Rechtskunde einführung in das strafrecht der bundesrepublik deutschland anhand von tötungsdelikten



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6. Unterlassungsdelikte

Fragt der kleine Schlingel seinen Lehrer: „Sagen Sie, kann man auch für etwas bestraft werden, was man nicht getan hat?“ Der gutmütige Lehrer antwortet arglos: „Nein, natürlich nicht!“ Woraufhin der naseweise Schüler die von ihm verdeckt aufgebaute Falle zuschnappen lässt: „Wie schön, ich habe nämlich meine Hausaufgaben nicht gemacht!“ Fehlt nur noch, dass der Frechdachs – vielleicht sogar ernsthaft - weiter argumentiert: „Aber Sie haben eben doch gesagt, ...“ Schüler sind heutzutage leider oft so! Vor Gericht würde er sich das (später) nicht herausnehmen!

Nun kann man nicht von jedem Lehrer verlangen, dass er ein juristisches Zweitstudium absolviert hat (und dann vielleicht auch noch juristische Lehrbücher schreibt, die er als Jura-Student selber gerne gelesen hätte, damit ihm das Studium leichter gefallen wäre), aber ein zweites Mal wird der von dem überschlauen Schüler gefragte Lehrer nicht so arglos in die ihm gestellte Falle tappen! Auch Lehrer lernen in solchen Fällen schnell dazu.

Man muss als Lehrer auch nicht das über 2.000 Jahre alte Laotse-Wort (Laotse / Lao-tse / Laozi / Lao Zi; vermutlich 4.-3. Jh. v. Chr.) kennen und die schon damals vorhandene tiefe Weisheit bewundern, die aus dem Wort spricht: „Verantwortlich ist man nicht nur für das, was man tut, sondern auch für das, was man nicht tut“, weiß aber nach dem Erkennen der vom Schüler schlaubergerisch aufgebauten Falle intuitiv, dass auch Nichthandeln Strafe auslösen kann, nämlich dort, wo eine Handlungspflicht bestand, der nicht nachgekommen wurde.

Und damit haben wir schon ein Strukturprinzip der Unterlassungsdelikte anhand des aus diesem Grund vorangestellten Witzchens erarbeitet. Der Lehrer hätte statt „natürlich“ das Wort „grundsätzlich“ verwenden sollen: „Nein, grundsätzlich nicht!“ Dann wäre seine Aussage richtig gewesen. Wenn nämlich ein Jurist „grundsätzlich“ sagt, dann gibt er damit implizit zu erkennen, dass es von der von ihm genannten Regel mindestens eine juristisch relevante Ausnahme gibt.

Natürlich kann nicht zu handeln üblicherweise oder eben „grundsätzlich“ keine Strafbarkeit begründen: Wer die Faust nur in der Tasche ballt, aber nicht zuschlägt, begeht keine Körperverletzung. Nur wenn in sehr engen Grenzen das Nichthandeln ausnahmsweise für strafwürdig erklärt wird, dann liegt ein Omissivdelikt (lat.: omissio = Unterlassung) vor.


In diesem Kapitel soll das Verständnis dafür geweckt werden, dass nicht nur ein Handeln in der Form des Begehens eine Straftat begründen und u.U. Strafrechtsfolgen auslösen kann, sondern auch ein Unterlassen. Es sei zwar darauf hingewiesen, dass Unterlassungsdelikte - wie bei den Begehungsdelikten auch - nicht nur in der Form der (Allein- oder Mehrfach-)Unterlassungstäterschaft begangen werden können, sondern dass auch hierzu Teilnahme möglich ist. Um aber den Rahmen dieser Darstellung nicht zu sprengen, werden jedoch nachfolgend nicht alle denkbaren Verästelungen von Täterschaft und Teilnahme im Bereich der Unterlassungsdelikte abgehandelt, sondern nur exemplarisch die Unterlassungs(allein)täterschaft. Schon daran kann man das Gefühl für diesen Bereich der Straftaten schulen. Doch wenn z.B. nicht nur ein Elternteil sondern beide ihr gemeinsames Kind trotz für beide gegebener Rettungsmöglichkeit aufgrund gemeinschaftlichen Entschlusses umkommen lassen, dann liegt - analog zu der entsprechenden Fallgestalt bei den Begehungsdelikten - Unterlassungsmittäterschaft vor. Auch mittelbare Unterlassungstäterschaft ist denkbar. Und natürlich ist Teilnahme in Form der Anstiftung oder Beihilfe an einem Unterlassungsdelikt ebenfalls möglich. Aber um das alles in seinen denkbaren Verästelungen darzustellen, hätte dieser Leitfaden zu einem umfangreichen Lehrbuch mutieren müssen - und damit seinen Ansatz der Einführung und Erstunterrichtung überschritten.

