Discussion


Verallgemeinerte Evolutionstheorie



Yüklə 0,92 Mb.
səhifə6/19
tarix16.11.2017
ölçüsü0,92 Mb.
#31940
1   2   3   4   5   6   7   8   9   ...   19

2. Verallgemeinerte Evolutionstheorie
Zurückblickend auf unsere bisherige Darstellung der Evolution des biologischen Lebens können wir festhalten, dass Evolutionsprozesse aus drei grundlegenden Komponenten oder Modulen bestehen, die ich von nun an auch die drei darwinschen Module nenne:

1.) Es muss gewisse Entitäten, Organismen oder Systeme geben, die sich jedenfalls hinsichtlich gewisser besonders bedeutsamer Merkmale immer wieder reproduzieren; diese Merkmale heißen dann reproduzierte oder schlicht vererbte Merkmale, und jeder solcher Reproduktionsvorgang erzeugt eine neue Generation.

2.) Es müssen Variationen bei der Reproduktion auftreten die ebenfalls vererbt bzw. mitreproduziert werden, und

3.) es muss Selektion geben, insofern sich gewisse Varianten in gegebenen Umgebungsbedingungen schneller reproduzieren als andere und dadurch die anderen jedenfalls in diesen Umgebungen bzw. ökologischen Nischen langfristig verdrängen.

Jene Teilsysteme, Strukturen oder Merkmale der evolutionären Systeme, welche direkt voneinander reproduziert bzw. kopiert werden, nenne ich verallgemeinert und abstrakt die Repronen bzw. Reprotypen (in der Biologie die Gene bzw. Genotypen); sie entsprechen Millikans reproduktiv erzeugten Familien 1.Stufe (23). Jene Merkmale eines evolutionären Systems, die durch diese Repronen kausal bewirkt werden, zwar in Interaktion mit der Umgebung, aber so, dass unter normalen Umgebungsbedingungen das erzeugte Merkmal nur mit dem Reprotyp und nur statistisch gering mit der Umgebung variiert, nenne ich die phänotypischen Merkmale  d.h., unter Phänotypen verstehe ich immer, so wie üblich, weitgehend vererbte Merkmale, und nicht von der Umwelt weitgehend abhängige Merkmale (s. auch Schurz 2001xx). Die Phänotypen entsprechen Millikans reproduktiv etablierten Familien höherer Stufe (24.

Man kann die drei Module unterschiedlich definieren. Sober fasst die der Module als 'vererbbare Variation der Fitness' zusammen (xx); wobei Fitness als effektive Reproduktionsrate definiert ist. Man kann statt Reproduktion Replikation sagen, so wie Dawkins und Blackmore, und damit einen Kopiervorgang meinen. Oder man meint nur Informationsübertragung, wie Boyd/Richerson, oder Retention, so wie Campbell, also die Beibehaltung eines Systems in der Zeit, usw. Statt von Variationen kann wie Campbell (56) man von blinden Variationen oder Mutationen sprechen, usw. – auf solche feinen Unterschiede kommen wir in Kap. xx zurück. Jedenfalls liegt der Gedanke nahe, dass man das Zusammenwirken dieser drei Module eigentlich nicht auf die Ebene der genetisch-biologische Evolution, also der genetische Reproduktion von biologischen Organismen durch Fortpflanzung, beschränken muss. Man kann sehen, ob es nicht auch andere Ebenen und Systeme gibt, welche diese drei Module aufweisen, und wo daher Evolution zu erwarten ist, denn das entscheidende ist: woimmer diese drei Module vorhanden ist, wird Evolution eine unvermeidliche Folge sein (ebenso Blackmore 50).



