Schülerin in Schleswig
Marielen Opasinski
Ich bin 16 Jahre alt und komme aus Schleswig-Holstein. Seit meiner Geburt leide ich an der Sehschädigung Achromatopsie, welche mir mein Leben nicht immer einfach macht. Das Landesförderzentrum Sehen (LFS) unterstützt mich nahezu, seitdem ich denken kann. Schon vor ca. zehn Jahren habe ich an Kursen und Veranstaltungen teilgenommen. Wenn ich heute zurückdenke, was das LFS mir in meinem Leben ermöglicht hat, bin ich Allen, die ein Teil dessen sind und Allen, die mich auf meinem Weg begleitet haben, mehr als dankbar. Ich bin sehr froh, dass es das LFS gibt. Ich denke, dass ich im Namen aller Schülerinnen und Schüler des LFS spreche und dass alle meine Aussage unterschreiben würden. Ich habe nicht nur gelernt, was ich für eine Krankheit habe und wie ich damit umgehen kann. Ich habe auch gelernt, wie ich bestmöglich gefördert werden kann, und ich habe außerdem sehr viele liebe und nette Leute kennengelernt und viele Freunde gefunden. Im Allgemeinen habe ich sehr viele neue und schöne Erfahrungen sammeln dürfen. Ich habe zum Beispiel gelernt, wie ich offen über meine Sehschädigung reden kann und wie ich sie meiner Familie, meinen Freunden oder auch z. B. meinen Lehrern oder Mitmenschen erklären kann. Ich habe Techniken und Strategien gelernt, leichter durch den Alltag zu kommen, ich habe Hilfsmittel wie Lupen o. A. ausprobieren dürfen, um herausfinden zu können, was ich benötige, um zurechtzukommen. Ich habe mich mit vielen anderen Schülern über unterschiedliche Sehschädigungen unterhalten, wir hatten somit die Möglichkeit UNSERE EIGENEN Erfahrungen, Techniken und Tipps mit anderen zu teilen und ihnen gegebenenfalls weiterzuhelfen. Ich habe selbst Schülerinnen und Schüler kennengelernt, die ähnliche oder sogar gleiche Diagnosen wie ich selbst haben. Dieses Gefühl zu wissen, dass man nicht alleine ist, ist einfach unbezahlbar - dafür bin ich sehr dankbar. Ich habe auch gelernt, wie ich selbst mobil werde, ohne dass meine Eltern o. A. mich fahren müssen. Wie ich in der Öffentlichkeit meine Hilfsmittel einsetze, wie ich Pläne lesen kann und Vieles mehr. Ich habe das Schreiben mit zehn Fingern am Computer gelernt, damit es mir in meiner Zukunft leichter fällt. Meine Erfahrungen decken
Außenaufnahme des Kurshauses (ca. 1995)
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so eine große Bandbreite ab, dass ich gar nicht alles aufzählen kann. Aber man verbindet das LFS nicht nur mit Lernen oder Erfahrungen, sondern auch mit Spaß und Aktion. Wenn ich zum Beispiel an die Ski-Kurse zurückdenke, wo wir in Österreich, in Ramsau Skifahren waren, oder an die Kurse auf dem Scheersberg mit kreativen Freizeitaktivitäten oder an die jährlichen Sommerfeste des LFS. Egal welche Veranstaltung, man nimmt immer etwas Schönes mit. Selbst meine Eltern sind sehr, sehr begeistert, besonders von den Anfangskursen mit Eltern, denn nicht nur Schülerinnen und Schüler haben die Möglichkeit, sich untereinander auszutauschen, sondern auch die Eltern. Auch meine Eltern haben eine Menge vom LFS gelernt und mitnehmen dürfen. In Bezug auf meine Zukunft hat das LFS viele Fragen und Wünsche unterstützt und beantwortet. Kurse, in denen man sich Gedanken über seine Zukunft machen soll oder in denen z. B. ein Hospitationstag