6.1 Darstellung

Freundin F und Mutter M gehen mit deren Kind K im Park spazie­ren. K fällt in einen Teich und droht zu ertrinken. Da der K von deren Groß­mutter auf direktem Wege unter Übergehung der M - nicht um Erb­schafts­steuern zu sparen, wie das in deutschen Adelskreisen mit großen Vermögen üblich ist, sondern aus Verärgerung über die M - ein großes Vermögen vermacht worden war, dessen nachträgliche Erlangung im Wege der gesetzli­chen Erbfolge M nach dem mögli­chen Tod der K in greifbare Nähe ge­rückt sieht, unterlässt sie es, K zu retten. Sie veranlasst sogar F, der K ebenfalls nicht zu helfen. M und F schauen der K zwar etwas unangenehm berührt, gleichwohl tatenlos beim Ertrinken zu. K er­trinkt.


Der Fall ist zu rabiat ausgedacht? Leider nicht. Kinder wurden schon aus geringeren Gründen umgebracht:
"Tochter erschlagen

dpa Seesen - Sie konnte wegen der Schreie ihres Babys nicht schla­fen. Deshalb erschlug eine 17jährige Frau aus Seesen ihre vier Wochen alte Tochter."


"Vater verurteilt

dpa München - Das Schwurgericht München II hat einen Vater (24) wegen Mordes an dem einjährigen Sohn seiner Freundin zu lebenslanger Haft verurteilt. Er hatte das Kind brutal mißhandelt, weil ihn das Weinen störte."


"Zu unordentlich

SAD New Orleans - Der Schüler Darll Thomas (14) aus New Orleans musste sterben, weil sein Zimmer unordentlich war. Seine Mutter erschoss ihn, nachdem er sich geweigert hatte aufzuräumen."


[Trotz des Täterexzesses endlich einmal eine Mutter, die sich in der Erziehung ihres Kindes noch zu engagieren gewillt gewesen war. Das erlebt man - euphemistisch umschrieben - als Lehrer wahrlich nicht durchgängig so!

Das Gegenteil liegt auch als Zeitungsmeldung vor:


„Mutter verurteilt

SAD Los Angeles – Weil sie tatenlos zusah, wie sich ihre Tochter zu Tode fraß, ist eine Mutter (49) in Martinez (Kalifornien) zu 240 Stunden Sozialarbeit und 180 Mark Geldbuße verurteilt worden. Die Strafe wurde auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Als die Tochter (13) 1996 starb, wog sie 308 Kilo.“]

In der Einleitung zu dem Kapitel "Einführung in die Technik des StGB" war schon verdeutlicht worden, dass Straftaten nicht nur durch gewolltes Tun, sondern in Ausnahmefällen auch durch Unter­las­sen begangen werden können, nämlich dann, wenn für den Unter­las­senden aus einer Garantenstellung heraus eine Rechtspflicht zum Handeln bestanden hatte, der er aber nicht nachgekommen war.

In zweifelhaften Fällen ist es nicht immer leicht zu unterschei­den, ob ein Begehungs- oder ein Unterlassungsdelikt vorliegt. Exemplarisch hierfür sei der berühmte "Ziegenhaar-Fall" angesprochen.


Ein Fabrikant hatte seinen Arbeiterinnen aus dem Ausland im­por­­tierte Ziegenhaare zur Verarbeitung gegeben, ohne dass er - wegen der hierfür sonst erforderlichen Kosten - das Ma­te­rial vorher hat­te desinfizieren lassen, obwohl er wusste, dass eine Desinfektion aus Sicherheitsgründen erforderlich gewesen wäre. Vier der Arbei­te­rinnen waren daraufhin - wie vorhersehbar ge­we­sen - an einer durch die undesin­fizierten Ziegenhaare verur­sachten Infektion mit Milz­brandbazillen gestorben.
Lag ein Begehungsdelikt durch Hingabe der nicht desinfizierten Haa­re zur Verarbeitung, oder ein Unterlassungsdelikt wegen der nicht erfolgten, aber erforderlich gewesenen Desinfektion vor?