Der Bereich, in dem wir eine solche Übertragung bzw. Verallgemeinerung der Evolutionstheorie zuerst besprechen, ist die kulturelle Evolution. Dieser Bereich keinesfalls einfach und unkontrovers ist  es gibt andere Übertragungsbereiche, wie z.B. chemische oder neuronale Evolution, die einfacher und unkontroverser sind – aber es ist der wichtigste Übertragungsbereich ist. Die erste Schwierigkeit beginnt bei der Definition des Begriffes der Kultur. Unter Kultur im weiten Sinn (i.w.S.) verstehen wir im folgenden alle erworbenen und von Generation zu Generation (mehr oder minder lange) weitertradierten menschlichen Eigenschaften oder Erzeugnisse  also alles, das kulturell, aber nicht genetisch 'vererbt' wird. Kultur fungiert hier auch als Gegenbegriff zu Natur. Würde man einen Säugling einer Kultur in eine gänzlich andere, z.B. aus einem Eingeborenenstamm Neuguineas nach Los Angeles versetzen, so würde er keine Eigenschaften der alten Kultur mitnehmen, wohl aber alle seine genetischen Eigenschaften. Zur Kultur i.w.S. zählen Sprache, Wissen und Technologie, Religion und Glaubenssysteme, Gesetz und Moral, soziale Konventionen, usw. (eine ähnliche Definition gibt Tylor, in Plotkin/Aunger 74). Eine engere Definition von Kultur gibt Goodenough, als das was jemand wissen oder können muss um sich in einer in der Gesellschaft akzeptablen Weise zu verhalten (ibid)  hier wird ein gewissen Konformismus in den Begriff hineingelegt, der für Soziologen interessant sein mag, den wir aber nicht fordern; wichtig ist nur die Tradierung, womit Kultur von individuell Erlerntem abzugrenzen ist. Noch enger dasjenige, was wir unter Kultur im engen Sinn verstehen, Kultur in Gegensatz zu Wissenschaft und Technik, also Kultur als Religion, Moral und Kunst, wobei Kunst wiederum Literatur, Musik, Tanz und Theater, sowie bildende Kunst wie Malerei, Bildhauerei, Architektur usw. Wenn wir im folgenden von Kultur sprechen, ohne etwas hinzuzusagen. meinen wir immer Kultur i.w.S.
2.1 Meme: die Entstehung der kulturellen Evolutionstheorie
Den entscheidenden Impuls zur verallgemeinerten Evolutionstheorie  abgekürzt als VE  gab Richard Dawkins in der ersten Auflage seines Buches "Das egoistische Gen" (1976, dt. 1978; Kap. 11: Meme, die neuen Replikatoren). Dawkins führt dort den Begriffs des Mems ein. Kulturelle Evolution beruht auf der Evolution von Memen  dem kulturellen Gegenstück von Genen, worunter menschliche Ideenkomplexe und Fertigkeiten zu verstehen sind, die durch den Mechanismus der kulturellen Tradition reproduziert werden. Für Dawkins ist die kulturelle Reproduktion bzw. Replikation ein Prozess der Imitation, allerdings im weitesten Wortsinn, wie er betont, der alle Formen des kulturellen Lernens einschließt (311). Ein 'Mem' (Verkürzung von 'Mimem') ist sozusagen die Einheit der Imitation. Beispiel für Meme nach Dawkins sind "Melodien, Gedanken, Schlagworte, Kleidermoden, die Art Töpfe oder Bögen zu bauen", usw. . (309). Wann immer eine solche Idee, Kenntnis oder Fertigkeit von einem Menschen zum anderen durch Imitation bzw. Lernen übertragen wird, findet kulturelle Reproduktion statt. Die vorgeschlagene Verallgemeinerung der Evolutionstheorie nennt Dawkins auch universellen Darwinismus (Dawkins xx; s. auch Blackmore/Becker 51; Plotkin 1993).

Gegner der Evolutionstheorie werfen der VE oftmals einen Naturalismus vor und ordnen sie ähnlich ein wie die Soziobiologie  aber dies ist gänzlich verfehlt. Es ist ein zentrales Kennzeichen der VE, dass dabei  im Gegensatz etwa zur Soziobiologie  die kulturelle Evolution nicht auf die genetisch-biologische Ebene reduziert wird bzw. von daher zu erklären versucht wird. Es wird vielmehr eine eigene Ebene der kulturellen (sozialen, technischen) Evolution von 'Memen' postuliert. Von einem ontologischen Naturalismus, also einer Reduktion der Kultur auf Biologie, so wie ihn etwa die Soziobiologie tendenziell vornimmt, kann hier gerade nicht gesprochen werden. Man könnte höchstens von einen 'methodologischen' Naturalismus sprechen  aber nicht einmal das ist berechtigt, insofern keineswegs pauschal naturwissenschaftliche Methoden auf Kultur übertragen werden; es wird lediglich ein in den Naturwissenschaften eher erfolgreiches abstraktes Modell auf Kulturentwicklung übertragen  aber was sollte daran apriori negativ sein? Auf die Kontroverse Naturalismus oder nicht gehen wir in Kap. xx näher ein.

