(10) Der zu erwartende Wendepunkt
In "Wiederkehrende Handlungen - Kosten/Nutzen-Rechnung" ist ein Beispiel aufgeführt, das zeigt, wie wir unsere Entscheidungen vom Energieaufwand abhängig machen. Das geht superschnell und unbewusst. Aber wenn man es weiß, dann kann man lernen, diese Prozesse bewusster ablaufen zu lassen. Sie sichtbar zu machen. Man kann sich selbst beobachten, und plötzlich hört man die kleinen, blitzschnellen geheimen Gedanken, die unsere unwichtigen Entscheidungen basierend auf Energiekosten befürworten oder ablehnen, sehr deutlich. Wenn man sich dabei "erwischt", wie man etwas nicht tut, das man eigentlich tun müsste, dann kann man diesen Gedanken zuhören, und sie ernstnehmen, und Maßnahmen ergreifen, um die zu hohen Energiekosten zu reduzieren.
Die Position, die wir innehaben, während wir eine Verhandlung mit uns selbst führen, ist von entscheidender Bedeutung. Stell dir vor, du liegst gerade gemütlich auf der Couch, und schaust einen superspannenden Film. Du hast alles in Reichweite, was du brauchst, um das Genusserlebnis zu steigern. Dein Wolldeckchen, dein Lieblingsgetränk, deinen Lieblingssnack. Und jetzt versuch mal, dich aus dieser Position heraus zu überreden, den Keller zu entrümpeln. Und zwar noch bevor der Film zu Ende ist.
Unmöglich.
Es sei denn, jemand gibt dir zehn Millionen Euro...dann wärst du wohl ziemlich schnell bereit, das alles sausen zu lassen, stimmt's?
Die Situation, die ich beschrieben habe, ist aus motivatorischer Sicht ungünstig. Du brauchst nicht nur einen Verstärker, der dich antreibt, deinen Keller zu entrümpeln, sondern du brauchst auch einen, der dich antreibt, diese tolle Situation zu verlassen.
Minus-Motivations-Situation --------------------------------unerreichbar großer Antriebsverstärker ----------------------------------------> Keller entrümpeln
Wenn das einzige, was einen dazu bringen würde, sowohl die motivatorisch ungünstige Situation zu verlassen, als auch die unangenehme Handlung aufzunehmen, ein unerreichbar großer Antriebsverstärker (wie etwa 10 Mio. Euro) wäre, dann sollte man nicht über beides gleichzeitig verhandeln, sondern einen Zwischenschritt einbauen:
Abstrakt:
Minus-Motivations-Situation ----------- normaler Antriebsverstärker------> neutrale Position------------normaler Antriebsverstärker--------> Keller entrümpeln
oder
Minus-Motivations-Situation ----------- Pflichtweg--------------------> neutrale Position------------normaler Antriebsverstärker--------> Keller entrümpeln
Beispiel:
Couch -> "ich koch mir Kaffee" ->Ich stehe in der Küche. "Wenn du jetzt den Keller entrümpelst, bekommst du dafür TheWitcher 3" -> Handlungsaufnahme
oder
Couch -> "ich muss aufs Klo" -> Ich stehe im Bad. "Wenn du jetzt den Keller entrümpelst, bekommst du dafür TheWitcher3" -> Handlungsaufnahme
Es genügt also zum Beispiel, sich im ersten Schritt zum Aufstehen zu motivieren. Sobald man aufgestanden ist, fällt es einem leichter, den nächsten Schritt zu vereinbaren, weil man sich in einer motivatorisch günstigeren Position befindet als vorher.
Doch es steckt noch mehr dahinter, das einem - wenn man es erst mal weiß - dabei hilft, voranzukommen:
Irgendwann kommt der Moment, in dem man bereits zu viel Zeit/zu viel Energie investiert hat, um abbrechen zu wollen. Genau wie bei unserem Beispiel mit dem Getränk, das man aus dem Keller holt - oder eben nicht holt. Irgendwann kommt der Punkt, an dem wir entscheiden: "Jetzt ziehe ich es durch!" Und es ist wichtig zu wissen, dass dieser Punkt schon viel eher kommt, als erst ganz kurz vor dem Ende. Es genügt also völlig, immer nur ein kleines bisschen Motivation für den jeweils nächsten Teilabschnitt zusammenzukratzen, denn irgendwann schlägt die Situation um. Diesen Moment nennen wir "den zu erwartenden Wendepunkt". Zu erwartend ist er, weil er immer kommt. Immer.