Das RG hatte eine Unterlassungstäterschaft angenommen. Dem hat sich die herrschende Lehre angeschlossen. Die durch Rechtsprechung und die herrschende Lehre gebildete "herrschende Meinung" stellt darauf ab, wo bei normativer Betrachtung und bei Berücksichtigung des sozialen Handlungssinnes der Schwerpunkt des strafrechtlich relevanten Verhaltens liege. Sie sieht im Ziegenhaarfall den Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit in der sorgfaltswidrigen Übergabe der Haare und damit im aktiven Tun des Fabrikanten.

Doch "man soll die Stimmen wägen und nicht zählen", mahnte u.a. schon Schiller. Zur Mindermeinung, die sich gegen eine Unterscheidung "nach bloßen Äußerlichkeiten" wendet, gehört Schmidhäuser der der herrschenden Meinung mit einer nicht zu widerlegenden Begründung widerspricht, die die Strukturunterschiede deutlich macht und dadurch Beurteilungs­kri­terien an die Hand gibt, wobei Schmidhäuser im Ansatz davon ausgeht, dass Strafrecht immer Rechtsgüterschutz darstellt. Seine Begründung98:
"Die Dinge sind vom Rechtsgutsobjekt her zu sehen:

Verlangt der Achtungsanspruch vom Täter, dem Objekt eine Lei­stung zukommen zu lassen, die eine das Objekt bedrohende Gefahr besei­tigt, dann ist rechtsgutsverletzend das Nichterbringen dieser Leistung und also ein Unterlassen.

Verlangt der Achtungsanspruch von dem Täter, dem Objekt einen Eingriff zu ersparen, der für das Objekt gefährlich werden kann, dann ist rechtsgutsverletzend die Vornahme dieses Eingriffes und also ein Begehen.

Im Ziegenhaarfall war von den Arbeiterinnen her gesehen nicht etwa gefordert, sie aus einer Gefahrenlage zu befreien, vielmehr war gefordert, sie nicht durch Ausgabe dieser Haare zu gefährden; es ging nicht darum, ihnen eine Leistung zukommen zu lassen, sondern darum, ihnen einen schädigenden Eingriff zu ersparen. Es handelt sich also um ein (Tötungs-)Be­ge­hungs­delikt."


Mit dieser Definition ist es uns jetzt möglich, zweifelsfrei ein Begehungs- von einem Unterlassungsdelikt zu unterscheiden – nicht aber, ob ein Unterlassungsdelikt oder ein Unglück vorliegt:
„Ameisen stürmen Wiege – Baby tot

Phoenix – Scharen von Ameisen haben ein drei Monate altes Mädchen im US-Staat Arizona getötet. Das in einer Wiege schlafende Kind erlitt hunderte Bisse. Es starb an einer allergischen Reaktion, die zur Schwellung der Atemwege führte. (dpa)“ (HH A 21.05.03)

Dieses „Unterscheidungswissen“ soll nun übungshalber kurz auf den Eingangsfall angewandt werden, obwohl jeder strafjuristisch Blinde schon ohne den vielzitierten Krück­stock fühlt, dass da kein Begehungsdelikt vorliegen kann, weil we­der M noch F gehandelt hatten: M und F waren ja gerade in dem Zeitraum untätig ge­blieben, als von dem Rechtsgut Leben der K der Achtungsanspruch ausgegangen war, die ihr Leben bedrohende Gefahr durch ein Ein­grei­fen zu beseitigen: In dem pflichtwidrigen Nichterbringen der erforderlichen und zumutbaren Leistung zur Rettung aus der akuten Gefahrenlage bestand die Rechtsgutsverletzung. Damit war ein strafbares Unterlassen gegeben. M und F sind folglich Unterlassungstäterinnen.


