Schleswig-Holstein Ministerium für Bildung


„Über das Neue und seine Feinde" - oder das LFS Schleswig als „Zumutung" im System der deutschen Blinden- und Sehbehindertenpädagogik



Yüklə 267,92 Kb.
səhifə6/22
tarix03.08.2018
ölçüsü267,92 Kb.
#67048
1   2   3   4   5   6   7   8   9   ...   22


„Über das Neue und seine Feinde" - oder das LFS Schleswig als „Zumutung" im System der deutschen Blinden- und Sehbehindertenpädagogik



Frank Laemers


Ich habe Josef Adrian durch meinen Zivildienst an der Düsseldorfer Sehbehindertenschule vor 30 Jahren kennenlernen dürfen. Nach seinem Referendariat ist er damals an die neu gegründete „Schule ohne Schüler" nach Schleswig gegangen und war somit sozusagen von Anfang an dabei. 1987 kam er dann zurück an die Düsseldorfer Schule, um dort die mobile Beratung und Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit einer Sehbehinderung an allgemeinen Schulen auf- und auszubauen. An der Düsseldorfer Schule ging man diesen Weg der Erweiterung des Angebots im integrativen Bereich auf großen Druck von Eltern - Strategien der Schulentwicklung standen damals noch nicht so sehr im Fokus. Dennoch gelang es Adrian in Düsseldorf die Grundlagen für diese andere Art des Arbeitens inkl. eines Raums für die Low-Vision-Beratung zu etablieren. Gemeinsam mit Studierenden wurden dann auch die ersten Schülerwochenenden (Vorläufer eines Peer-Kursangebotes) Ende der 80er Jahre vor Ort realisiert. Auch an anderen Orten, wie z. B. Bielefeld und Würzburg, wurden Projekte und Schulversuche initiiert. Gerade diese „Gründerinnen und Gründer" des neuen Denkens einer „ambulant" arbeitenden subsidiären Sehbehindertenpädagogik waren engagierte Kolleginnen und Kollegen. Der damalige Düsseldorfer Schulleiter befürchtete das Ende der klassischen Sehbehindertenschule. Wort-wörtliches Zitat an mich, der ich als Student dort einmal wöchentlich als Honorarkraft tätig war: „Frank, wenn der Josef weiter so macht, haben wir demnächst, wenn Sie fertig sind, hier keine Schule mehr" (Anmerkung des Verfassers: Die Schule besteht unverändert und hat im stationären Teil nach wie vor zwischen 80 und 90 Schülerinnen und Schüler).

Vom Schuljahr 1989/90 bis 1991/92 fand in Düsseldorf unter Leitung von Josef Adrian ein „Schulversuch zur sonderpädagogischen Unterstützung sehbehinderter Schülerinnen und Schüler an allgemeinen Schulen" statt. Die Erfahrungen wurden von Adrian in einem abschließenden Bericht 1992 vorgelegt. Dieser Bericht hat im Anhang die ausführliche Skizzierung eines „Förder- und Beratungszentrums für sehbehinderte Menschen", in dem Adrian ein Konzept zur Weiterentwicklung der „klassischen" Sehbehindertenschule hin zu einer multiprofessionell besetzten Einrichtung mit Angeboten von der Frühförderung bis hin zur Low-Vision-Beratung von Seniorinnen und Senioren skizziert. Adrian endet den Bericht mit den Worten: „Auf dieser Grundlage ist das Förder- und Beratungszentrum für sehbehinderte Menschen keine Utopie, sondern in absehbarer Zeit Realität" (1992, 36). Vorbild war damals schon das LFS in Schleswig und umgesetzt wurde es letztlich auch dort (lediglich die Beratung von Seniorinnen und Senioren ist noch nicht im Konzept...). Die damalige Staatliche Schule für Sehbehinderte in Schleswig war 1983 mit dem Ziel angetreten, v. a. für Schülerinnen und Schüler mit einer Sehbehinderung ein adäquates Angebot zu machen. So weist Appelhans darauf hin, dass in den 80er Jahren selbst in NRW, wo es damals schon ein System mit neun eigenständigen Sehbehindertenschulen gab, die Erfassungsquote lediglich bei 45 % lag (vgl. Appelhans 1983, 91). In Schleswig- Holstein war die erfasste Schülerzahl, die das Angebot der Blinden- und Sehbehindertenschule Hamburg in Anspruch nahm, noch geringer. Die heutigen Fallzahlen des LFS legen nahe, dass in vielen Regionen Deutschlands vermutlich gerade in den Bereichen Sehbehinderung sowie auch im Bereich Mehrfachbeeinträchtigung



