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Wenn der Begriff des Memotyps etwas analoges wie der des Genotyps bezeichnen soll, dann muss er eine Kombination von unterschiedlichen Memen im Kopf eines Individuums bezeichnen, welches diese von verschiedenen kulturellen 'Eltern' übernommen hat. Allgemeiner und wichtiger der Begriff des Memkomplexes  Blackmore (73, Becker) spricht auch von 'Memplexen' (dem gesamten Genbestand oder Genom entspräche dann die gesamte Software eines menschlichen Gehirns). Kulturgüter besitzen oft eine komplexe Struktur, die sich in Bestandteile zerlegen lässt; dies gilt für Erkenntnisse, darstellbar z.B. als Satzsysteme, wie für technische Herstellungsanleitungen oder auch technische Geräte, die aus diversen Einzelbestandteilen bestehen, die auch unabhängig fabriziert werden, usw. Weiter unten werden wir eine Besonderheit von Memkomplexen im Vergleich zu Genkomplexen kennen lernen, welche die Wahrscheinlichkeit von gezielten Makromutationen betrifft.

2.3.3 Detailprobleme des Moduls der Reproduktion. Die Frage, wie Meme reproduziert bzw. von einem zum anderen Individuum übertragen werden, hängt eng mit der Identitätsfrage zusammen. Schon Cafalli-Sforza/Feldman (1981) betonen, dass die Trans­mission von Memen sich in alle sozialen Richtungen ausbreitet, nicht nur über die biologische Nachkommensrelation (natürlich können Eltern hohen Einfluss auf die Kinder haben, und haben dies im Regelfall auch). Die Übertragung von der älteren auf die jüngere Generation ist dabei für die nachhaltige Tradierung essentiell (Boyd/Richerson 1985, 8). Boyd and Richerson (1985, 7f) sprechen daher allgemein von "kulturellen Eltern-Kind-Beziehungen" (das entspricht dem Typ-II-Selektions­modell in Sober 1993, 210): übernehme ich etwa viel von meinem Schullehrer, oder Musikidol, so ist dieser einer meiner kulturellen Eltern. Da jedes Individuum viele kulturelle Eltern haben kann, ist kulturelle Vererbung sozusagen multi-parental (oder multi-sexuell); und sobald sich das Ideengut von verschiedenen kulturellen Eltern nicht unabhängig abgespeichert in einem Individuum findet, sondern sich zu einem Zusammenhang, zu einer Synthese kombiniert, findet etwas statt, was es in der genetischen Evolution ebenfalls nicht gibt  nämlich blending inheritance. Diese kulturelle blending inheritance ist auch der Grund, warum die kulturellen Abstammungslinien zumeist nicht die Form eines Verzweigungsbaumes annehmen, sondern eines gerichteten Graphen, in dem getrennte Äste sich auch wieder vereinen können. Darauf gehen wir noch näher ein.



Kontrovers ist die Frage nach dem Mechanismus der Transmission von Memen von einem Individuum zu anderen. Die Mehrheit der Autoren sieht dabei eine Pluralität von Mechanismen am Werk: Cafalli-Sforza/Feldman (1981) nennen Prägung, Konditionierung, Beobachtung, Imitation, und persönliche Unterrichtung als Weisen der Memtransmission; Durham (1991) und Runciman (1998) unterscheiden zwischen Imitation und Lernen; Laland und Odling-Smee (2000) lassen pauschal alle Formen sozialen Lernens zu (BlackmoreBecker 60f). Blackmore (Becker, 62ff; Buchxx) schränkt dagegen Memtransmission, und damit auch Meme selbst, auf eine enge Konzeption von Imitation ein, die einem echten Stück-für-Stück-Kopiervorgang bzw. einer Replikation im biologischen Sinn ähnelt.

