande einflußreiche Gruppen und verfügte auch in einer Reihe anderer Länder über einige Wirkungsmacht. Ohne mein Zutun setzten sie sich mit mir in Verbindung und schickten Erich Hausen zu mir. Hausen war ein alter Spartakist aus Offenbach; nach dem Bruch mit der KPD kehrte er in seinen Beruf als Elektriker zurück. Hausen und ich sympathisierten politisch wie menschlich sofort miteinander. Wir vereinbarten seine Teilnahme an der Geheimkonferenz in Schaffhausen. Um die Parteipolizei irrezuführen, streute ich das Gerücht aus, ich sei nach Berlin gefahren, um dort mit den «rechten Renegaten» Fühlung zu nehmen. Prompt fiel der «Vorwärts» darauf hinein und wütete gegen mich. Ich verließ meine Arbeitsstelle und fuhr per Anhalter nach Schaffhausen. In der Wohnung eines Funktionärs waren dank Erbs guter Vorarbeit ein Dutzend Schaffhauser Parteifunktionäre anwesend. Erich Hausen, Mandel, Uli und ich sprachen über die Aufgaben der Opposition, den notwendigen Kampf um eine Parteidemokratie, gegen die Gewerkschaftsspaltung und die verheerende «Theorie» des Sozialfaschismus. Die Parteimitglieder aus Schaffhausen teilten durchweg unseren Standpunkt, wollten aber unter allen Umständen versuchen, Walter Bringolf für die Opposition zu gewinnen. Nach Erbs Meinung war Bringolf ohne Zweifel gegen die unsinnige Politik der Partei und der Internationale, jedoch noch nicht bereit, mit der Partei zu brechen: Bringolf hoffe noch immer auf eine mögliche Kursänderung und warte ab. Die Konferenz beschloß, in Basel und Zürich einen Versuch mit der Bildung oppositioneller Gruppen zu unternehmen, in Schaffhausen indessen damit abzuwarten und Walter Bringolf entsprechend zu bearbeiten.
Wenige Wochen nach der Besprechung in Schaffhausen bat mich Erb in einem Eilbrief, ich solle sofort nach Schaffhausen kommen und vorübergehend die Redaktion der «Arbeiterzeitung» übernehmen. Deren alleiniger Redakteur war bisher Walter Bringolf gewesen; nun hatte ihn das Exekutivkomitee der Komintern nach Moskau eingeladen, um mit ihm den Kurs der Partei festzulegen. Seinen Schaffhauser Freunden hatte Bringolf anvertraut, er werde sich nicht nach Moskau, sondern nur nach Berlin zum Westeuropäischen Büro begeben, er habe keine Lust, sich in Moskau breitschlagen zu lassen. Sofort gab ich meine Arbeit auf und fuhr wieder per Autostopp nach Schaffhausen. Kurz hinter Basel erwischte ich einen Kleinlastwagen der bekannten Gemüse- und Früchtefirma Artaria mit Bestimmungsort Zürich. Der Fahrer erklärte mir sogleich, er mache mit einem Kollegen aus der Firma gerade ein kleines Wettrennen nach Zürich. Im Moment hielt er die Spitze vor seinem Konkurrenten; deshalb drehte er sich öfters um, weil er sehen wollte, wie dicht ihm sein Kollege auf den Fersen war. Das wurde uns zum Verhängnis. Der Wagen sauste in den flachen Straßengraben, überschlug sich zweimal und landete auf dem Acker. Verdutzt und leicht benommen steckte ich meinen Kopf durch das zerbrochene Türfenster. Der Wagenlenker lag unter mir, stöhnte und fluchte. Bauern, die auf dem Felde arbeiteten, eilten herbei, mit ihrer Hilfe krabbelte ich aus dem Wagen. Gemeinsam bargen wir dann den Chauffeur. Er war am Körper nur leicht verletzt, aber seine linke Hand wies arge Quetschungen auf. Indessen traf sein Kollege mit dem zweiten Wagen ein. Mein verunglückter Fahrer bat ihn, mich nach Zürich mitzunehmen, unter keinen Umständen wollte er die Versicherung wissen lassen, daß er einen Autostopper bei sich hatte. Er wurde in einem Privatwagen ins nächste Spital gebracht. Mit dem zweiten Laster kam ich glücklich in Zürich an. Da es infolge des Unfalls inzwischen reichlich spät geworden war, hatte ich Mühe, von Zürich nach Schaffhausen einen Wagen zu finden. Erst gegen Mitternacht langte ich in der Rheinfallstadt an und wollte bei Erb absteigen. Daraus wurde nichts, ganz Schaffhausen war auf den Beinen, der altehrwürdige Schwabentorturm brannte lichterloh. Ich gesellte mich zu den Schaulustigen und stieß sofort auf Erb.