Jedenfalls sei als negative Angrenzung klargestellt, dass die VE ganz anders als die von Wilson begründete schon erwähnte Soziobiologie vorgeht. Wilson begreift Kultur als letztlich durch unsere Gene determiniert  die genetischen Anlagen des Menschen geben einen begrenzten Raum von kulturellen Innovationsmöglichkeiten vor, in dem sich jede mögliche Kulturentwickelung bewegt ((Wilson 1998, 171, 211). Lumsden und Wilson (1981) zufolge führen die Gene führen Kultur an der Leine (Blackmore 53); wobei speziell die Koevolution bzw. wechselseitigen Adaption von Genen und Kultur im Zentrum ihrer Betrachtung stand. Auch die so genannte evolutionäre Psychologie sieht die Evolution der psychologischen Mechanismen, welche menschlichen Verhaltens- und Denkweisen zugrunde liegen, als weitgehend von unseren Genen beeinflusst an (Buss 175). Dass manche Phänomene sozial oder kulturell konstruiert sind, bedeutet Tooby und Cosmides (1992, 89f) zufolge lediglich, dass die soziale Umwelt denselben genetischen Denk- und Verhaltensmechanismen andere Inputs liefert. Für die kulturellen Evolutionstheorie ist es dagegen wesentlich, dass durch die Kombination von individuellem Lernen und sozialer Tradition, aufgrund fortgesetzter Optimierung durch viele Generationen hinweg, Ideen und Fertigkeiten geschaffen werden, die weit über alles genetisch bedingt hinausgehen, sodass man davon nicht mehr sagen kann, dass sie schon in unseren Genen angelegt waren, weder entwicklungsdeterministisch im Sinn eines begrenzten Möglichkeitsraumes kultureller Innovationen, noch implizit im Sinne eines genetisch programmierten differentiellen Reaktionsmusters auf unterschiedliche Umweltbedingungen. Wir werden dies später erhärten. In der VA findet deshalb eine genuine Verallgemeinerung und Abstraktion statt, weil die Grundelemente der Evolution, welche ich abstrakt Repros (als Abkürzung für Reproduktoren) nennen will  also dasjenige, was direkt reproduziert wird  nun eben nicht mehr die Gene sind, sondern im Grunde genommen beliebige Entitäten, und in der kulturellen Evolution eben die Meme. Wie auch Reuter (Becker 31) betont, wird die VA damit gegenstandsneutral  insbesondere spielt es für die Evolution von Memen qua mentale Strukturen keine Rolle, welche Position man in der Körper-Geist-Kontroverse einnimmt; ob man Meme also als neuronale Gehirnsstrukturen oder eher als Gedankenstrukturen ansehen will.

Wesentlich für die Evolution von Memen ist nur das Vorhandensein der drei darwinschen Module  welche Blackmore am Beispiel des Körbeflechtens in Sammlergesellschaften illustrativ erläutert (73ff; Becker). Als irgendwann eine überlegene Technik des Flechtens größere Körben, etwa aus Blättern oder Lianen, entwickelt wurde, wodurch größere Mengen von pflanzlicher Nahrung, Gräser, Blüten, oder Beeren, in kürzerer Zeit gesammelt werden konnten, waren jene, welche diese Körbe besaßen, in großem Vorteil  sie konnten in kürzerer Zeit mehr von den spärlichen Nahrungsressourcen einsammeln, diese schneller nach Hause tragen, könnten eher Vorräte anlegen, die sie besser durch die kalte oder trockene Jahreszeit brachten, könnten damit mehr Kinder großziehen, konnten soziale Macht durch Verschenken oder Verleihung von Nahrungsvorräten erwerben, ihre Heiratschancen erhöhen, usw. Von da an ist jeder der keinen Zugang zu neuem Typ von Körben hat im Nachteil, und als Folge setzt eine nachhaltige kulturelle Evolution des Körbeflechtens ein; die Tätigkeiten werden schon von Kindesbeinen an gelernt, evtl. nur bei Töchtern, aber etwas ganz Analoges gilt, wenn etwa ein überlegener Typ von Axt, Pfeil und Bogen, oder Blasrohr entwickelt wird. Wir werden auf dieses Beispiel noch mehrmals zurückkommen.