Blackmore unterscheidet zunächst zwischen individuellem und sozialem Lernen (62)  bei letzterem wird etwas von einer anderen Person gelernt; bei erstem erfolgt das Lernen ohne Gegenwart einer anderen Person, z.B. durch Auseinandersetzung mit einem Problem in individuellem trial-und-error-Spiel. Der Vorteil sozialen Lernens liegt darin, den Erfolg einer evtl. langen Lerngeschichte eines anderen übernehmen zu können, ohne die Kosten investierten Zeit und Bemühungen der Lerngeschichte zahlen zu müssen. Nicht alle Arten sozialen Lernens sind aber Imitation  als nichtimitative Formen sozialen Lernens nennt Blackmore 1.) Zielsimulation, 2.) Reiz-Verstärkung und 3.) lokale Verstärkung (62f.). Dabei wird jedesmal von einem anderen Individuum eine Disposition übernommen, ohne dass die zugrunde liegende Fertigkeit imitiert wird, vielmehr ist die Fertigkeit im lernenden Individuum entweder schon da oder wird individuell erlernt, und nur eine gewisse Zielanpassung dieser Fertigkeit wird von anderen Individuum gelernt. Bei der Ziel-Simulation (Tomasello 1996) beobachtet ein Tier, wie sich ein anderes Tier eine neue Futterquelle verschafft (z.B. Bananen aus Kisten zu nehmen) und versucht dasselbe zu erreichen, ohne dass es dabei die Tätigkeit des Banane-aus-der-Kiste-nehmens imitiert; die kann es schon. Ähnlich schauen bei der der Reizverstärkung z.B. britische Meisen von anderen ab, dass man die Folien von Milchflaschen aufpecken muss, um an den Rahm zu gelangen, ohne dass die Tätigkeit des Aufpeckens imitiert wird. Bei der lokalen Verstärkung lernen z.B. Kaninchen voneinander, nicht den lärmenden Zug zu fürchten. Wie Blackmore ausführt, wird in allen diesen, nicht immer klar abgrenzbaren Fällen ein anderwärtig erlerntes Verhalten auf einen neuen Stimulus oder neue Anwendung übertragen, wobei der neue Stimulus bzw. die neue Anwendung sozial erlernt wird, aber nicht die zugrunde liegende Fertigkeit. Es gibt dabei, so Blackmore, keinen eigentlichen Replikator  was aber fraglich ist, da immerhin etwas sozial übernommen bzw. erlernt wird, nämlich die Adaption eines Verhaltens an ein neues Ziel. Es gibt darüber hinaus nach Blackmore dabei keine Möglichkeit der kumulativen Evolution  d.h. hat ein Tier einmal gelernt, Milchfalschen aufzupicken, dann war es das  dieser Punkt Blackmores ist schon überzeugender. Anders gesprochen, der innere Möglichkeitsraum von Variationen ist bei diesen Arten des sozialen Lernens sehr gering und sogleich erschöpft. Echte Imitation findet nach Blackmore dagegen statt, wenn das Individuum nicht nur das Ziel sondern auch die Technik der Zielerreichung durch Nachahmung erlernt (Blackmore 66; Whiten et al 1996). Menschen sind perfekte Imitierer und ahmen ganze Verhaltenssequenzen zur Beobachtung nach (65ff; Meltzoff 1996); insbesondere das Kind, das beispielsweise im Spiel alles Erlebte detailgetreu 'nachspielt'. Echte Imitation tritt nach Blackmore zwar auch bei Wellensittichen, Tauben, Ratten, oder Schimpansen auf. Aber nur beim Menschen kann sie sich nachhaltig entfalten, aus zwei Gründen: erstens besitzen Menschen, im Gegensatz zu den meisten Tieren, die Fähigkeit, sich in die Sichtweisen und Absichten anderer Personen hineinzuversetzen (vgl. dazu Kap. xx), und dies ist für Imitation essentiell; und zweitens führt die menschliche Fähigkeit der Imitation von Lauten zur Evolution der mündlichen Sprache. Beides zusammen ermöglichst erst die Imitation komplexer Fertigkeiten die nur dem Menschen gelingt. Diese These ist Blackmore besonders wichtig, denn sie vertritt, im Gegensatz zu etlichen Biologen, die Ansicht, dass sich genuine kulturelle Evolution auf den Menschen beschränkt (Blackmore 68). Das Beispiel des Waschens von Süßkartoffeln unter japanischen Makaken, welches viele Verhaltensbiologen als Beispiel kultureller Evolution im Tierreich ansehen, weil es von Individuum zu Individuum einer bestimmten Makakenhorde weitergereicht wurde, und zwar so schnell, dass eine genetische Erklärung ausscheidet, ordnet Blackmore dem Lernen durch Reizverstärkung zu – sie meint also, dass dabei die Fertigkeit des Waschens nicht wirklich imitiert wurde; sondern bereits vorher gekonnt wurde. Auch viele angeblichen Schimpansentraditionen, so Blackmore, seinen keine echte kulturelle Evolution in ihrem engen Sinn von Imitation.

