Die Universität Hamburg und das Landesförderzentrum Sehen in Schleswig
Professor Dr. Sven Degenhardt
Nähert man sich der Aufgabe, die Beziehungen zwischen dem Landesförderzentrum Sehen in Schleswig (LFS) und dem Arbeitsbereich der Pädagogik bei Beeinträchtigung des Sehens an der Universität Hamburg zu umschreiben, entsteht ein fast unauflösbares Geflecht von möglichen Herangehensweisen: Soll eine historische oder historisierende Herangehensweise gewählt werden? Oder sollen die vielfältigen und zahlreichen persönlichen Beziehungen zwischen Protagonistinnen und Protagonisten dieser beiden Institutionen strukturierend dargestellt werden? Kann der bildungspolitische Aspekt einen roten Faden der Darstellung bilden oder sollten es professionalisierungstheoretische und/oder erziehungswissenschaftlichkonzeptionelle Aspekte sein? Letztendlich wird es eine pragmatische Mischung aus Konzepten, Personen, Projekten und Visionen sein, die notwendig und hinreichend sind, um dieses Verhältnis - in der gebotenen Kürze - äquivalentzu umschreiben.
Der erste Blick auf die Beziehung verweist auf ein Spannungsverhältnis, in dem zuerst die trennenden Charakteristika, Strukturen und Ziele der einzelnen Elemente hervortreten: Auf der einen Seite eine schulische Bildungsinstitution - rechtlich klar definiert, aber mit einer „Sonderstellung" als „Schule ohne Schülerinnen und Schüler". Auf der anderen Seite ein erziehungswissenschaftlicher Arbeitsbereich, der sich über einen spezifischen Gegenstand in einem breit aufgestellten universitären System von Forschung und Lehre positioniert, dabei zwar einen hohen Freiheitsgrad nutzen kann, aber auch an strukturelle Vorgaben, z. B. zum Konzept der Lehrkräftebildung, gebunden ist. Und beide Elemente sind auch noch in zwei im bildungspolitischen Wettbewerb stehenden Bundesländern platziert.
Der zweite Blick offenbart aber bereits „grenzüberschreitende" Nähe: Das Handlungsfeld des LFS ist die Teilhabegestaltung von Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigung des Sehens an vorschulischen, schulischen, neben- und nachschulischen Bildungsprozessen. Die an der Universität angesiedelte Pädagogik bei Beeinträchtigung des Sehens fokussiert die Entwicklung, Evaluation und „wissenschaftliche Pflege" des zugehörigen erziehungswissenschaftlichen „Gegenstücks". Vertieft man die Betrachtung dieser Kontaktstelle, die Einheit von Theorie und Handlungswirklichkeit, und betrachtet man die Vernetzungen, die Partnerinstitutionen und -Wissenschaften, die für eine erfolgreiche Teilhabegestaltung nötig scheinen, wird aus der singulären Kontaktstelle eine immer breiter werdende Kontaktfläche. Diese Kontaktfläche wird gefüllt von der Erziehungswissenschaft in ihrer disziplinären Struktur und mit ihren institutionellen Repräsentanten (Pädagogik der Frühen Kindheit, Grundschulpädagogik, Schulpädagogik, die allgemeine und die Fachdidaktiken, die Berufs- und Wirtschaftspädagogik, die Behindertenpädagogik mit ihren eher klassisch definierten Förderschwerpunkten und mit ihren psychologischen, soziologischen und sozialpädagogischen Wurzeln und Querverweisen...), aber auch von der Medizin, der Psychologie, der Neurowissenschaft, der Augenoptik/Optometrie, dem Spektrum von den Ingenieurswissenschaften, der Informatik, der Rechtswissenschaft und der Architektur bis hin zur Verwaltungs- und Politikwissenschaft... . Bleibt man im Bild, so wird aus der sich immer weiter ausbreitenden und mit schillernder Vielfalt ausgestatteten Kontaktfläche sogar ein drei-dimensionales Netzwerk. Die dritte Dimension entsteht, wenn die beteiligten Protagonistinnen und Protagonisten (die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Beeinträchtigung des Sehens und ihre Eltern, Familien und sozialen Netzwerke), deren Interessenvertretungen und deren Präsenz in Gesellschaft, Medien und Politik ins Blickfeld genommen werden. In diesem Netzwerk plat-ziert sich das interdisziplinäre Theoriegebäude, in dem sich auch das komplexe Handlungsfeld wiederfinden kann und umgekehrt.