Am anderen Morgen trat ich die Redaktion der «Arbeiterzeitung» an. Erb führte mich beim Personal der Druckerei ein. Die schleichende Krise in der Schaffhauser Partei war inzwischen akuter geworden, die Mehrzahl der Mitglieder wollten von dem ultralinken Kurs nichts wissen. Wir beschlossen, eine Parteiversammlung einzuberufen, um die Probleme offen zu besprechen. Mein Amtsantritt auf der Redaktion war den parteitreuen Kommunisten nicht verborgen geblieben; im «Kämpfer», im «Basler Vorwärts», auch durch Flugblätter in der Stadt, entfalteten sie eine wüste Hetze gegen mich. An der Schaffhauser Parteiversammlung nahm ich nicht teil. Es kam dort zu den erwarteten Tumulten, Erb und die bekanntesten Funktionäre vertraten unverhüllt den Standpunkt der Opposition. In einer Kampfabstimmung entschied die Versammlung mit überwältigender Mehrheit, die Kommunistische Partei zu verlassen und sich zur kommunistischen Opposition zu konstituieren. Einige Tage später erschien die «Arbeiterzeitung» mit dem Untertitel: «Organ der kommunistischen Opposition». Dazu schrieb ich einen Einführungsartikel, der mit der Stalin’schen Politik hart ins Gericht ging.
Als ich zum Umbruch des Artikels in die Druckerei hinunterstieg, traf ich zu meiner Überraschung Hermann Schlatter dabei, wie er mein Elaborat studierte. Einigermaßen verlegen meinte er, ob «wir Jungen es nicht doch etwas zu eilig» hätten. Schlatter stellte so etwas wie die graue Eminenz in der Schaffhauser Arbeiterbewegung dar, an deren Gründung er mitgewirkt hatte. Zur Zeit war er Verwalter des Konsumvereins. Als altes Parteimitglied, enger Freund von Walter Bringolf und Anteilscheinbesitzer der Druckerei war er selbstverständlich an der Entwicklung in Schaffhausen sehr interessiert. Die Redaktionsarbeit erwies sich als schwer. Mit den lokalen Verhältnissen unvertraut, war ich stark auf Erb und seine Freunde angewiesen. Die der Kommunistischen Partei noch ergebenen Mitglieder blieben nicht untätig; neben den üblichen Verunglimpfungen versuchten sie mehrmals, in die Redaktionsräume einzudringen. Täglich mußte ich mich einschließen und ein paarmal mit Hilfe des Druckereipersonals die Radaubrüder aus dem Haus werfen. Die kommunistischen Nachrichtenagenturen hatten sofort eine Sperre gegen uns verhängt und sandten uns keinerlei Material mehr zu. Es war nur zu begreiflich, daß die schweizerische Sozialdemokratische Partei da Aufwind verspürte. Für sie war die Industriestadt Schaffhausen wichtig; sie hatte in der Stadt eine kleine Sektion und einigen Einfluß auf die Gewerkschaften, der aber dank der Wirksamkeit von Erb, nunmehr Arbeitersekretär, unbedeutend blieb. Um von der kommunistischen Spaltung zu profitieren, gab der schweizerische Parteivorstand den Schaffhauser Sozialdemokraten die finanziellen Mittel für eine Tageszeitung. Sie bestand in einer Schaffhauser Beilage zum Zürcher «Volksrecht». Ähnliches versuchten die Kommunisten mit dem «Kämpfer», allein ohne großen Erfolg.
Von entscheidender Bedeutung blieb die Haltung Walter Bringolfs. Seit zehn Jahren war er Redakteur der Parteizeitung, Mitglied des Nationalrates, Mitarbeiter in den städtischen und kantonalen Behörden und der anerkannte Führer der Schaffhauser Arbeiterbewegung. Verständlicherweise wollten Parteimitglieder, Abonnenten der Zeitung und Wähler wissen, wie sich Bringolf zu der Spaltung verhielt. Aber auch wir wußten nichts Genaues, sondern nur, daß er mit dem Westeuropäischen Büro in Berlin verhandelte. Gegenüber Erb hatte ich meinen Argwohn ausgesprochen, Bringolf werde eventuell doch noch nach Moskau fahren, und er teilte meine Vermutung. Wenige Tage später traf aus Berlin ein Telegramm ein: «Fahre doch nach Moskau. Nichts unternehmen vor meiner Rückkehr.»