Blackmores Begriff der 'kumulativen Evolution' ist wichtig; und wir wollen ihn präzisieren: wir meinen damit Evolution, die unbegrenzt ist, d.h. es gibt keine generellen Gründe, dass sie nach einer Zeit zum Erliegen kommt, obwohl es aus kontingenten speziellen Gründen so sein könnte. Es ist ebenfalls zumindest möglich, dass in dieser Evolution gewisse selektierte Eigenschaften sich akkumulieren, also 'anhäufen'  obwohl, wie man gerade aus der Wissenschaftstheorie weiß (Kuhnxx), was aber auch für Kulturgeschichte evident ist  Evolution meist nicht eine einfache 'Kumulation' im Sinn einer Anhäufung von selektierten Merkmalen ist, sondern auch Revolutionen und Wiederablegung von bisherigen Fähigkeiten mit einschließt. Im Grunde ist 'kumulativ' missverständlich; und das Wort 'unbegrenzt-iterativ' wäre geeigneter.

Die Mehrzahl von Autoren haben Blackmores engen Standpunkt kritisiert. Prima facie scheint es sehr unterschiedliche Arten von Imitation 'i.w.S.' zu geben, die mehr oder weniger automatisch-instinktiv oder bewusst-intelligent ablaufen können (vg. L. Morgan; in Heyes/Plotkin 145). Millikan (Becker 105) argumentiert, dass nur wenige Arten des sozialen Lernens Nachahmungen im engen Blackmore-Sinne sind; in den meisten Arten sozialen Lernens ist sowohl Nachahmung wie Selbst-Lernen involviert. Millikan bringt das Beispiel des Erlernens von Fußballspielen oder Geige-Spielen  niemand lernt Fußball durch bloßes Nachahmens eines Fußballkünstlers; mühseliges eigenes Training; sukzessive trial- und error-Verbesserung sind nötig. Beim Nachahmen komplexer Operationen spielt das Verstehen, worauf es ankommt, eine bedeutende Rolle (MillikanBecker 105); beispielsweise zu verstehen, welche Operationen in welcher Reihenfolge auszuführen sind, was bloß nebensächliches Beiwerk ist, usw. Wenn ein Hominide z.B. beobachtet, wie eine Kokosnuss vom Baum auf einen Stein fällt und dadurch aufplatzt, und daraufhin die Kokosnuss auf Steine schleudert, um sie zu öffnen, dann ist das mehr als Blackmore-Nachahmung (Millikan 106). Kurz gesagt, in den meisten sozialen Lernprozesse ist Nachahmung anderer Individen mit individuellem trial-und-error-Lernen und Einsicht in eine unauflösliche Kombination verquickt.

Auch lässt sich, im Gegensatz zu Blackmores These, kaum bestreiten, dass kulturelle Tradition schon bei Tieren auftritt. Es stimmt zwar, dass kumulative kulturelle Evolution, also die Anreicherung komplexer tradierter Wissensbestände, nur beim Menschen auftritt (Tomasello, Blackmore 118), und dasselbe gilt für komplexes Sprachvermögen  doch Tradierung von erworbenen Fähigkeiten über mehrere Gewohnheiten und damit zusammenhängend Imitation konnte bei Schimpansengruppen durchgehend nachgewiesen werden  jede Schimpansengruppe verfügt über ein gruppenspezifisches Muster an Gewohnheiten (SommerBecker 124ff). Beispielsweise zerschlagen westafrikanische Schimpansen hartschalige Nüsse mit Hämmern und Ambossen aus Stein, wobei die Ambosse mehrere 100 Meter weit hergeholt werden (Sommer 125), während die ostafrikanische Schimpansen dies trotz Anwesenheit von Nüssen nicht tun; einige Schimpansengruppen stecken dünne biegsame Pflanzenteile in Termitenhügel, um sie abzulecken, was andere wieder nicht tun. Die Schimpansen von Tai und Gombe betupfen als einzige Wunden mit Blättern (126). Auch Rituale des Lausens sind überall etwas anders. Was die bereits erwähnten japanischen Makaken betrifft, so wurde die Technik des Kartoffelwaschens von einem anscheinend genialen Weibchen namens Imo 1953 eingeführt (Sommer 129);; sie ging dann sogar dazu über, Getreidekörner, die mit Sand vermischt waren, in Wasser zu waschen, wobei der Sand unterging und die Getreidekörner oben blieben  es vergingen Monate bis Jahre, bis die Mitglieder ihrer Gruppe ihr Verhalten sich zu eigen machten; es war also dabei neben Imitation auch trial-und-error Selbstlernen involviert. Im übrigen ist auch die frühere These Tomasellos, dass Schimpansen die Blickrichtung des anderen nicht erkennen (xx?), mittlerweile fraglich, denn ein späteres Experiment zeigte, dass Schimpansen Personen mit offenen Augen öfter anbettelten als Personen, deren Augen mit einem Tuch verbunden waren (Sommer 132). Verhalten zu eigen machten; also mehr bzw. anders als direkte Imitation  m.a.W., in begrenzter Weise scheinen sich auch Schimpansen in das, was eine andere Person sieht, hineinversetzen zu können.