absolviert wird, haben einen wichtigen Grundbaustein des Berufslebens gesetzt. Was mich aber ganz besonders am LFS, an den Menschen, die dort arbeiten und an den Kursen begeistert, ist, dass man sich für Nichts schämen muss. In all den Jahren, die ich beim LFS unterstützt wurde, habe ich noch nie erlebt, dass sich irgendeine Schülerin oder ein Schüler für irgendetwas schämen musste oder ihr/ihm irgendetwas unangenehm sein musste. Es ist ein ganz besonderes Miteinander und ich hoffe, nein, ich wünsche mir, dass das LFS noch lange bestehen bleibt. Denn es ist eine große Chance für Kinder und Jugendliche mit Sehbehinderung oder Blindheit und es ist eine Förderung verbunden mit Spaß und Aktion. Alle Mitarbeiter sind mit viel Engagement dabei. Ich werde im Sommer 2018 meine Ausbildung als Verwaltungsfachangestellte antreten, auch für die Förderung vor und während der Ausbildung ist gesorgt, wie z. B. für die Beschaffung notwendiger Hilfsmittel etc. Das Team bzw. die jeweilige Beratungslehrkraft setzt sich sehr für die Schülerin bzw. den Schüler ein und das ist auf das gesamte Schul-, Studien- und Arbeitsleben bezogen. Das gesamte Team des LFS ist motiviert und engagiert, die Leute kommen strahlend auf dich zu, fragen dich und versuchen alles, was in ihrer „Macht" steht, um die beste Förderung erzielen zu können. Als ein Bespiel würde ich gerne Josef Adrian nennen, den Leiter des LFS. Unter einem „Chef" von etwas Größerem stellt man sich ehrlich gesagt jemanden vor, der zurückgezogen hinter seinem Schreibtisch sitzt und dafür sorgt, dass alles glatt läuft. Das erstaunlich Schöne an Josef Adrian (und natürlich dem ganzem Team!) ist aber, dass er auf dich zukommt, mit dir spricht, fragt, wie es dir geht, wie du selbst zurechtkommst und auch was besser gemacht werden kann, ob man Anregungen oder Wünsche hat. Er freut sich jedes Mal über gutes Feedback, schöne Erfahrungen oder erreichte Ziele der Schülerinnen und Schüler, der Studierenden o. A. Er - bzw. alle - treten einem jedes Mal wie ein „Freund" entgegen.
Ich bin einfach dankbar für alles, was ich mit dem LFS in Verbindung bringen kann und darf.
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Weshalb Kompetenzzentren dringend erforderlich sind und weshalb es so viele Widerstände gibt (Eine kurze Antwort von Josef Adrian "Inklusion braucht differenzierte Strukturen" am 1.08.2016 in Graz beim 36. Kongress des Verbandes für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik)
Professorin Dr. Renate Walthes
Zwar existiert das Landesförderzentrum Sehen in Schleswig schon 35 Jahre, wenn man jedoch die Diskussion innerhalb der Pädagogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung in Deutschland verfolgt, hat man leider den Eindruck, als handele es sich hier um eine Orchidee, ,nice to have', aber leider nicht stilbildend für das System. Natürlich war es in den frühen achtziger Jahren leichter, ein Kompetenzzentrum Sehen von Grund auf als etwas Neues zu entwickeln, als bestehende Systeme umzugestalten. Es verwundert dennoch, dass dieses seit Jahrzehnten so gut funktionierende Konzept in den anderen Bundesländern keine Nachahmung gefunden hat. Im Gegenteil, bis heute mussten und müssen Josef Adrian und seine Kolleginnen und Kollegen den integrations- und inklusionsorientierten Ansatz gegenüber den Vertretern des Förderschulsystems verteidigen. (Z.B. in der Diskussion im Anschluss an den Beitrag von Josef Adrian in Graz) Diese Kontroverse wird vordergründig mit der Fragestellung diskutiert, welche Beschulungsform für Schülerinnen und Schüler die geeignete sei. Betrachtet man dieses Thema jedoch vor dem Hintergrund der Institutionen, dann können wir andere Aspekte erkennen:
Die Reichweite der jeweiligen Rationalitätskriterien
Erstens: In der Geschichte der Blindenpädagogik gab es, trotz der Gründung der ersten Blindenanstalten, durchaus Tendenzen für integrative Beschulungen. Dass diese sich nicht durchsetzen konnten, hat mit den sozialen wie repräsentativen Aspekten des Fürsorgegedankens und der Anstaltsfürsorge des 19. Jahrhunderts zu tun. Große, teilweise repräsentative Einrichtungen waren Ende des 19. Jahrhunderts steingewordene Zeugen fürsorgender Landesherren. Vergleicht man das Landesförderzentrum Sehen in Schleswig mit Einrichtungen wie der Landesschule für Blinde und Sehbehinderte im SFZ Chemnitz, den Einrichtungen der Blindeninstitutsstiftung in Bayern, dem Bbs in Nürnberg, dem SBZ in Unterschleißheim, der Nikolauspflege, dem Bildungszentrum für Blinde und Sehbehinderte in Soest oder der Blindenstudienanstalt in Marburg, dann ist das kleine Backsteingebäude in der Lutherstraße 14 wenig repräsentativ, kein bauliches Markenzeichen für seine Stadt, auch kein bedeutender Arbeitgeber, hat also das nicht, was repräsentative Gebäude und große Einrichtungen für die Stadtgesellschaft mittelgroßer Städte bedeuten. Waren es früher die Landesherren, so sind es heute kirchliche Träger, Wohlfahrtsorganisationen, Kommunen oder Länder, die auf diese Weise ihre Fürsorge und soziale Verantwortung demonstrieren. Eine Einrichtung, die dezentral arbeitet und an der Entwicklung sozialräumlicher Strukturen an verschiedenen Orten interessiert ist, hat diese Merkmale nicht zu bieten. Ihre Vorzüge beruhen auf der inhaltlichen Arbeit vor Ort.
Zweitens: Blinden- und Sehbehindertenpädagogik versteht sich in wesentlichen Teilen als Schulpädagogik, selbst Frühförderung wird in etlichen Bundesländern als vorschulische Bildung begriffen und von Lehrerinnen und Lehrern durchgeführt. Die direkte Zusammenarbeit und Förderung von Kindern und vor allem das Unterrichten gehören zum Selbstverständnis des Lehrerinnen- und Lehrerseins. Das Subsidiaritätsprinzip der Sonderpädagogik ernst zu nehmen, Beratung und Unterstützung anzubieten und auf das eigene Unterrichten zu verzichten, erfordert eine Umorientierung im beruflichen
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Der Brand im Verwaltungsgebäude (2007)
Selbstverständnis und verändert das berufliche Selbstbild erheblich. Hier können die tradierten Einrichtungen inzwischen beides bieten, die Möglichkeit des Unterrichtens und die Arbeit im Gemeinsamen Lernen, die ebenfalls überwiegend aus Beratung und Unterstützung besteht. Elemente des Schleswiger Kompetenzzentrums wurden auf diese Weise in einigen anderen Einrichtungen übernommen, so z. B. die Kurshausidee, d. h. das Zur-Ver- fügung-Stellen von Elementen des dualen Curriculums mit der Möglichkeit des Austausches und für gemeinsame Freizeitaktivitäten von Schülerinnen und Schülern mit einer Sehbeeinträchtigung.