Natürlich hat die kulturelle Evolutionstheorie  von nun an abgekürzt KE  eine Reihe Vorfahren und anderer Mitbegründer  Dawkins war lediglich der Einflussreichste, und zwar wohl deshalb, weil in der gegenwärtigen Informationsgesellschaft die Naturwissenschaftler aufgrund der Erfolgsgeschichte der Naturwissenschaften (Reuter xx) die höchste Autorität genießen und der Journalismus ihrem Wort mehr Gewicht zubilligt als Kulturwissenschaftlern oder Philosophen, und zwar nicht selten bis zum Rande der Kritiklosigkeit. Wie dem auch sei  wie Plotkin ausführt (Aunger 69f), hatte T.H. Huxley, der 'Kettenhund Darwins' bereits die Idee, dass die Darwinschen 'Module' auch auf individuelles trial-und-error-Lernen übertragen werden könnten, das im Gegensatz zum kulturellen Lernen eine weitere Ebene der VE bildet, die Ebene der individuellen Evolution bzw. Lerngeschichte, auf die wir noch zurückkommen. Die Idee, die Evolutionstheorie auf die Ebene der Erkenntnis zu übertragen, hatten auch William James, Charles S. Peirce, James M. Baldwin und in jüngerer Zeit Karl Popper  für Campbell (76f) ist Baldwin, auf den wir wegen des 'Baldwin-Effektes' noch zurückkommen, gar der erste evolutionäre Erkenntnistheoretiker. (s. Kap. xx). M.E. ist Campbell (xx) der erste explizite Vertreter einer verallgemeinerten Evolutionstheorie  er wendet sein Variation-Selektion-Renetions-Modell auf viele unterschiedliche Ebenen der Evolution an (s. unten). Der erste Vertreter einer KE ist gemäß Plotkin G.P. Murdock (1956). Die jüngere Geschichte der KE beginnt mit Cafalli-Sforza und Feldman (1973a,b; s. Boyd/R. 303, sowie 1981), also ein paar Jahr vor Dawkins. Cafalli-Sforza und Feldman stellten sich die Frage, wie es möglich ist, dass in hochzivilisierten Ländern ab einem gewissen Wohlstands- und Demokratisierungsniveau die Geburtenrate zurückgeht  man nennt dies auch die demographische Schwelle (näheres s. Kap. xx). Eine solches kulturelles Merkmal kann unmöglich genetisch verursacht sein, denn es führt ja dazu, dass sich seine Vertreter seltener fortpflanzen und daher zum Ausstreben verurteil wären, wäre diese Verhaltensweise genetisch angelegt (s. auch Sober 211ff). Cafalli-Sforza und Feldman schließen daraus, dass es eine unabhängige Ebene kultureller Vererbung geben muss, wobei aus ihrer Überlegung auch folgt, dass sich kulturelle Verhaltensmuster eben nicht nur über die biologische Elternbeziehung ausbreiten  wäre das so, so wäre diese Eigenheit ebenfalls der negativen Selektion unterworfen, denn jene Eltern, die ihren Kindern beibringen, man sollte weniger Kinder kriegen, kriegen dann eben auch weniger Kinder. Vielmehr müsse kulturelle Vererbung sich sozial in alle Richtungen ausbreiten, um dieses Phänomen zu erklären, wobei die Richtung von der älteren zur jüngeren Generation natürlich für die KE die wichtigste ist  aber eben nicht nur von biologischen Eltern zu biologischen Kindern (Cafalli/Sforza u. Feldman 1981; s. auch Sober 1993, 210); vielmehr gibt es einen gewissen informationellen Ideenwettbewerb, in dem gewisse kulturelle Vorbilder oder 'role models' viele Jüngere und evtl. eine ganze Generation nachhaltig beeinflussen und in ihrem Verhalten verändern.