2.3.4 Replikation, Reproduktion, Informationsübertragung und Retention. In welchem genauen Sinn werden Meme repliziert bzw. reproduziert? Hierzu eine Begriffsklärung. Unter einer Replikation verstehen wir im folgenden einen Mechanismus eines syntaktischen bzw. physikalischen Teil-für-Teil-Kopiervorgangs  wie etwa das Abpausen eines Bildes, das photographische Abbilden eines Bildes (hier wird jeder Gegenstandspunkt punkt auch einen Bildpunkt abgebildet), das Einscannen einer Schrift, oder die Replikation der DNS.9 Im Gegensatz dazu wäre ein semantischer Reproduktionsvorgang ein 'intelligenter' Mechanismus, der zunächst ein 'inneres' Gesamtmodell des zu reproduzierenden Systems entwirft und dieses dann 'entsprechend dem inneren Modell' nachkonstruiert  wie etwa das Nachzeichnen eines bedeutungsvollen Bildes, etwa eines Sterns oder Tierkopfes, ohne das Bild dabei abzupausen. Unter Reproduktion verstehen wir daher etwas allgemeineres als Replikation  der Begriff soll sowohl syntaktische Replikation (Kopieren im engen Sinn) wie hinreichend genaue semantische bzw. modellbasierte Reproduktion bezeichnen.

Millikan weist darauf hin, dass es bei Memen nichts gibt, was  so wie der DNS-Code  direkt kopiert wird; schließlich werden bei Imitation oder Kommunikation keine Neuronenmuster abgelesen (Becker 104). Sperber (Aunger 18) benutzt ein Beispiel von Dawkins (VorwortBlackmore): einmal wird ein bedeutungsloses Gekritzel der Reihe nach von 10 bis 20 Leuten aus dem Kurzzeitgedächtnis abgezeichnet, einer vom anderen, und das andere Mal ein bedeutungsvolles Gekritzel, z.B. ein Stern. Während beim bedeutungslosen Gekritzel, ähnlich wie beim Spiel der 'stillen Post', sich die Fehler des Abzeichnens kumulieren, und schon etwa das Gekritzel der 15. Person mit dem ursprünglichen Gekritzel kaum eine Ähnlichkeit mehr aufweisen dürfte, wird im zweiten Fall die Gestalt des Sterns erkannt und auch es kommt zu keiner kumulativen (sondern nur zu einer einfachen) Fehlerrate; auch die 10. Person malt einen Stern. Im ersten Fall liegt eine Replikation (allerdings mit hoher Fehlerrate) vor, im zweiten Fall eine semantische Reproduktion.

Dawkins hatte sein Beispiel allerdings zu einem anderen Zweck benutzt als Sperber. Er wollte damit sagen, dass eine syntaktische Replikation, die eine so hohe Fehlerrate besitzt wie das Abmalen bedeutungsloser Gekritzel aus dem Kurzzeitgedächtnis, die Kumulation der Fehler zu hoch ist, damit Evolution zustande kommt. Evolution durch Replikation erfordert zwar keine 100%ige Kopiergenauigkeit, denn sonst gäbe es ja keine Mutationen, aber eine hohe Kopiergenauigkeit, damit sich vorteilhafte Mutationen über viele Generationen hinweg ohne Mutation erhalten können und dadurch ihren Selektionsvorteil aufbauen können. Im allgemeinen darf die Mutationsrate darf daher weder zu hoch noch zu niedrig sein. Liegt sie z.B. bei 1 pro einer Million Reproduktionen, so kommt Evolution kommt fast zum Erliegen und Adaption an veränderte Umweltbedingungen erfolgt zu langsam; liegt sie dagegen bei 1 pro 5 Reproduktionen, dann wird sich jede vorteilhafte Mutation schnell randomisieren, bevor sie sich durchsetzen kann, und es kommt zu keiner Selektion  wir werden dies in Kap. xx populationsdynamisch nachvollziehen. Eine optimale Mutationsrate läge z.B. zwischen 1 und 5 pro 1000 Reproduktionen  dann geschehen in einer großen Population für Adaption genügend Mutationen, und eine vorteilhafte Mutante durchschnittlich viele Hunderte von Generationen exakt kopiert werden.