Wenn man diesen Wendepunkt erreicht hat, muss man nicht mehr Motivation durch Antriebsverstärker erzeugen, sondern das in Sichtweite geratene Ende der Aufgabe schafft aus sich selbst heraus Motivation.
Oder anders gesagt:
Besonders große/schwierige/komplexe Aufgaben musst du nicht auf einen Schlag mit dir selbst verhandeln, sondern es genügt, wenn du dich teilschrittchenweise mit verfügbaren, ausreichenden Belohnungen hindurchhangelst, bis der zu erwartende Wendepunkt einsetzt.
Ein Bericht aus dem Tagebuch einer Betroffenen:
Wäscheaufhängen: Erst Wäscheständer holen und im Flur aufstellen, zur Belohnung YouTube Video.
Dann Wäsche aus der Maschine und den Batzen auf den Ständer legen, zur Belohnung YouTube Video.
Und danach hatte ich mich ja schon bewegt, sah also, dass ich es konnte, war in Schwung und nutzte es: Lautsprecher an, Musik an, Wäsche aufhängen und dabei ungelenk tanzen.
Auch wenn sie es ein wenig anders erklärt hat - das war der motivatorische Wendepunkt. Es lohnte sich nicht mehr, diese Arbeit abzubrechen, weil sie schon so weit gekommen war. Und plötzlich brauchte sie keine Verhandlung mehr mit sich selbst, um den Rest auch noch zu erledigen. Sie hat es einfach gemacht. Cool, oder?
Jetzt kommt der Schocker:
"Die ganze Wohnung auf Vordermann bringen" ist eine solche, riesige, schwierige, komplexe Aufgabe. Oder "Mein Leben in den Griff kriegen."
Genau das haben wir schon längst in tausend kleine Aufgaben zerschlagen, und für jede einzelne dieser Mikroaufgaben verfügbare, kleine Sofortbelohnungen vereinbart.
Und irgendwann kommt auch hierbei der zu erwartende Wendepunkt. Isso.
Das heißt, irgendwann kommt der Moment, wo es sich für euch mehr lohnen wird, die Wohnung fertigzustellen, als sie euch mit einem halbgaren Zustand zufriedenzugeben. Ihr wollt diese Aufgabe abschließen.
Wann genau dieser Punkt in der jeweiligen Situation erreicht sein wird, kann niemand vorher sagen. Aber wenn man vorher weiß, dass dieser Punkt immer irgendwann kommt, dass unser "interner Energiekostenrechner", der unsere ganzen unwichtigen Entscheidungen nahezu im Alleingang trifft, irgendwann nicht mehr meldet: "Anfangen lohnt sich nicht!", sondern ganz sicher irgendwann plötzlich melden wird: "Aufhören lohnt sich nicht!", dann können wir in aller Seelenruhe alle Aufgaben gezielt immer nur bis zu dem Punkt verhandeln, zu dem wir uns ganz sicher zutrauen, sie erledigen zu können. Wir verhandeln erst wieder weiter, nachdem wir diesen Abschnitt abgeschlossen haben - und befinden uns in diesem Moment in einer motivatorisch günstigeren Position, als vorher. Es fällt uns also leichter, den nächsten Schritt zu verhandeln, als in dem Moment, als wir den vorherigen Schritt noch nicht abgeschlossen hatten. Kann mir noch jemand folgen?
Nein, okay, dann noch ein plastisches Beispiel.
Du hast keine Lust, Zeit, Kraft, um 250 Teile Geschirr zu spülen, und du kannst dich nicht dazu überwinden, die Aufgabe "spüle 250 Teile Geschirr" jemals anzugehen. Du kannst dich auch nicht dazu überwinden, 5 Teile Geschirr zu spülen. Nicht einmal, ein einziges Teil Geschirr zu spülen.