Eine Reihe weiterer Autoren haben die Theorie der Meme aufgegriffen. Durham (1991, 1994) studiert wie Cafalli-Sforza und Feldman die Koevolution von Genen und Memen. Boyd/Richerson (1984) haben ein bedeutendes statistisch-informations­theoretisches kulturelles Vererbungsmodell entwickelt, das später noch,. in Bezug auf die Rolle von Nachahmung i.e.S., bedeutsam werden wird. Ruth G. Millikan (1984, xx) hat ebenfalls früh ein verallgemeinert-evolutionäres Modell in Hinblick auf allgemeine philosophische Fragen entwickelt, wie der Begriff der eigentlichen Funktion (oder 'proper function'), den wir in Kap. xx näher betrachten, oder die evolutionäre Erklärung von sprachlichen Bedeutungen im Rahmen ihrer Biosemantik, derzufolge die proper function von Memen darin liegen, etwas zu bedeuten (Reuter/Becker 108), und die proper function jeder sprachlichen Aussage ihre Wahrheit im korrespondenztheoretischen Sinn ist (näheres Kap. xx, xx). Auch Dennett hat in einem Aufsatz von (1990) und insbesondere in Teil III seines Buches (1995, dt. 1997) die Theorie der Meme weiterentwickelt. In Schurz (2001, xx) wird die mem-basierte VE als Grundlage einer evolutionären Erklärung normischer Gesetze in allen Wissenschaften des Lebens verwendet. Schließlich hat Susan Blackmore die Memtheorie emphatisch aufgegriffen (1999, dt. xx) und einen radikalen aber auch kontroverser Ansatz der 'Imitation im engen Sinn' entwickelt, und die Konzeption der Memetik als einer 'Wissenschaft von den Memen', als Gegenstück zur 'Genetik', entwickelt und ausgebaut.


2.2 Evidenzen für kulturelle Evolution
Bevor wir in die Details der Memetik springen, überlegen wir uns die Frage nach den Evidenzen für die KE. Diese Frage stellt sich ganz anders als die nach den Evidenzen für die BE. Denn dass kulturelle Entwicklung existiert hat, und in etwa seit welchen Zeiträumen, ist ja bekannt, zumindest seit einigen tausend Jahren sind aufgrund schriftlicher Überlieferungen und anderer historischer Quellen die Details der Kulturentwicklung bekannt, in einem Maße, wie dies bei der BE nicht einmal annähernd der Fall ist. Die Frage nach den Evidenzen konzentriert sich hier vielmehr auf die Frage  welche Evidenzen gibt es dafür, dass diese Entwicklung am besten mithilfe der darwinschen Module beschrieben bzw. erklärt wird? Wir werden die Gründe hierfür in größerem Detail noch in anderen Kap. liefern (Kap. xx) und konzentrieren uns hier nur auf die Hauptargumente.

2.2.1 Das biologisches neurogenetisches Argument: Wir beginnen mit dem schwächsten und speziellsten Argument. Dieses von Plotkin (Aunger 13) vorgetragene Argument besagt ganz einfach, dass die Menschen viel zu wenig Gene haben, um die Zustände und insbesondere die Verdrahtung zwischen ihren Gehirnneuronen, also um ihre neuronale Software, zu bestimmen. Daher werden die Meme nie auf die Gene reduzierbar sein. Das Argument erscheint plausibel, zumal das menschliche Gehirn ca. 100109 Neuronen besitzt (Kandel et. al, Anfang). Aber unmittelbar überzeugt das Argument nicht. Für den konstanten bzw. anthropologisch universalen Anteil des menschlichen Gehirns lässt sich schwer angeben, wie viel Gene dafür erforderlich sind, da in der Genese des Organismus von den Genen ausgehend ja Unmengen von als konstant vorausgesetzter Interaktionen durch die Umwelt bestimmt sind. Die individuell variable Software andererseits wird von den Soziobiologien nicht nur durch die individuelle Variation in den Genen erklärt  dies wäre in der Tat nicht gangbar, da die individuelle Softwarediversität allemal größer ist als die individuelle Gendiversität. Soziobiologen erklären dies damit, dass unterschiedliche Reize der Umgebung auf dieselben genetischen Programme wirken und unterschiedliche Gedächtnisinhalte sowie konditionierte Neuronenverbindungen erzeugen. Versuchen wir dennoch eine Rechnung. Angenommen, 1% der Neuronen hat relevante Funktion, und 0,1% davon ist variabel; ergibt 106. Damit ergeben sich immer noch 1012 mögliche Zweier-Verdrahtungen von variablen effektiven Neuronen. Nicht alle sind aber durch Menschen realisiert  viele davon realisiert sind, ist unbekannt, und daher ist der Ausgang der Überlegung an dieser Stelle unbestimmt.