Aber was für Unterlassungstäterinnen?
Unser Rechtsgefühl sagt uns schon, dass die Handlungspflicht der Mutter M bezüglich ihres Kindes K im Vergleich zur Handlungspflicht der F bezüglich des fremden Kindes gesteigert sein, das Nichthandeln der M schon vom De­likt her einer stärkeren Strafdrohung unterliegen muss, als das der F. Die M war "mehr Schwein" als die F. Für F bestand keine gestei­ger­te, sondern nur eine »Jedermanns-Pflicht«, zur Rettung tätig zu wer­den. Sie hatte das Kind nicht versehentlich in das Wasser gestoßen - dann wäre sie Garantin aus gefährlichem Tun gewesen und hätte aufgrund die­ser Garantenstellung rettend eingreifen müssen - und sie war auch nicht die Mutter. Ihr oblag keine Obhutspflicht gegenüber dem Kind. Sie hätte darum nur so tätig werden müssen, wie jeder andere eventuell vorbeikommende Passant, Herr und Frau Jedermann, auch. Als sie trotz a) Gefahrenlage, b) eigener Handlungsmöglichkeit und c) Zu­mut­barkeit des Erbringens der Rettungsmaßnahme untätig ge­blie­­ben war, hatte sie eine "Jedermann-Unterlassung" begangen. Ein Verstoß gegen eine solche allgemeine Handlungspflicht ist durch die Strafnorm des § 323 c unterlassene Hilfeleistung, den schon angesprochenen »Liebesparagraphen« mit Strafe be­droht. Da diese Strafnorm im Wortlaut des Tatbestandes ein Unter­lassen als deliktisches Verhalten schildert, ist sie ein Beispiel für das so genannte »Wortlaut-Unterlassen«. (Ein anderes Beispiel hierfür ist § 138 Nichtanzeige geplanter Straftaten.) 
Über § 323 c wäre auch eine täterschaftliche Strafbarkeit der M zu erreichen. (Die Anstiftung der M gegenüber der F zu einem Vergehen gemäß § 323 c geht in ihrer eigenen Täterschaft auf. Die Anstiftung tritt hinter die eigene Täterschaft als zwar gleichhoch bestrafbare aber vom moralischen Vorwurf her leichtere Begehungsform zurück. Täterschaft wiegt schwerer als Anstiftung.) Aber eine Strafbar­keit aus § 323 c genügt unserem in Rage gekommenen Rechtsgefühl ja nicht, da M die Mutter der K war und Eltern Garanten für das Leben ih­rer Kinder sind - und später möglicherweise umgekehrt! Als Mutter verstieß M gegen eine im Vergleich zu jedem Nicht-Familienmit­glied ihr obliegende gesteigerte Handlungspflicht, als sie die K wohl seelenunruhig – das sei ihr unterstellt -, aber dennoch bewusst und gewollt untätig bleibend, ertrinken ließ. Das soll ihr auch mit dem Strafausspruch deutlich gemacht werden! Dafür reicht aber eine einfache unterlassene Hilfeleistung nicht aus! In Betracht kommen daher nur Tötungsdelikte, doch die schildern im Tatbestand ausschließ­lich eine Begehung als deliktische Handlungsweise: "Wer einen Menschen tötet ... ." Es heißt nicht: "Wer es unterlässt, einen nahen Verwandten, oder jemanden, den er in Lebensgefahr gebracht hat, aus dieser Gefahr zu befreien, insbesondere ihn zu retten, ob­wohl ihm diese Rettungshandlung möglich und zumutbar wäre, sodass der zu Rettende zu Tode kommt, ... ." 

Wie ist das dann aber mit der Garantiefunktion der strafgesetzli­chen Bestimmungen zu sehen, wenn nun plötzlich der Wortlaut anders ausge­legt wird, als man ihn beim Aufschlagen des StGB lesen kann? Ein Blick ins Gesetz an der richtigen Stelle - und wir finden § 13. Unter Einbeziehung dieses Paragraphen, der die Situation einer ge­steigerten Handlungspflicht umschreibt, die von den Strafjuristen allgemein "Garanten­pflicht" genannt wird, ist § 212 in einer solchen Situation, wie unser Beispielsfall sie schildert, so zu lesen und zu verstehen, wie es vorstehend angedeutet worden ist, und entspre­chend anzuwenden. Damit der Gesetzgeber nicht bei jeder in Frage kommenden Bestimmung eine Unterlassungstäterschaft ausdrück­lich er­klären muss, hat er das für alle in Betracht kommenden Fälle des BT - in Anlehnung an die Darstellungsform einer algebraischen Funktion quasi „vor die Klammer gezogen“ - im AT durch Erlaß des etwas "sperrig" formulierten § 13 gene­rell gere­gelt. § 13 I lautet: 


"§ 13 Begehen durch Unterlassen

(1) Wer es unterlässt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand ei­nes Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Er­folg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirkli­chung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun ent­spricht.