Aber du könntest dich zu folgenden Schritten dazu überwinden:
- Von der Couch aufstehen um aufs Klo zu gehen (Pflichtweg)
- In die Küche gehen, Kaffee kochen (motivatorisch günstiger)
- Den Stöpsel in das Waschbecken zu stecken (noch günstiger)
- Den Wasserhahn aufzudrehen (noch günstiger)
- Spüli ins Becken zu geben (noch günstiger)
Und jetzt stell dir vor, du siehst dem Wasser kurz beim Laufen zu, dann stellst du den Hahn ab, ziehst den Stöpsel und gehst weg, ohne ein einziges Stück Geschirr gespült zu haben.
Das würdest du nicht tun, oder?
Und zwar, weil du den motivatorisch Wendepunkt erreicht hattest. Auf einmal lohnte es sich nicht mehr, das Geschirr nicht zu spülen.
Am motivatorisch Wendepunkt erklärst du dir selbst plötzlich, dass es Schwachsinn wäre, an diesem Punkt den Wasserhahn wieder zuzudrehen und den Stöpsel zu ziehen, ohne wenigstens ein Teil Geschirr gespült zu haben. Wenn du es also schon mal geschafft hast, dich bis zu diesem Punkt in Teilschritten zu motivieren, dann willst du nun auch ein paar Teile Geschirr spülen, um die Energie der ersten fünf Schritte nicht umsonst ausgegeben zu haben.
Wenn wir nun die Energie für den Geschirrberg wieder als Punkte betrachten, haben wir einen 250-Punkte-Berg, und es kostet uns 250 Punkte Motivation (die wir nicht haben), ihn anzugehen. Vereinbaren wir nur 10 Teile, brauchen wir 10 Energie, also 10 Motivation. 10 Motivation ist okay, das können wir aufbringen. Anschließend ist der Berg auch nur noch 240 Teile groß. Wir brauchen also schon mal 10 Motivation weniger als vorher, um ihn wieder anzugehen. Bei solchen Massen macht das noch keinen Unterschied, aber irgendwann kommt der Moment, wo wir genau so viel Motivation aufbringen können, wie wir noch benötigen, um den Berg zum Abschluss zu bringen. Z.B. wenn da nur noch 40 Teile liegen, dann sagen wir vielleicht: "Hey, das mach ich nicht auf viermal, das mach ich jetzt am Stück, und dann ist es endlich weg!"
Der Moment, in dem das Kosten/Nutzen-Verhältnis von "motivatorisch ungünstig" in "motivatorisch günstig" umschlägt, ist also zugleich der, in dem sich deine Leistungsbereitschaft erheblich steigern wird - praktisch von jetzt auf gleich. Statt wieder aufzuhören wie jeden Tag, beschließt du diesmal, es jetzt nicht mehr in kleine Teilschritte zu zerlegen, sondern jetzt endlich komplett fertigzustellen. Weil du dich nicht mehr damit überfordert fühlst. Weil du nicht mehr an dir zweifelst. Weil du das Selbstvertrauen besitzt, weil du deine Kräfte kennst, und du die absolute Gewissheit besitzt, dass du das jetzt definitiv schaffen wirst.
Aber das ist auch der Moment, in dem du am meisten Gefahr läufst, dich selbst auszubeuten, um dein Ziel zu erreichen. Der Moment, in dem du nur noch die Steine siehst, und sie nur noch loswerden willst. Schnell, schnell, schnell. Am besten gestern. Das ist der Moment, in dem du nicht mehr auf die Bedürfnisse deines Körpers achten, und bis tief in die Nacht schuften könntest, bis dein Rücken, deine Hände, deine Knie schmerzen, und du nur noch deshalb aufhörst, weil du sonst zusammenklappst. Das ist der Moment, in dem du Hunger und Durst und alles andere ignorieren könntest, bis du endlich fertig bist, und das ist der Moment, in dem du Gefahr läufst, dich so zu verausgaben, dass du am nächsten Tag wieder in Lethargie versinken möchtest.