Das Problem einer zu hohen Kopierfehlerrate taucht schon bei der präbiotischen Evolution von RNA auf (s. Kap. xx).. Die Lösung des Problems der Reduktion von Kopierfehlern bei der Replikation der DNS sind Enzyme, welche die Fehlerrate herabsetzen oder Fehler reparieren. Dawkins meint, auch bei der Replikation von Memen müsse es etwas Ähnliches geben, sonst wäre die Kopiergenauigkeit zu gering  und er meint, das semantische Erkennen bei leiste dies eben (xx). Sperber wendet Dawkins Beispiel gegen diesen und argumentiert, das Beispiel zeige nur, dass die Transmission von Memen eben keine Replikation sei.

Aus unseren Überlegungen sollte nicht geschlossen werden, dass Replikation 'primitiver' sei als semantische Reproduktion. Sie ist insofern vollständiger, als sie unabhängig ist von Fehlern der Modellbildung. Eine fast fehlerfreie Kopiermöglichkeit von Gehirninhalten  im Sinne eines 'Nürnberger Trichters'  wäre jeder herkömmlichen Möglichkeit des Lernens durch Lehrer überlegen. Aber exakte Replikation von komplexen Systemen ist eben nur schwer zu realisieren.

Ich verwende dieses Beispiel nur, um zu zeigen, wozu der weitere Begriff der Reproduktion benötigt wird. Millikans Definition von Reproduktion (Lang 19f Def.) erscheint mir im übrigen zu kompliziert und zu wenig eindeutig zu sein, weshalb ich meine Charakterisierung verwende, welche auf der Unterscheidung von syntaktischer (Teil-für-Teil-basierter) Replikation und semantischer (modellbasierter) Reproduktion aufbaut (xx Fussn.). Transmission von Memen ist fast immer Reproduktion, nicht Replikation. Auch die Imitation beruht auf verstehendem Nachvollzug und ist keine syntaktischer Kopiermechanismus. Aber dies tut der Verallgemeinerung der Evolutionstheorie eben keinen Abbruch  solange nur die Fehlerrate gering genug ist, bzw. der Ähnlichkeitsgrad hoch genug ist, damit kulturelle Evolution zustande kommt. In diesem Sinn haben insbesondere Boyd und Richerson argumentiert  Replikation ist für Evolution von Memen gar nicht nötig  es genügt ein hinreichend hohes Maß an Informationsübertragung (natürlich mit Variationen) bei der Transmission von Memen, damit Evolution zustande kommt (B/R 96). (Argument 1:) Dasselbe phänotypische Verhalten, so Boyd (Aunger 155-7), kann durch viele unterschiedliche Regeln oder neuronale Netzwerke generiert werden, und es ist keineswegs gesagt, dass zwei Personen, die dasselbe Lied auf dieselbe Weise singen können, dies durch Aktivierung genau derselben neuronalen Strukturen tun (vgl. auch Pollock). Auch die Geometrie von Mund, Stimmband und Zungenbewegung bei der Phonemerzeugung variiert von Individuum zu Individuum. Wesentlich ist nicht exakte Replikation, sondern ein hinreichend hohes Maß an Ähnlichkeit in den relevanten Merkmalen. (Argument 2:) Insbesondere betont Boyd, dass bei sozialer Nachahmung vieler Personen als Vorbilder dienen  beispielsweise hört das Kind viele andere Personen sprechen, wenn es sprechen lernt  und dass vermutlich keine bestimmte Person nachgeahmt wird, sondern dass ein gewisser statistischer Durchschnitt nachgeahmt wird bzw. das Resultat der sozialen Imitation ist (BoydAunger 159).

