3.2Entwicklung des Forschungsfeldes Verkehrsmittelwahl
Im Laufe der vergangenen vier Jahrzehnte wurde eine Vielzahl von Modellen und Theorien zur Bestimmung der Verkehrsmittelwahl erstellt sowie ständig verbessert und verfeinert (vgl. WALTHER 1991, S. 3). Erstmals im Zuge von großangelegten Stadtverkehrsstudien in den USA wurde in den 50er Jahren die Verkehrsmittelwahl zum eigenständigen Untersuchungsgegenstand verkehrswissenschaftlicher Arbeiten (vgl. HELD 1980, S. 55). Die Vielfalt und Verschiedenheit der seither entwickelten Ansätze zur Verkehrsmittelwahl lassen sich durch folgende Aspekte erklären:
Die einzelnen Ansätze haben sich seit ihren Anfängen in der Regel nicht einander abgelöst, sondern jeder einzelne Ansatz wurde weiterverfolgt und weiterentwickelt. Anders ausgedrückt sind die zunächst vorhandenen Modelle und Theorien nicht mit Auftreten der neuen Richtungen verschwunden. Viele der Ansätze stehen auch nicht im Widerspruch zueinander - wie dies in der Argumentation von Verkehrswissenschaftler in der Literatur häufig den Anschein hat - sondern sie ergänzen sich (vgl. HELD 1980, S. 24 und S. 60).
Neben den verkehrsmittelwahlspezifischen Ansätzen und Untersuchungen sind auch aus benachbarten Untersuchungen Anregungen und Einzelergebnisse für das Forschungsfeld Verkehrsmittelwahl von Interesse. Beispielsweise können Untersuchungen zur Verkehrsmittelnutzung bestimmter Bevölkerungsgruppen herangezogen werden.
Während die ersten ingenieurwissenschaftlichen Modellansätze überwiegend der Beschreibung des Verkehrsgeschehens dienten, wurden zunehmend die Wirkungen der Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen (policiy sensitivity) z. B. des Öffentlichen Verkehrs interessant. Um „gezielte Beeinflussungsmaßnahmen vornehmen zu können“ (HELD 1980, S. 24) ist ein wesentlich differenzierteres und vertieftes Verständnis der Verkehrsmittelwahl erforderlich. Verkehrsmittelwahl wurde so zum Gegenstand weiterer Disziplinen, wie der Ökonomie, der Soziologie und der Psychologie, die sich dem Themenfeld auf zum Teil recht unterschiedlicher Weise nähern.
3.3Aggregierte Modelle
Verkehrswissenschaftliche Modelle sind überwiegend Verkehrsnachfragemodelle. Sie dienen der Beschreibung des Verkehrsgeschehens und in der Hauptsache der Prognose der zukünftigen Entwicklung des Verkehrsgeschehens. Auf der Grundlage zu erwartender Belastungswerte soll das Verkehrssystem auf seine Leistungsfähigkeit hin bewertet werden. Diese Bewertung ist die Grundlage für die Planung der weiteren verkehrlichen Infrastruktur (vgl. BARON 1995, S. 5ff.). Die Beschreibung des Verkehrsgeschehens und die Prognose der zukünftigen Entwicklung des Verkehrsgeschehens erfolgt klassisch durch vier Teilmodelle:
Abschätzung des Verkehrsaufkommens (Verkehrserzeugung),
Räumliche Verteilung des Verkehrsaufkommens (Verkehrsverteilung),
Verkehrsmittelwahl (Modal Split) und
Routenwahl (Verkehrsumlegung).