Zum Glück hast du aber bis dahin schon geübt, dich nicht mehr selbst auszubeuten. Du hast geübt, diszipliniert und mit Köpfchen dranzugehen. Du hast geübt, dich selbst einzuschätzen, und auf Warnsignale deines Körpers zu achten und zu reagieren. Du wirst wissen, dass der zu erwartende Wendepunkt auch nach der wohlverdienten Pause, oder auch morgen früh noch da sein wird, wenn du wieder ausgeruht bist.
Die alten Probleme sind irgendwann alle weg, aber das Werkzeug, mit dem du Probleme lösen kannst, bleibt dir für ALLE Alltagsprobleme erhalten, die da noch kommen mögen. Ganz egal, was es ist, es braucht immer irgendwie Motivation es anzugehen, man braucht weniger Motivation, wenn man sich zuerst in eine neutrale Position manövriert, man kann alles in schaffbare Teilschritte zerlegen, man kann es sich bestimmt irgendwie energetisch leichter machen (vereinfachen) und man kann darauf bauen, dass irgendwann der zu erwartende Wendepunkt kommt.
Und wenn da nichts weiter mehr ist, als nur noch die kleinen Steine des jeweiligen Tages - was glaubst du dann, wie locker du mit größeren Steinen umgehen kannst, die ab und zu dazu kommen? Wie soll dir so ein pupsiges Steinhäufchen jemals wieder Angst einjagen können, nach allem, was du bereits hinter dich gebracht hast?
Du wirst es jetzt noch sicher sehr seltsam finden, wenn ich dir das sage, aber in deinem Steinhaufen steckt eine große, wunderbare Chance für dich. Durch ihn kannst du lernen, was andere nie lernen werden - weil sie keine Gelegenheit dafür erhalten. Durch ihn kannst du lernen, Probleme zu lösen, vor denen andere davonlaufen würden. Um bei der Metapher zu bleiben: Wenn es so viele Steine sind, die du bewegen musst, dann entwickelst du automatisch Muskeln. "Problemlöse-Muskeln", wenn man so will. Dein Gehirn wird ein geübter, erfahrener Problemlöser. Du wirst für alle Zukunft wissen, dass jeder scheinbar unlösbare, riesige Problemhaufen hauptsächlich aus unzähligen kleinen Problemen besteht, von denen jedes einzelne lösbar ist, und da sie alle irgendwie zusammen zur großen Katastrophe geführt haben, löst du die große Katastrophe, indem du die unzähligen kleinen Probleme löst. Eines nach dem anderen.
Nichts kann dich mehr schocken. Nichts kann dich mehr umhauen. Nichts kann noch so schlimm werden, dass du nicht sagen würdest: "Ich habe schon so viel geschafft, das schaffe ich auch noch." Wer einen Müllberg daheim hatte, und ihn aus eigener Kraft abgetragen hat, der ist auch stark genug für jeden alltäglichen Kleinkram, der da im Leben noch kommen mag.
(11) Sprich nicht über dein Problem
Ein absichtlich provokativer Titel, und ich bin sicher, so mancher hat gerade beim Lesen scharf die Luft eingesogen.
Die Empfehlung, nicht darüber zu sprechen, geht gegen so ziemlich alles, was wir als empfehlenswert betrachten, wenn jemand Hilfe braucht. Das ist mir vollkommen bewusst, aber ich sage es trotzdem. Erlaube mir, die Gründe zu erklären. Wenn du es danach noch als falsch empfindest, nicht darüber mit anderen Menschen zu sprechen, dann tu, was dir richtig erscheint. Ich kann es dir schlecht verbieten, oder?
Schon in mehreren anderen Texten habe ich darauf hingewiesen, dass du mit hoher Wahrscheinlichkeit hauptsächlich von solchen Menschen umgeben bist, die dasselbe Problem haben, wie du - nur in anderer Ausprägung. Wenn es jemanden gäbe, der wüsste, wie man sich positiv motiviert, dann hätte der dieses Wissen längst mit dir geteilt, und du wärst nicht in der Situation, in der du gerade bist.