((26))

eine ganze Reihe von Schülerinnen und Schülern noch immer kein spezifisches Angebot im Förderschwerpunkt Sehen wahrnimmt. Leider haben wir dazu keine aktuellen Zahlen, aber ausgehend von einer Gesamtschülerzahl von 10,8 Mio. gibt es statistisch, wenn 2 von 1.000 Schülerinnen und Schülern sehbehindert sind (vgl. Adrian 2017, 191), 21.600 Schülerinnen und Schüler mit einem sehbehindertenspezifischem Unterstützungsbedarf im deutschen Schulsystem. Im Förderschwerpunkt Sehen werden aber lediglich 8.000 beschult, davon gut 45% an allgemeinen Schulen (vgl. KMK-Statistik). Doch schon kurz nach seiner Gründung erweiterte das LFS 1987 sein Angebot, indem es konsequenterweise das Angebot auch auf Schülerinnen und Schüler mit Blindheit ausweitete - und es sogar wagte, diese schon in der Grundschule vor Ort zu beraten und unterstützen. Im Sinne Luhmanns wurden hier eindeutig Systemgrenzen erweitert und man nahm die Pfründe des historisch gewachsenen „Blindness-Systems" (Thimm 1990) in den Blick: „Wer es unternimmt, Kommunikation in Gang zu bringen oder das Themenrepertoire eines Systems um neue Elemente zu erweitern, wird daher gut tun, sich den Zumutungsgehalt der Kommunikation vor Augen zu führen und sich über ihre Chancen zu vergewissern: Er erweitert Systemgrenzen" (Luhmann 1984, 267). Inwieweit dies als „Zumutung" vom bestehenden System der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik aufgefasst wurde, vermag ein Zitat aus dem Jahr 1988 vom damaligen VBS-Vorsitzenden Rhinow aus dem Vorwort des 2. Bandes der Aufsätze und Protokolle der AG Integration zeigen. Er schreibt dort: „Es bleibt nach wie vor zweifelhaft, ob blinde Kinder von der ersten Klasse an in allgemeinen Schulen ohne ernsthafte Schwierigkeiten gefördert werden können" (1988, 5).



Wenn man die Arbeitsweise des LFS heute betrachtet, wird deutlich, dass von der großen Anzahl der Kinder und Jugendlichen, die von der Früherziehung bis hin zur beruflichen Bildung an den unterschiedlichen Förderorten beraten und unterstützt werden, nur ein geringer Teil auf ein sehgeschädigtenspezifisches Angebot zurückgreift. D. h., die Bedingungen, unter denen eine wohnortnahe Beschulung mit den entsprechenden Ressourcen realisierbar ist, sind durch die Arbeitsweise bekannt. Somit kann das LFS als „Zumutung" (im Sinne Luhmanns) für viele bestehende Einrichtungen, die auch (noch) ein stationäres Angebot im System der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik Vorhalten (und manchmal auch recht phantasievoll „füllen"), empfunden werden. Inzwischen haben sich alle Einrichtungen im System der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik mehr oder weniger auf den Weg gemacht und die mobile Beratung und Unterstützung auf- und ausgebaut - oftmals gegen Widerstände im Kollegium, oft auf Wunsch von Eltern, häufig getragen von engagierten Kolleginnen und Kollegen. Ein konsequenter Umbau bzw. eine Weiterentwicklung ihrer Angebote hin zu mehr subsidiären sonderpädagogischen Angeboten in der Inklusion gelingt jedoch nur wenigen Einrichtungen - und das trotz der UN-BRK. Bislang ist mir nur die Johannes-Kepler-Schule in Aachen bekannt, die ihren stationären Bereich zugunsten der mobilen Beratung und Unterstützung geschlossen hat. Somit stellt sich die Frage, warum ein gutes Konzept bzw. eine (relativ) neue Idee sich in den letzten 30 bis 35 Jahren nicht konsequent flächendeckend durchsetzen kann: Vermutlich war aus den Bildungsministerien aller Bundesländer schon mal die eine oder andere Abordnung hochkarätiger Experten in Schleswig-Holstein, um die Arbeitsweise dieses Systems kennenzulernen - mit dem Ziel Anregungen für das eigene Bundesland mitzunehmen. In seinem Buch „Das Neue und seine Feinde" zeigt G. Dueck, wie sich Innovationen zur rechten Zeit fast automatisch durchsetzen - z. B. Geschirrspüler, Smartphones etc. Er arbeitet aber auch heraus, mit welchen Widerständen oft sinnvolle Innovationen ausgebremst oder gar verhindert werden. Dabei charakterisiert Dueck drei Typen, die diese Widerstände gegen Neues befördern:

- „OpenMinds", die eine Innovation gut fänden, wenn ,sie so weit ist' (Wenn!)