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Seit Anbeginn hat dieses komplexe Handlungsfeld das Zusammenwirken, das gemeinsame (Vor-)Denken, Planen, Visionen-Entwerfen, Verwerfen und Umsetzen die beiden Einrichtungen verbunden. Diese Zusammenarbeit auf dem Feld der Forschung, Entwicklung und Evaluation wurde und wird getragen durch gemeinsam beantragte und durchgeführte Forschungsprojekte und sichtbar durch gemeinsame Publikationen (vgl. u. a. Rath & Appelhans 1985, Appelhans et al. 1992, Henriksen, A. & Degenhardt 2009, Degenhardt & Henriksen, Ch. 2009, Degenhardt, Gewinn & Schütt 2016, Degenhardt & Hilgers 2017). Im Rahmen der Projekte der Entwicklungszusammenarbeit, der internationalen Kooperationsprojekte und der Studienreisen des Bereichs der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik an der Universität Hamburg wurden und werden die fachliche Expertise von Kolleginnen und Kollegen des LFS aktiv eingebunden (PR China, SAR Hong Kong, RoC Taiwan, Ro Korea, Spanien, USA, Japan, Kuba, Iran) und darüber hinaus der bundesweit einzigartige Ansatz des LFS kommuniziert. Auch dies führt dazu, dass bei Besuchen der internationalen Kolleginnen und Kollegen ein großes Interesse besteht, die Handlungswirklichkeit des LFS kennenzulernen. Das wiederum befeuert die ohnehin starke Nachfrage nach Erkundungen und Hospitationen zusätzlich.
Im Bereich der universitären Lehre im blinden- und sehbehindertenpädagogischen Lehramt (aktuell im Master of Education „Lehramt für Sonderpädagogik, Förderschwerpunkt Sehen") geht die Zusammenarbeit über Erkundungen und Hospitationen weit hinaus. Kolleginnen und Kollegen des LFS füllten und füllen innerhalb von Lehrveranstaltungen im Lehrauftrag vielfältige Lehrbereiche: Dazu gehören LowVision-Arbeit, spezifische Fachdidaktiken (z. B. Sport), die Kursarbeit, theaterpädagogische Angebote, Beratung, Hilfsmittelberatung und -anpassung, sehgeschädigtenpädagogisches Tun innerhalb einer Pädagogik bei komplexer Beeinträchtigung u.v.a.m. Darüber hinaus ist aber auch der unproblematische Feldzugang für die Studierenden im Rahmen der Lehre u. a. zu den Themenbereichen Sprach- und Begriffsentwicklung, Spielentwicklung blinder und sehbehinderter Kinder und Evaluation sehgeschädigtenpädagogischer Prozesse unersetzbar. Hier wird das LFS im Netzwerk der Einrichtungen im norddeutschen Bereich und darüber hinaus oft und gerne von den Studierenden angefragt. Intensiver wurden und werden die Verknüpfungen im Rahmen von Projekten, die zu Staatsexamens-, Bachelor- und Masterarbeiten.
Die Vorsitzende des Vereins zur Förderung sehgeschädigter Kinder und Jugendlicher in Schleswig-Holstein Karin Friese- Harenberg und der Leiter des LFS Josef Adrian begrüßen die Gäste beim gemeinsamen Sommerfest 2008
führen. Weiterhin sind Plätze im Kernpraktikum II, dem sonderpädagogischen Teil des Praxissemesters des Master-of-Education-Studiums an der Universität Hamburg, auch am LFS und damit an Schulen in Schleswig-Holstein wählbar. Ein Angebot, das ein großes Maß an sowohl zusätzlichem fachlichen als auch organisatorischen Aufwand auf Seiten des Kollegiums des LFS erfordert. Die in Hamburg u. a. an die Sozietät Sonderpädagogik angebundene und damit ein Stück formalisierte und belastbare enge Kooperation zwischen allen Phasen der Lehrkräftebildung wird nicht nur auf dem Feld des Kernpraktikums II, sondern auch an der Schnittstelle zwischen der ersten und zweiten Phase der Lehrkräftebildung über die Ländergrenzen hinweg gepflegt. Dies geschieht im Verbund mit allen norddeutschen Ländern, denn die Universität Hamburg „versorgt" mit ihren Absolventinnen und Absolventen im Förderschwerpunkt Sehen schwerpunktmäßig den norddeutschen Raum.
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Die Kontakte zwischen dem Landesförderzentrum Sehen in Schleswig und dem Arbeitsbereich der Pädagogik bei Beeinträchtigung des Sehens an der Universität Hamburg sind keine isolierten und bilateralen. Sie sind Bestandteil eines regionalen, nationalen und internationalen Netzwerkes, das die Pädagogik der Beeinträchtigung des Sehens seit Anbeginn pflegt. Dieses Netzwerk ist für ein „Kleines Fach", wie es die Blinden- und Sehbehindertenpädagogik im Kanon der erziehungswissenschaftlichen Disziplinen ist, von grundlegender Bedeutung. In Würdigung der Nähe zwischen den Förderschwerpunkten Sehen und Hören in der Geschichte und der Zukunft formulieren Degenhardt & Leonhardt folgende vier Aspekte gemeinsamer Visionen:
- „Die „kleinen" Fächer müssen sich im Reigen der sonderpädagogischen Fächer auch „nach außen" deutlich(er) positionieren.