Viele Menschen können sich ganz schlicht formuliert überhaupt nicht vorstellen, dass positive Motivation genauso gut funktioniert wie negative, (und noch weniger würden sie glauben, dass sie sogar besser funktioniert), weil sie diese Erfahrung nie - oder nie bewusst - gemacht haben.
Wir erleben diese reflexartige Ablehnung auch bei Betroffenen: Viele können es nicht glauben, und deshalb sagen wir auch immer wieder, dass der schwierigste Schritt der ist, es trotzdem auszuprobieren, und die Erfahrung selbst zu machen.
Manche hingegen erinnern sich an positive Erfahrungen, an Belohnungen, die sie in ihrem Leben kennengelernt haben, und sagen sofort: "Ja, das kann ich mir vorstellen, das ergibt Sinn!" oder sogar: "Oh mein Gott, mir wird gerade so vieles klar, das sind genau die Dinge, die bei mir heute anders laufen als früher, wo es bei mir noch super funktioniert hat!"
Seitdem wir mehr Betroffene haben, die darüber berichten, dass es funktioniert, werden auch immer mehr skeptische Betroffene ermutigt, es zu probieren. Besonders wenn jemand schreibt: "Ich habe das alles am Anfang selbst auch absolut nicht glauben können, aber als ich es ausprobierte, merkte ich sofort, dass es was brachte!" (Oh Gott, das klingt jetzt wie eine von diesen gekauften Rezensionen für Viagra )
Ein wiederkehrender Knackpunkt ist ausgerechnet das Kern-Konzept: Die Belohnung.
Betroffene lehnen immer wieder ab, jetzt schon für irgendwas eine Belohnung zu verdienen, ihnen wird (oder wurde) ständig gesagt, dass sie für ihr Verhalten keine Belohnung verdient haben, und das hat sich so tief in ihnen festgesetzt, dass sie es inzwischen auch längst zu sich selbst sagen. Außerdem wird oft die immense Bedeutung der Belohnung völlig unterschätzt, oder sie wird schlichtweg im Eifer des Gefechts vergessen. Doch ohne Belohnung - ohne positive Anreize/Antriebsverstärker geht es nicht. Wenn die negativen Verstärker bisher nie ausgereicht haben, egal wie stark sie wurden, dann muss etwas Anderes her, etwas Zusätzliches, damit man endlich aufsteht und tatsächlich etwas tut. Aber warum sollte man sich noch mehr selbst unter Druck setzen, wenn genauso gut die Aussicht auf einen richtigen Feierabend, auf eine gemütliche Tasse Kaffee, einen Kinobesuch oder Ähnliches einen dazu verlocken kann, zu tun, was getan werden muss?
Tja...weil das eigene Umfeld manchmal querschießt, und weil man tief in seinem Inneren überzeugt ist, dass man keine Belohnung verdient, solange die Aufgabe nicht richtig fertig ist. Ein schreckliches Dilemma. Man kann "die Aufgabe" nicht abschließen, weil sie zu groß ist, also kann man sich auch nicht belohnen, und somit fallen positive Antriebsverstärker flach, die dabei helfen würden, sich der Aufgabe zu stellen, wenn man sie sich vorher in Aussicht stellen würde.
Das ist ein Teufelskreis. Und den unterbricht man am besten, indem man sich "einfach trotzdem" belohnt, und zwar nach jedem Teilschritt(chen). Auch wenn in einem drin ein Widerstand dagegen zu sein scheint. Oder eben, wenn das Umfeld sagt, dass man das jetzt noch nicht verdient habe. Darum ist es gut, wenn man im laufenden Prozess nicht mit anderen darüber spricht - denn dann riskiert man auch nicht, dass sie einen mit solchen Sprüchen runterziehen.