- „CloseMinds", die mit ,so etwas braucht kein Mensch' den Kopf schütteln

- „Antagonisten, die das Neue aktiv bekämpfen" (,Unsicher! Unmoralisch! Gefährlich!' bzw. .nicht zu verantworten'; 2013,12)


Ein weiterer Faktor, warum es häufig nicht zu Innovationen kommt, obwohl diese augenscheinlich auch aus Sicht des Managements sinnvoll sein können, liegt in der Befürchtung, dass zu viel Energieverlust durch Veränderung und Chaos im Rahmen der Innovation befürchtet wird. Personen, die dieses zu vermeiden wissen, fahren die Strategie des „Do nothing" (Dueck 2013, 274). Dueck benennt aber auch, was es braucht, um Innovationen mit zu etablieren: Leidenschaft, Engagement und einen klaren Blickfür Chancen. Dies sind Eigenschaften, die verstehen lassen, warum das LFS heute mit dem Kollegi-

((27))


um unter der Leitung von Josef Adrian dort steht, wo es steht - mit all den sich neu stellenden Herausforderungen. Vielleicht gelingt es ja noch mehr Einrichtungen im System der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik sich gegen „die Feinde des Neuen" durchzusetzen bzw. sie für Weiterentwicklungen im Sinne der UN-BRK zu gewinnen, die sich auf den Weg machen, die Inklusion sehgeschädigter Kinder und Jugendlicher in einem durchaus exklusiven Schulsystem „qualitativ hochwertig" mit den Kolleginnen und Kollegen der allgemeinen Schulen zu gestalten und nicht nur im „Do nothing" zu verharren, ähnlich wie Adrian es in einem seiner neuesten Beiträge formuliert: „Dass sich die Frage besonderer Bildungseinrichtungen für Menschen mit Behinderungen in Zeiten der Inklusion eigentlich gar nicht mehr stellen sollte, gibt der subsidiären Sonderpädagogik, die diese Zielvorgabe unterstützt, eine neue Legitimation, einen neuen Schub zur Weiterentwicklung und neue Verantwortung. Dies besteht darin, das allgemeine Bildungssystem darin zu unterstützen, ein wirklich inklusives System zu werden. Derzeit ist es das noch nicht, sodass die sonderpädagogische Arbeit in der Praxis der Inklusion auch darin besteht, die alltäglichen Ausgrenzungen eines nach wie vor segregierenden Systems aufzudecken, die Barrieren zu benennen und sie möglichst gemeinsam mit den Lehrkräften der allgemein- bildenden und berufsbildenden Schulen abzubauen" (Adrian 2017, 205).

Literatur

Adrian, J. (1992): Schulversuch zur sonderpädagogischen Unterstützung sehbehinderter Schülerinnen und Schüler an allgemeinen Schulen. Schuljahr 1989/90 bis 1991/92. Düsseldorf: Landschaftsverband Rheinland

Adrian, J. (2017): Das Landesförderzentrum Sehen, Schleswig (LFS) - ein Förderzentrum für die Inklusion junger Menschen mit Sehschädigung. In: Reich, K. (Hg.): Inklusive Didaktik In der Praxis. Beispiele erfolgreicher Schulen. Weinheim, Basel: Beltz, 190-206

Appelhans, P. (1983): Flächendeckende Unterstützung sehbehinderter Schüler In den Regelschulen Schleswig-Holsteins. In: AG „Integration sehgeschädigter Schüler In Regelschulen" Im VBS (Hg.): Sehgeschädigte In Regelschulen. Aufsätze, Berichte, Protokolle. Würzburg: VzFB, 91-98

Dueck, G. (2013): Das Neue und seine Feinde: Wie Ideen verhindert werden und wie sie sich trotzdem durchsetzen. Frankfurt a.M.: Campus Kultusmlnlsterkonferenz: www.kmk.org (Zugriff: 24.01.2018)

Rhinow, H.U. (1988): Vorwort des 1. Vorsitzenden des Verbandes der Blinden- und Sehbehlndertenpädagogen e.V.. In: AG „Integration sehgeschädigter Schüler In Regelschulen" Im VBS (Hg.): Sehgeschädigte In Regelschulen. Berichte, Bestandsaufnahmen, Protokolle. Bd. 2. Schleswig: VzFB

Thimm, W. (1990): Das .Blindness-System' und die Welsen (1964-1989). In: Düe, W.; Pluhar, Chr. (Hg.): Selbstbestimmung und Offenheit. Eine Festschrift für W. Rath 60. Geburtstag. Hamburg: Hamburger Buchwerkstatt, 61-77.

((28))



Yüklə 267,92 Kb.

Dostları ilə paylaş:
1   2   3   4   5   6   7   8   9   ...   22




Verilənlər bazası müəlliflik hüququ ilə müdafiə olunur ©muhaz.org 2024
rəhbərliyinə müraciət

gir | qeydiyyatdan keç
    Ana səhifə


yükləyin