2.2.2 Faktische Existenz und Irreduzibilität kultureller Evolution: Nichts illustriert die gewaltige und jegliche menschliche Einzelleistung millionenfach übersteigende Kraft der kulturellen Evolution besser als Technik und Wissenschaft Man stelle sich als ein Gedankenexperiment vor, von einer Generation zur anderen würden schlagartig alle bisher akkumulierten Informationen und alle technischen Geräte vernichtet werden: die folgende Generation wäre wieder auf die Stufe des Steinzeitmenschen versetzt. Hunderttausende von Jahren würde es brauchen, diesen Rückstand wieder aufzuholen – und ich meine, nur ‚Gott‘ kann wissen, ob eine solche ‚zweite‘ kulturelle Evolution in eine ähnliche Situation hinein evolvieren würde wie jene, in der sich die Menschen gegenwärtig befinden. Nach Wilson müsste dies in der tat der Fall sein. Umgekehrt, katapultiert man ein Kleinkind der wenigen noch auf steinzeitlicher Stufe lebenden Stämme in Afrika oder Polynesien etc. in die westliche Zivilisation, so wird es den ‚Zeitsprung’ von Hunderttausenden von Jahren durch Erwerb der zivilisierten Tradition ohne größere Mühe aufholen.

In diesem Sinn liefern Boyd und Richerson eine vernichtende Kritik der These von Soziobiologen und evolutionären Psychologen, dass menschliche Kulturleistungen durch angeborene Merkmale erklärbar seien (Aunger 18). Kultur, so Boyd und Richerson, evolviert viel schneller als Gene dies jemals können. Auch die Tatsache, dass Menschengruppen von statistisch gleicher genetischer Ausstattung in derselben ökologischen Umgebung nachhaltig verschiedene Kulturen entwickeln (sofern sie separiert sind), zeigt nach Boyd /R. die Unabhängigkeit der KE von der BE (Aunger 146).

Man könnte höchstens argumentieren, so wie Wilson, dass die genetischen Anlagen des Menschen einen Möglichkeitsraum kultureller Evolutionen vor eine Art Suchraum, geben, in dem es gewisse Optima gibt, welche die Menschheit auf teils unterschiedlichen Pfaden nach und nach erreicht. Aber es gibt zwei Gegenargumente: 1) erstens gibt es vermutlich viele verschiedene gleichoptimale Optima (vgl. Kap. xx), sodass selbst wenn dieser Suchraum endlich-begrenzt wäre, aus diesem Argument keine kulturelle Konvergenz resultiert. Beispiele wären die gegenwärtigen Weltkulturen; oder verschiedene Religionen, die mehr oder weniger äquifunktional sind, oder verschiedene Kombinationen von regelgesteuerter und freiwilliger Kooperation, usw. 2) Zweitens aber  das Hauptargument gegen diese Sichtweise liegt in der praktisch unbegrenzten Kreativität kognitiver und technischer Strukturen und der damit verbundenen riesenhaften Komplexität dieses Suchraums, dessen Umfang mit der Anzahl seiner variablen Parameter exponentiell und oftmals superexponentiell wächst, sodass auch in riesenhaften Zeiträumen immer nur ein kleiner Teil davon durchlaufen werden kann. Man kann darin (durch lokale Differentialalgorithmen – s. xx, nachsehen) zwar lokale Maxima, aber keine, um globale Maxima zu finden (vgl. Abb. xx)  um letztere zu finden, gibt es zwar Heuristiken, aber keine deterministischen Strategien.