- Ihre historischen Rollen als stets über die Schulen hinausgehende Pädagogiken müssen wieder stärker beachtet werden; dazu gehören Fragen der Rehabilitation und Habilitation aufgrund aktueller diagnostischer Möglichkeiten und des damit verbundenen rechtzeitigen Einsetzens der Frühförderung ebenso wie die (re-)habilitative Begleitung über die gesamte Lebensspanne.
- Eine inklusive Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf im Sehen oder Hören erfordert eine Begleitung durch hochqualifiziertes Fachpersonal. Allround und/oder polyvalent ausgebildete Sonderpädagogen werden kaum über das sich über Jahrhunderte angesammelte spezifische, hoch interdisziplinäre und hoch ausdifferenzierte Wissen der Fächer Gehörlosen- und Schwerhörigen- sowie Blinden- und Sehbe-hindertenpädagogik verfügen können, wie es aus professioneller Sicht zu erwarten und notwendig ist.
- Eine als „inklusive Schule" ausgewiesene oder sich selbst so bezeichnende Bildungseinrichtung muss, um Etikettenschwindel und Frustrationen bei Eltern sowie bei Kindern und Jugendlichen zu vermeiden, für Schüler und Schülerinnen mit Förderbedarf im Hören oder Sehen barrierefrei sein. Es sind angemessene Vorkehrungen zu treffen, um den Schülern mit Förderbedarf im Hören und Sehen die tatsächliche Teilhabe am Unterricht und die soziale Inklusion zu sichern" (Degenhardt & Leonhardt 2017, S. 208).
Es ist ein Grundpfeiler der Beziehungen zwischen dem Landesförderzentrum Sehen, Schleswig (LFS) und dem Arbeitsbereich der Pädagogik bei Beeinträchtigung des Sehens an der Universität Hamburg, dass diese Visionen und Aufgaben im Kern geteilt werden und dass sie handlungsleitend das gemeinsame Tun (mit-)prägen.
Literatur
Appelhans, Peter, Henning Braband, Willi Düe, Waldtraut Rath (1992) Übergang von der Schule ins Arbeitsleben: Bericht über ein Projekt mit sehgeschädigten jungen Menschen. Hamburg: Hamburger Buchwerkstatt.
Degenhardt, Sven, Wiebke Gewinn und Marie-Luise Schütt (Hrsg.) (2016) Spezifisches Curriculum für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung für die Handlungsfelder Schule, Übergang von der Schule in den Beruf und Berufliche Rehabilitation. Norderstedt: Books on Demand.
Degenhardt, Sven und Christoph Henriksen (2009) Was macht die Bildung von Menschen mit mehrfachen Behinderungen zu einer sehgeschädigtenpädagogischen Bildung? In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete VHN, 78, 3, 212 - 226.
Degenhardt, Sven und Florian P. Hilgers (2017) Darstellung blinder Menschen im Spielfilm: Spiegelbilder inklusiver Settings oder doch nur Fiktion? In: Brede, Julia Ricart und Günter Helmes (Hrsg.), Vielfalt und Diversitätin Film und Fernsehen: Behinderung und Migration im Fokus. Münster, New York: Waxmann, 79 - 97.
Degenhardt, Sven und Annette Leonhardt (2017) Die „kleinen" Fächer Blinden - und Sehbehinderten - sowie Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik in Zeiten der Inklusion. In: Leonhardt, Annette und Kirsten Ludwig (Hrsg.), Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogen(aus)bildung in Bayern - Vom Jahreskurs zum interdisziplinären Studium an der Universität. Heidelberg: Median-Verlag, 197-211.
Henriksen, Anne und Sven Degenhardt (2009) Prevalence of Visual Impairments in Adults with Cognitive and Developmental Disabilities in a Sheltered Workshop in Germany. In: Journal of Visual Impair ment & Blind ness, 103, 7, 415 - 424.
Rath, Waldtraut und Peter Appelhans (1985) Sehauffällige Schüler in allgemeinen Schulen: Seh Beeinträchtigung als Variable schulischen Lernens. Frankfurt am Main, Bern, New York, Nancy: Peter Lang.
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Besuch der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange
behinderter Mensche, Frau Evers-Meyer (v. I. n. r.: Herr Adrian, Herr
Wißmann, Frau Evers-Meyer; Frau Hölscher; Frau Pluhar; 2009)"
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