Ein solches statistisches soziales Lernen, wie es durch solche Gleichungen modelliert wird, ist ebenfalls ein klarer Beleg, dass keine Replikation vorliegt, wohl aber Reproduktion in unserem Sinne. Überdies ist statistisches soziales lernen ein Beleg für blending inheritance, d.h. jene Art von Mischvererbung, die Mendel bei der biologischen sexuellen Reproduktion widerlegt hatte. Boyd/Richerson modellieren ihr kul­tu­relles Vererbungsmodell mathematisch-statistisch mit Hilfe kontinuierlicher Variablen bzw. Zustandsgrößen (xx). Sei X eine (evtl. mehrdimensionale) Zustandsvariable, deren Wert den Lernzustand vor dem Lernen wiedergibt; X* nach dem Lernen; H steht für die Variable, deren Wert dem sozialen Lernziel entspricht.(X) misst den Mittelwert von X über alle Individuen, und v(X) die Varianz von X, d.h. die durchschnittliche Abweichung vom Mittelwert, welche zugleich ein Maß für die Individualität der Individuen, d.h. ihrer Abweichung vom sozialen Lernziel darstellt. L sei ein Parameter, der die Wichtigkeit des sozialen Lernens wiedergibt. dann lautet die Transformationsgleichung nach B/R für jedes einzelne Individuum

X' = aX + (1-a)H mit a = var(X) / L + var(X)

d.h. der Zustand nach dem Lernen wird durch die Gewichte a und (1-a) bestimmt und ein Stück weit vom Anfangszustand X hin zum sozialen Lernziel N gelenkt; und zwar umso mehr, je kleiner a bzw. größer (1-a) ist. Ist a groß, also v(X) groß und L klein, dann sind sozusagen individuelle Variationen bzw. Lernfehler hoch; umgekehrt ist (1-a) klein, wenn v(X) klein und L groß ist. Für den statistischen Schnitt folgt daraus (X*) = a·(X) + (1-a)H, sowie v(X*) = a2v(X) + (1-a)2v(Zufall)

(v(Zufall) misst die Varianz von Zufallsfehlern beim sozialen Lernen).

B/R argumentieren in ihrem Modell, dass allein Informationsübertragung für das Zustandekommen von KE genügt. Da B/R aber keine populationstheoretischen Studien betreiben, erfassen sie nicht, wie sich ein solches statistisches Lernen über viele Generationen auswirkt (xx?). Da jedenfalls die 'Lernnorm' H selbst variabel ist und durch bedeutende role models modifiziert wird, ist ein populationsdynamisches Mikromodell, welches die gemeinsame Evolution vieler Individuen betrachtet bzw. simuliert, den statistischen Makroüberlegungen wohl überlegen. Jedenfalls ist auch hier zu erwarten, dass eine zu große individuelle Variation die Entstehung von gerichteter KE verhindert. Beispielsweise mag ein Grund (wenn auch nicht der Hauptgrund) dafür, dass die KE im Bereich von Technik und exakter Wissenschaft wesentlich rasanter vorangeschritten ist als im Bereich von spekulativer Philosophie, Weltanschauung oder künstlerischen Stilrichtungen, daran liegen, dass man es im ersten Bereich mit exakten Memsystemen zu tun hat, die einer hochgradig genaue Reproduktion fähig sind, während die Memsysteme des zweiten Bereichs so unscharf und metaphorisch formuliert sind, dass sie zu ihrer 'Interpretation' ein hohes Maß an Deutung bedürfen, was nachhaltige gerichteten Evolution verhindert  wir kommen auf diese Frage noch zurück. Zusammenfassend identifiziere ich den wesentlichen ersten Modul von Evolution i.w.S. als Reproduktion bzw. anders gesprochen, als einen Mechanismus, der hinreichend genaue Informationsübertragung gewährleistet  ich sehe Replikation als zu eng und Informationsübertragung beliebigen Grades daher als zu weit an. Dies soll die Analyse von Prozessen, die nur auf schwacher Informationsübertragung beruhen, natürlich nicht ausschließen.

In gewisser Weise noch weiter als Informationsübertragung oder Ähnlichkeitsreproduktion ist Campbells Begriff der Retention bzw. Beibehaltung, insofern er auch noch die bloße Selektion qua unterschiedlicher Stabilität von Varianten in der Zeit als Evolution mit einschließt, ohne dass diese Varianten bzw. evolvierenden Systeme durch Reproduktion erneuert und vermehrt werden müssten. Campbell sieht daher auch z.B. Prozesse des Kristallwachstums als Evolution an  ich spreche hier, wenn bloße Retention qua Stabilitätsselektion involviert ist, von Prä-evolution, da es hierbei zu keiner kumulativen und variationsoffenen Evolution kommen kann: die Prozess des Kristallwachstums ist irgendwann zu Ende, und seine optimalen Varianten sind durch die Chemie ein-für-allemal vorgegeben (näheres in Kap. xx).