Mit Kreativität ist hier prima facie nicht der psychologische Kreativitätsbegriff gemeint, im Sinn eines intuitiven Schöpfungsaktes, sondern logisch-wissen­schaftliche Kreativität. Sie tritt beispielsweise, aber nicht nur, in folgenden vier Bereichen auf: Erstens tritt syntaktische Kreativität bei Sprachen hinreichender Komplexität auf, da durch rekursive Formbildungsregeln aus einem endlichen Vokabular unendlich viele Sätze gebildet werden können. Zweitens tritt semantische Kreativität in vollen Prädikatenlogik auf, da darin nicht nur unendlich viele Sätze sondern auch unendlich viele paarweise nichtäquivalente Propositionen (Aussagebedeutungen) gebildet werden können. Drittens tritt Kreativität in Theorien auf, beispielsweise insofern ein Theorem von Tarski besagt, dass keine Theorie 1. Stufe ihr eigenes Wahrheitsprädikat vollständig definieren kann, ohne in Widersprüche zu geraten; insofern Gödels Unvollständigkeitstheorem besagt, dass keine die Arithmetik enthaltende Theorie 1. Stufe alle in einem gegebenen Modell wahren Sätze beweisen kann; und Church' Theorem, dass es keinen Algorithmus gibt, der alle in diesem Rahmenwerk formulierbaren Fragen entscheiden kann. Viertens tritt Kreativität im Bereich von Differentialgleichungen hinreichender Komplexität auf, deren Lösungsfunktionen oftmals  nicht einmal eine approximativ  durch analytisch-mathematische Methoden ermittelbar sind, sondern nur durch Punkt-für-Punkt-Computersimulation in Erfahrung gebracht werden können.

2.2.3 Eliminationen in der KE Aussterben kultureller 'Spezies': Was die KE mit der BE gemeinsam hat, ist, dass es zu massenhafter Elimination von vergangenen kulturellen Memen gekommen ist. Dies hat freilich auch mit der zunehmenden Kolonialisierung, also Unterwerfung kleinerer Völker durch größere Völker im Zuge des zunehmenden Bevölkerungswachstums zu tun. Nach Dennett (723) ist das Aussterben einer Sprache oder Kultur ebenso schlimm wie das einer Spezies. Ich halte das für fraglich  bedenklich wird es aber, sowohl in der BE wie in der KE, wenn es zum Massensterben von Spezies oder Quasi-Spezies kommt. So gab es in der Geschichte der Menschheit zirka 100.000 verschiedene religiöse Glaubenssysteme (Wilson 1998, 325). Heute gibt es, abgesehen von einigen Tausend kleinen Stammreligionen, die fünf Weltreligionen des Christentums, Konfuzianismus, Hinduismus, Buddhismus und Islam. Pagel schätzt, dass es insgesamt etwa 500.000 verschiedene Sprachen in der Evolution der Menschen gegeben hat (Knight 395f), welche durch politische Machtkonzentration auf zirka sechs Tausende dezimiert worden sind, wobei knapp 15% aller heute noch lebenden Sprachen, also etwa Tausend, allein auf Neu-Guinea angesiedelt sind (PagelKnight 391ff; sowie Diamond 296ff), wo es vergleichsweise noch am meisten Eingeborenenstämme gibt, die nicht kolonialisiert worden sind. In China etwa eroberte die Chinesische Zhou Dynastie von 1100 bis 221 v. Chr. eroberte fast ganz China; als Folge davon wurden die meisten südchinesischen Eingeborenensprachen ausgelöscht; heutzutage sprechen 80% aller Chinesen Mandarin, daneben gibt es fünf weitere Hauptsprachen und einige Eingeborenensprachen, die überlebt haben. Analog verhält es sich mit dem Aussterben technischer Geräte.


Yüklə 0,92 Mb.

Dostları ilə paylaş:
1   2   3   4   5   6   7   8   9   ...   19




Verilənlər bazası müəlliflik hüququ ilə müdafiə olunur ©muhaz.org 2024
rəhbərliyinə müraciət

gir | qeydiyyatdan keç
    Ana səhifə


yükləyin