Wir alle, auch die engsten Freunde Bringolfs, beurteilten seine Chancen, die Parteilinie ändern zu können, sehr pessimistisch. Unterdessen bemühten wir uns nicht ohne Erfolg um die Bewahrung unseres Abonnentenbestands. Trotz der durch den offen ausgetragenen Parteikonflikt erschwerten Lage konnten wir die Zeitung über Wasser und den unvermeidlichen Abonnenten-Rückgang in erträglichen Grenzen halten. Das alles gelang aber nur, weil die «Arbeiterzeitung» von Moskau finanziell vollkommen unabhängig war und sich aus eigenen Mitteln hielt.
Nach zwei Wochen kam das erste Telegramm von Walter Bringolf aus Moskau. Der Text: «Zeitung sofort der Partei zurückgeben, die Politik der Internationale ist richtig.” Große Bestürzung bei uns. War das Telegramm echt oder gefälscht? Wir wußten es nicht. Nach Beratung beschlossen wir die Veröffentlichung der Nachricht in der Zeitung mit einem kurzen Kommentar des Inhalts, es sei wahrscheinlich gefälscht. Unter uns aber, die wir aus eigener Erfahrung Moskaus Methoden und Druckmittel kannten, neigten wir eher zur Annahme, Bringolf habe kapituliert. Es folgten weitere, immer dringlichere Telegramme. Als das letzte schließlich die Rückkehr anmeldete, waren wir schon gut vorbereitet. Bringolf hatte seine Ankunft auf einen Sonntag terminiert, woraufhin wir für diesen Tag eine allgemeine Funktionärskonferenz einberiefen und zu ihr August Thalheimer aus Berlin einluden. Die zwei Reisenden kamen im selben Zug aus Berlin, ohne voneinander zu wissen. Erb holte Bringolf ab, ich den mir aus Moskau bekannten Thalheimer. An der Versammlung nahmen alle kantonalen Funktionäre sowie eine kleine Gruppe aus Zürich mit Uli und Mandel teil. Kurz vor Beginn erschien Erb und informierte uns, Bringolf weigere sich, einer Versammlung beizuwohnen, die den Renegaten Thalheimer auftreten lasse. Seine Frau war kurz bei uns aufgetaucht und wieder verschwunden. Wir begannen die Konferenz ohne ihn, doch schon zehn Minuten danach erschien Bringolf. Offenbar hatte ihm seine Frau klargemacht, daß alle seine Freunde und Mitarbeiter anwesend waren. Nach knapper Diskussion beschloß die Konferenz, erst Bringolfs Bericht aus Moskau und dann August Thalheimer anzuhören.
Bringolf stand vor einer schweren Aufgabe. In einer einstündigen Rede verteidigte er die Politik der Kommunistischen Internationale, forderte die sofortige Rückgabe der Zeitung an die Partei und die Auflösung der Opposition. Schon während seinen Ausführungen kam es zu vielen heftigen Zwischenrufen und Unterbrechungen seitens seiner engsten Freunde. Thalheimer wurde ruhig angehört und machte seine Sache sehr geschickt. In der folgenden Diskussion standen sämtliche engsten Freunde Bringolfs gegen ihn auf, versuchten, ihn von seiner Haltung abzubringen, beschworen die langjährige Zusammenarbeit, wiesen auf die verheerende Politik Moskaus hin. Ich sprach als letzter Redner und erklärte unumwunden, Bringolf habe vor Moskau kapituliert, aber die Opposition sei formiert und ein Zurück zu den alten Positionen ausgeschlossen, worüber die Parteimehrheit demokratisch entschieden habe. In der anschließenden Abstimmung erhielt Bringolf nicht eine einzige Stimme. Da erklärte er erbittert, das sei alles auf die Wühlarbeit von Thalmann hin geschehen, und lief wütend davon. Früh am Morgen stürmte Bringolf in die Redaktion, wo ich bereits arbeitete. Barsch fuhr er mich an: «Was willst du hier, hier bin ich Redakteur.» Ruhig erwiderte ich ihm: «Nein, du weißt genau, die ganze Partei hat gegen dich entschieden, hier bin und bleibe ich Redakteur der kommunistischen Opposition.»