Ich erinnere mich noch lebhaft an einen Dialog mit einer Betroffenen, die auch berichtete, dass sie total in der Antriebslosigkeit versumpft war, und die wissen wollte, was sie tun kann, um da rauszukommen:
Ich erzählte ihr, wie ich mir damals immer vorgenommen hatte, meinen Haushalt so zügig wie möglich zu erledigen, damit ich gleich danach rausgehen kann, und meinem Freund nicht begegnen musste. Und dann kaufte ich mir unterwegs einmal spontan Weintrauben. Ich hatte schon ewig kein frisches Obst mehr gegessen, und für mich war es ein unbeschreiblich tolles Gefühl, weitab von allem, was mich runterzog einfach nur dazusitzen, und Weintrauben zu essen. Mit dem Geschmack kamen Erinnerungen hoch, an früher, als ich noch so viel normaler war. Plötzlich traf mich die Erkenntnis wie ein Hammerschlag: Ich hatte mich so extrem weit von der Normalität entfernt, dass selbst Weintrauben für mich schon etwas Außergewöhnliches waren - und da wusste ich, dass ich dringend etwas ändern muss. Ich brauchte mehr solche Momente in meinem Leben. Mehr positive Erlebnisse, und nicht immer nur Streit und Gedankenstrudel und Ängste. In dem Moment begriff ich, dass es Lebensqualität war, die mir gefehlt hatte. Sehr, sehr viel Lebensqualität, wenn sogar ein paar Weintrauben schon einen regelrechten "Belohnungsschock" (im positiven Sinne) in mir auszulösen vermochten.
Aber die Betroffene schrieb: "Ich hatte mir hier ernsthaft Rat und Hilfe für meine schwerwiegenden Probleme erhofft, und dann erzählst du mir, ich solle einfach ein paar Weintrauben essen, und alles wird gut - so ein Schwachsinn!". Semmelweis-Reflex. Volle Lotte. Nur wusste ich das damals noch nicht.
Ebenso reflexartig wie von vielen Betroffenen wird die Methode häufig von den Angehörigen abgelehnt. Da sie - wie gesagt - im Prinzip das gleiche Problem in geringerer Ausprägung haben, können auch sie sich die entscheidende Bedeutung von Belohnungen (Lob, Dank, Anerkennung...) nicht vorstellen - und reagieren in den meisten Fällen wütend und reflexartig abwehrend. Sie sagen genau die Dinge, die die Betroffenen kaputt gemacht haben. Dinge wie "Dafür verdient man noch keine Belohnung!" oder "Ich soll den Betroffenen für Pipifax loben? Das sehe ich überhaupt nicht ein!" oder "Unsere Probleme löst man nicht mit gemütlich Kaffeetrinken!"
Ich muss immer ein bisschen schmunzeln, wenn ich das lese. Und ganz ehrlich, ich kann diese Abwehrreaktion total verstehen. Ich weiß doch selbst, wie verrückt das klingt:
"Wenn du langsamer arbeitest, und viele Pausen machst, kommst du bald sehr viel schneller voran."
"Wenn du nicht weißt, wo du anfangen sollst, vereinbare zuerst einen Feierabend."
und jetzt auch noch
"Sprich nicht über dein Problem."
Aber genau das ist der Grund, warum das hier funktioniert - weil es eben etwas ganz anderes ist, als das, was man schon tausendmal vergebens gemacht hat. Es soll den Teufelskreis an einer Stelle durchbrechen, an der es funktioniert, statt immer wieder zu versuchen, ihn an einer Stelle zu durchbrechen, an der es noch nie funktioniert hat.
Aber zugleich widersprechen diese Anleitungen auch allem, was man als "richtig" kennengelernt hat. Der Verstand sagt: "Das ist total unlogisch. Das kann überhaupt nicht funktionieren." und bei vielen sagt er sogar: "Dadurch wird ja alles nur noch viel schlimmer!"
Und so geht es nicht nur dir, wenn du hier neu bist, sondern so geht es auch den Menschen um dich herum, wenn du ihnen davon erzählst. Sie fassen sich an den Kopf und rufen: "Hörst du dir eigentlich selbst zu, was du da redest? Langsamer arbeiten? Du bist doch eh schon arschlangsam! Du sollst Kaffeetrinken gehen, wenn deine Bude im Müll versinkt? Geht's noch? Und jetzt sollst du auch nicht mehr mit anderen darüber reden? Was sind denn das für Leute, mit denen du da rumhängst! Das sind sicher alles so faule Säcke, die sich da irgendsoein albernes Ponyhof-Konzept zusammengebastelt haben, damit man sie weiter schön in Ruhe vor sich hin gammeln lässt! Lass die Finger davon, reiß dich mal zusammen, Arsch hoch und ein paar Tage richtig ranklotzen, dann ist das Thema vom Tisch!"