Ausdehnung von Geltungskontexten
Nach Lepsius (M.R. Lepsius, Institutionalisierung politischen Handelns, Studien zum Weber-Paradigma, DOI 10.1007/978-3-658-01326-4_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013) streben Institutionen per se nach Ausdehnung ihrer Geltungskontexte. Auch in diesem Feld unterscheidet sich das Landesförderzentrum Sehen elementar von den oben genannten Blinden- und Sehbehindertenbildungseinrichtungen. Um die Effektivität, in Teilen auch die Wirtschaftlichkeit und damit die Relevanz der Einrichtung zu erhalten, müssen lokale Einrichtungen der Gefahr geringerer Schülerinnen- und Schülerzahlen durch eine Erweiterung des Angebotes und der Serviceleistungen begegnen, indem Angebote für Erwachsene und Seniorinnen und Senioren, Rehabilitations- und sogar Pflegemaßnahmen oder Hilfsmittelproduktion und -vertrieb in das Portfolio aufgenommen werden. Festzustellen sind auch regionale Erweiterungen durch die Gründung von Außen-, Frühförder- und Beratungsstellen. Demgegenüber bezieht sich der Geltungskontext des Landesförderzentrums Sehen von Beginn an auf das Bundesland Schleswig-Holstein ohne die Notwendigkeit der Erweiterung des Geltungskontextes. Stattdessen erfolgt eine Konzentration auf inhaltliche Erweiterungen (Übergang Schule - Beruf) und konzeptionelle Veränderungen, die es den Kolleginnen und Kollegen ermöglichen sich zu spezialisieren und Themen weiterzuentwickeln. Durch die wohnortnahe Arbeit der über das ganze Land verteilt lebenden Kolleginnen und Kollegen ist eine gute Kenntnis der jeweiligen sozialräumlichen Strukturen mit ihren Barrieren und Möglichkeiten gegeben, die für die aktive Teilhabe an allen Elementen des gesellschaftlichen Lebens Voraussetzung ist.
Auf diese Weise kann das Landesförderzentrum Sehen in Schleswig relativ flexibel auf Veränderungen und neue Anforderungen reagieren und muss weniger um Bestand und Arbeitsplätze fürchten. Dieser Sachverhalt macht das konservative, beharrende Element der großen Blinden- und Sehbehindertenbildungseinrichtungen aus.
Blickt man auf die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit sozialrechtlich relevantem Förderbedarf Sehen nach den immer noch gültigen, aber sehr veralteten Kriterien der Sehschärfe und des Gesichtsfeldes, denkt man also von der Sehschädigung her, dann handelt es sich um die kleinste Gruppe im Feld der sonderpädagogischen Förderung. Zwar nehmen Förderschulen gegenwärtig auch andere Schülerinnen und Schüler auf, teils weil dort ein Bedarf im Bereich der visuellen Wahrnehmung besteht und mit reduziertem visuellen Angebot so viel leichter zu lernen ist, teils weil man damit eine akzeptable Klassengröße erreichen kann. Dennoch bleibt ein großer Teil der Schülerinnen und Schüler mit kleinen visuellen Funktionsveränderungen außen vor, wenn von der Sehschädigung aus gedacht wird.
Im Unterschied zu den frühen achtziger Jahren hat die Bildungspolitik und haben die Bildungsinstitutionen mit der UN-BRK in Kombination mit der ICF-CY Instrumente an der Hand, um über sozialrechtliche Definitionen hinaus dann tätig zu werden, wenn Kinder und Jugendliche Auffälligkeiten bei der Erfüllung relevanter visueller Aktivitäten zeigen bzw. Probleme in der Ausübung spezifischer (hier visueller) Funktionen haben. In der Diskussion um den Stellenwert einer Pädagogik bei Blindheit und einer Pädagogik, die sich der Rolle des Sehens als Voraussetzung für Aktivität und Lernen annimmt, benötigen wir genau die flexiblen Konzepte, die in den achtziger Jahren von Peter Appelhans, Christine Pluhar und Waltraut Rath entwickelt und von Josef Adrian mit seinem Team ausdifferenziert wurden.
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