Bringolf wurde fuchsteufelswild, gestikulierte erregt, schrie mich an. Der Lärm lockte den Geschäftsführer der Druckerei, Hermann Huber, herbei, einen alten Freund Bringolfs. Auch Huber wurde angebrüllt, hier sei er, Bringolf, Redakteur. Ohne Umschweife antwortete ihm Huber: «Walter,du hast gestern gesehen, wie die Parteimitglieder denken. Solange du deine Auffassung nicht änderst, kannst du die Zeitung nicht führen. Du brauchst nichts weiter zu tun, als dich der Opposition anzuschließen, und Thalmann wird dir die Redaktion abtreten.» Bringolf weigerte sich eisern. Nach langen Verhandlungen forderte er vom Geschäftsleiter zweitausend Franken mit der Begründung, er fahre für einige Wochen in die Ferien. Huber lehnte energisch ab, er habe kein Geld. Nach einigen Telefongesprächen erschien Hermann Schlauer auf der Redaktion, knöpfte sich Bringolf in einem Gespräch unter vier Augen vor und lieh ihm dann die gewünschte Summe. Nur wir Eingeweihten wußten, daß er nach Wien zu seinem dort wohnenden Bruder fuhr.
Wochenlang hörten wir nichts von ihm. In der Öffentlichkeit wurde die Frage nach seinem Verbleib immer lauter. Die parteifrommen Mitglieder und die Parteizeitungen verstiegen sich zu der Behauptung, wir hätten Bringolf irgendwo sequestriert, da er treu zur Internationale halte. Auf diese Anwürfe antworteten wir nicht. Ich war überzeugt, daß Bringolf bald nach Schaffhausen zurückkommen würde. Im Oktober 1931 sollten nämlich die Nationalratswahlen stattfinden, und nimmermehr würde Bringolf freiwillig auf seine Wiederwahl verzichten. Meine Annahme erwies sich als richtig. Einige Wochen vor den Nationalratswahlen begann Bringolf, unter einem Pseudonym für die Zeitung zu schreiben. Seine Freunde und Bekannten merkten es sofort am Stil der Beiträge. Doch selbst für seine intimsten Freunde blieb es fraglich, in welcher geistigen Verfassung er wieder auftauchen würde. Für mich persönlich war es am schwersten, da Bringolf, nachdem er heimatlichen Boden unter den Füßen spürte, mich anfänglich wie die Pest mied.
Zu jener Zeit flog die sogenannte Bassanesi-Affäre auf. Ein Tessiner Antifaschist hatte einen kleinen Aeroplan gechartert, damit Italien überquert und antifaschistische Flugblätter abgeworfen. Der Pilot stürzte ab, erlitt Verletzungen und wurde in Haft genommen. Die liberale und die sozialistische Öffentlichkeit führte eine aktive Kampagne für seine Freilassung. Die Schaffhauser KP-Opposition organisierte eine große Protestkundgebung. Ich regte an, Bringolf als Redner einzuladen. Erb unterbreitete ihm den Vorschlag, kam aber bald mit dem Bescheid wieder, Bringolf könne und wolle auf einer von der Opposition veranstalteten Kundgebung nicht sprechen. Als Redner waren Erb und ich vorgesehen. Wider unser Erwarten versammelten sich zur Kundgebung annähernd eintausend Menschen. Diese für Schaffhausen erhebliche Zahl bewies unter anderem deutlich, daß die KPO im Leben des Kantons zu einem politischen Faktor geworden war. Nicht zuletzt das mag Bringolf zu einer plötzlichen Sinnesänderung bewogen haben. Seine Freunde und seine Frau (die kurz auf der Kundgebung zu sehen waren) hatten ihm von dem starken Besuch berichtet. Noch während Erb sprach, erschien er auf der Tribüne und wurde sofort bemerkt. Nach Erb ergriff er das Wort, sprach ausschließlich zum Fall Bassanesi und wurde stürmisch begrüßt. Am Tag darauf stand sein Ausschluß aus der Kommunistischen Partei in der Presse. Der Hürdensprung war gelungen.
Dostları ilə paylaş: |