Ja...funktioniert wahrscheinlich sogar...bis zum nächsten Mal...
Wenn du also hier nun neue Ideen kennengelernt und ausprobiert hast, und feststellst, dass das tatsächlich funktioniert, dann bist du vielleicht ganz aufgeregt und euphorisch, und nun möchtest du, dass dein Umfeld möglichst schnell davon erfährt, dass bei dir im Kopf etwas in Bewegung geraten ist. Dass du nicht nur den Ursachen für dein Problem näherkommst, sondern auch eine Methode kennengelernt hast, wie du dem entgegen steuerst. Und es heißt ja auch immer, dass man drüber reden soll, sich öffnen soll. Dass es hilft, klar und offen und direkt miteinander zu kommunizieren. Alles gut und schön. Aber dadurch kann es eben leider sehr leicht passieren, dass du den Semmelweis-Reflex bei deinem Gegenüber auslöst. Die Methode wird dir madig geredet, ins Lächerliche gezogen, und lautstark abgelehnt.
Hinzu kommt bei vielen noch das auf langer Erfahrung basierende, genervte Misstrauen dir gegenüber. Hast du nicht schon so oft versprochen, dass ab jetzt alles anders wird, und nie ist was draus geworden? Warum sollte man dir diesmal glauben?
Diese Gespräche sind unglaublich energiefressend und demotivierend. Sie wecken Zweifel, ob das alles hier wirklich eine so gute Idee ist. Denn wenn es eine gute Idee wäre, warum sind deine Gesprächspartner dann so fest davon überzeugt, dass es nicht funktioniert? Bist du vielleicht irgendwelchen Internet-Spinnern auf den Leim gegangen, die dir Wundermittel andrehen wollen? Ist das hier am Ende gar Gehirnwäsche?
Nein, natürlich nicht. Es geht ja nicht um ein Kontaktverbot. Nur darum, dieses Thema eine Weile ruhen zu lassen. Einfach mal nicht sprechen, sondern machen.
Alles hier zielt darauf ab, sich selbst im Lauf des Tages ein paar kleine, gute - und völlig harmlose - Dinge zu gönnen, die dein Wohlbefinden und deine Lebensqualität steigern. Kein Arzt der Welt hätte gegen dieses Vorgehen etwas einzuwenden. Das alles ist dir klar, aber im Gespräch mit einem Menschen, dem du vertraust, werden die Zweifel trotzdem kommen. Entweder kannst du ihn überzeugen, der Methode eine Chance zu geben, oder er redet es dir aus. Das ist eine 50-50-Chance, bestenfalls, wenn man davon ausgeht, dass du dir der Meinung, dass dies hier das Richtige für dich ist, sehr sicher bist. Aber für dich ist das ja auch alles noch ganz neu, und es fängt gerade erst an, zu funktionieren.
Überzeugungsarbeit leisten zu müssen kostet viel zu viel Kraft, die du gerade viel dringender für etwas anderes brauchst, und wenn es nicht klappt, verunsichert dich die Ablehnung des anderen möglicherweise so sehr, dass du lieber nicht mehr hier weitermachst.
Ich sage auf gar keinen Fall, dass du niemals mit anderen reden solltest. Aber rede lieber mit professionellen Helfern - Ärzten, Psychologen, Sozialdiensten, als mit Freunden und Verwandten. Das Risiko, dass dich die Menschen um dich herum nicht verstehen, und reflexhaft ablehnen, was du sagst, ist einfach noch viel zu groß. Darum kann ich dir nur wärmstens empfehlen: Geh dieses Risiko jetzt noch nicht ein.
Die Erfahrung zeigt: Je früher das Gespräch mit den Angehörigen geführt wird, desto geringer ist die Aussicht darauf, dass das Gespräch so verläuft, wie es sich der Betroffene gewünscht hätte.
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