2.3.5 Detailprobleme der Variation.

2.3.5.1 Hohe Variabilität: Ein erster Einwand bestünde darin, dass sich in der KE Reproduktion und Variation in der Traditionsübernahme in einem einzigen Prozess vereinen (B/R sprechen von 'biased transmission; xx), denn die junge Generation übernimmt Wissen, Ideen und Leitbilder der älteren Generation und variiert sie zugleich, versucht sie zu verbessern, der neuen 'Zeit' anzupassen, etc. Dieser Einwand ist nicht grundsätzlich, insofern auch in der biologischen Evolution Variationen (Mutationen und insbesondere Rekombinationen) während der Reproduktionsprozesse stattfinden. Wie erwähnt ist nur wesentlich, dass die Reproduktionsgenauigkeit hinreichend und Variationen mar­kant aber nicht zu stark sind, damit kumulative Evolution zustande kommt. Die geisteswissenschaftliche Methode der Interpretation ist eine solche Kombination von Reproduktion und Variation. Im Bereich der 'interpretativen' Geisteswissenschaften scheint es nicht zu einer kumulativen Evolution zu kommen? Woran liegt dies?

Nun gibt es zwei Methodenparadigmen der interpretativen Wissenschaften; das analytische und das spekulativ-postmoderne. Dem analytischen Paradigma zufolge gibt es so etwas wie eine richtige Interpretation, jene, die der Autor am ehesten meinte bzw. im Sinn hatte, welche es herauszufinden gilt (xx). Hier gibt es zwar objektive Interpretationskriterien, aber die Interpretation ist sozusagen 'meisterzentriert'; es gibt zwar eine gewisse Evolution, aber es findet keine Loslösung vom 'Meister' statt; d.h. die Evolution ist nicht kumulativ, weil der 'Meister' die Autorität ist und nicht darüber hinaus gedacht wird  der Möglichkeitsraum von sinnvollen Interpretationen eines großen Meisters wie Kant wird in den folgenden ein bis zwei Jahrhunderten ausgelotet, aber dann kommt die Entwicklung zum Erliegen. Autorzentrierte Interpretation ist ein berechtigtes Anliegen, aber es ist gebunden an die Singularität des Autors, ähnlich der Ausdeutung eines empirischen Phänomens in der Naturwissenschaft, und ganz anders als Theorienbildung, und deshalb führt es zu keiner kumulativen Evolution. Im zweiten Paradigma wird angenommen  oder jedenfalls so getan, als ob  'der Text selbst spricht' (xx); zumeist sind auch die interpretierten Texte hier vieldeutig und spekulativ. Hier gibt es zwar einen großen Möglichkeitsraum von potentiellen Interpretationen, aber es gibt keine klare Selektion, welche Interpretation zu bevorzugen ist  man denke an die verschiedensten Hegel-Interpretationen, von den 'RechtsHegelianern' und zu den 'Linkshegelianern', den 'orthodoxen Marxisten' zu den 'kritischen Theoretikern'; geschweige denn die möglichen Interpretationen eines Romans wie Elfriede Jellineks 'Die Kinder der Toten'. Hinzu kommt, dass die Anhänger dieses Paradigmas meist selbst ihre Ideen so vieldeutig interpretieren, dass kaum genaue Reproduktion möglich ist. Daher kommt auch hier keine gerichtete kumulative Evolution zustande, sondern eher ein Ausschöpfung aller grundlegenden Ideen bzw. weltanschaulichen Fragestellungen der jeweiligen Zeit, oder gar des Menschen überhaupt, welche sich alle irgendwie im Werk wieder finden lassen. Während es im ersten Paradigma also die fehlende Variation und Erprobung des neuen ist, ist es im zweiten Paradigma die fehlende Selektion und die zu ungenaue Reproduktion, welche für das Ausbleiben kumulativer Evolution verantwortlich ist. Beides sind Gründe, warum man von der historisch-interpretationszentrierten Philosophie häufig als von der philosophia perennis spricht.


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