Bei den in diesem Abschnitt vorgestellten, in der Literatur auch als „strukturdatenorientierte“ bezeichneten Teilmodelle (vgl. BARON 1995, S. 21), die am Beginn der Modellentwicklung standen und stark ingenieurwissenschaftlich geprägt sind, wurde die Vierteilung bis heute aufrechterhalten. „Untersucht wurden und werden zumeist zu Prognose- und Planungszwecken räumliche Verkehrszellen hinsichtlich der Verkehrserzeugung, der Verkehrsverteilung, des Modal Split und der Verkehrsumlegung.“ (LITTIG 1995, S. 27) Aufgrund der gewählten Eingrenzung dieser Arbeit auf das Themenfeld der Verkehrsmittelwahl, wird im folgenden auch nur dieses Teilmodell dargestellt.12 Dem dritten Teilmodell liegt die Annahme zugrunde, daß die Verkehrsmittelwahl mit Daten der Raum- und Siedlungsstruktur (einschließlich des Verkehrssystems) und soziodemographischen Daten einer räumlichen Einheit („Verkehrszelle“) korreliert. Das Verhalten der Verkehrsteilnehmer wird damit vollkommen durch äußere, objektive Merkmale bestimmt und die Verkehrsteilnehmer besitzen keinerlei Verhaltensspielräume. Das Interesse ist nicht auf das eigentliche Verkehrsverhalten und dessen Ursachen gerichtet, sondern auf „die aggregierten Auswirkungen der Verkehrsmittelentscheidungen.“ (HELD 1980, S. 56) Dabei ist die Untersuchungseinheit nicht der individuelle Verkehrsteilnehmer, sondern es sind die nach räumlichen Gesichtspunkten eingeteilten Verkehrszellen. Im Durchschnitt sollen sich, so wird angenommen, die Unterschiede zwischen den Verkehrsteilnehmern einer Verkehrszelle ausgleichen (vgl. HELD 1980, S.56 ff.). Zur Beschreibung des Ist-Zustandes waren diese Modelle sicherlich geeignet. Als Problem ergab sich allerdings, daß dieser Ist-Zustand durch Trendexploration bei Prognosen fortgeschrieben wurde (vgl. BARON 1995, S. 36). Bei diesen Modellen muß aber unterstellt werden, daß die wichtigen verkehrsrelevanten Beziehungen annähernd gleich bleiben. Auf ihrer Grundlage lassen sich daher keine Abschätzungen über die Wirkungen von Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen vornehmen, d. h. daß sie „demnach für Prognosen bezüglich der Wirkungen von Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen (policy sensitivity) nicht geeignet“ (HELD 1980, S. 57) sind. Weitere Kritik an diesen Modellen kann zusammenfassend wie folgt umschrieben werden:
die aggregierten Modelle berücksichtigen fast ausschließlich den Pkw und den Öffentlichen Verkehr (u. a. LITTIG 1995, S. 27)13,
es wurde keine systematische Analyse der Arten der vermutlichen Einflußfaktoren vorgenommen, sondern je nach Untersuchungsgebiet ad hoc unterschiedliche Einflußfaktoren herangezogen (vgl. HELD 1980, S. 57),
das unterstellte mechanistische Menschenbild („Reiz-Reaktions-Muster“: Der Mensch ist kein denkendes, soziales Wesen) (vgl. KASPER 1996, S. 17) und
der Rückkopplungseffekt von Realität gewordenen Planungen auf das Verkehrsaufkommen wurde übersehen oder interessierte nicht (vgl. VERRON 1986, S. 104).
Die aggregierten Modelle und ihre Weiterentwicklungen sind nach HELD (1980, S. 61) und MOLT (1990, S. 556) die verbreitetsten Modelle, was u. a. auf die ingenieurwissenschaftliche Dominanz in der Verkehrsplanung und die einfache Operationalisierung zurückzuführen sein dürfte. Die aggregierten Modelle tragen, bezogen auf die Zielsetzung der Herausarbeitung der Einflußgrößen auf das Verkehrsmittelwahlverhalten und deren Operationalisierung für die empirische Untersuchung insbesondere zum Verständnis der objektiven Einflußgrößen der Verkehrsmittelwahl bei. Zu den einbezogenen Faktoren zählen z. B.
Entfernungen, Bebauungsdichte, Einwohner und Bevölkerungsdichte,
Anzahl der Beschäftigten und Arbeitsplätze,
Alter und Geschlecht sowie Pkw-Dichte,
durchschnittliche Einkommen,
durchschnittliche Reisezeiten/Fahrzeiten und mittlere Fahrzeiten (vgl. HAUTZINGER 1978, S. 28; HELD 1980, S. 16 und 56f.; VERRON 1986, S. 104).
Insbesondere der Pkw-Besitz und die Fahrzeiten sind auch in allen späteren Modellentwicklungen von großer Bedeutung (HELD 1980, S. 56). Eine Übersicht über verwendete Eingangsgrößen in ausgewählten „Modal-Split“-Modellen ist bei WALTHER (1991, S. 13) zu finden. Unter Berücksichtigung des sich wandelnden Planungsverständnisses weg von der Anpassung der zukünftigen Infrastruktur an das zu erwartende Verkehrsaufkommen hin zu einer aktiven Gestaltung des Verkehrsgeschehens nach ökologischen und sozialen Zielsetzungen und der dargelegten Schwächen und Probleme entwickelten sich neue Forschungsrichtungen, die in den folgenden Abschnitten dargestellt werden.