..." 
Weil ein solches "Garantenunterlassen" nicht dem Wortlaut der einzelnen Tat­bestände des BT direkt zu entnehmen, sondern nur durch deren Aus­le­­gung in Verbindung mit § 13 zu ermitteln ist, wird es im Gegensatz zu dem zuvor angesprochenen »Wortlaut-Unterlassen« der §§ 138 und 323 c als »Auslegungs-Unterlassen« bezeichnet. Es ist ein Son­der- und kein (All-)Gemeindelikt, weil es nur von einem Garan­ten begangen werden kann, und nicht von Herrn Jedermann oder seiner Frau. Nur wer einer Sonderpflicht unterliegt, kann sich besonders schwer straf­bar machen, nicht aber eine beliebige andere Person außerhalb des Garantenverhältnisses. Und das kann durchaus strittig sein!
Die Garantenpflicht kann in zwei große Gruppen aufgeteilt werden, in die der Obhuts- und die der Sicherungsgarantie. 

Die Obhutsgarantie verpflichtet den Garanten, ihm zum Zeitpunkt der Tat nach dem BGB be­sonders nahestehende Personen oder solche, deren Betreuung er ver­antwortlich übernommen hat, vor Gefahren an Leib, Leben oder dem Verlust be­deu­tender Vermögenswerte nach Kräften zu bewahren. Garanten sind zuvörderst die Eltern ihrer Kinder.


„Die Eltern der mittlerweile 20-jährigen Mari Conroy, Bill und Muriel Conroy, sind zu zehn Jahren Haft verurteilt worden, weil sie das Krebsleiden ihrer damals 17-jährigen Tochter nicht behandeln ließen. Die Tochter hatte einen Tumor in der Brust.

Der Tumor wuchs und versperrte ihre Atemwege. Dadurch wurde ein Herzstillstand ausgelöst. Die Tochter ist aufgrund dessen nun Invalide und lebt nur noch in einem Wachkoma. Sie kann weder sprechen noch laufen.

Der Vater darf seine Tochter vor Haftantritt noch einmal besuchen, wohingegen die Mutter als 'Fluchtrisiko' eingestuft wurde. Sie war vor den Ermittlungen geflüchtet.“

(Sternshortnews 02.05.2004)


Nach deutschem Recht wären die Eltern wegen einer in mittäterschaftlicher Garantenstellung begangenen schweren Körperverletzung gemäß §§ 224, 13; 25 II zu bestrafen gewesen. Als Höchststrafe hätten ihnen aber nur 5 Jahre gedroht, wenn das Gericht nicht zu der Überzeugung gelangt, dass die schwere Folge „beabsichtigt“ gewesen war. Dann kann auch nach deutschem Recht bei dem erfolgsqualifizierten Delikt der beabsichtigten schweren Körperverletzung des § 225 („Hat die Köperverletzung zur Folge, daß der Verletzte in Siechtum, Lähmung ... verfällt ...“) auf eine Höchststrafe von zehn Jahren erkannt werden.

Strittig ist allerdings, ob dafür ein Handeln mit „bedingtem Vorsatz“ ( = den Erfolg billigend in Kauf nehmend) genügt, so z.B. Dreher/Tröndle und Schmidhäuser, der es ausreichen lässt, dass ein Täter den Eintritt des von ihm erstrebten besonderen Erfolges mit wenigstens unsicherem Tat- und Unrechtsbewusstsein für konkret möglich hält, oder ob - so die Gegenposition - mit einem direkten Vorsatz der final zielgerichteten Folgenherbeiführung gehandelt sein musste, so Schönke/Schröder, die bei bedingtem Vorsatz nur eine Bestrafung aus § 224 heraus gelten lassen wollen.


Versagen die in der Wahrnehmung ihrer Erziehungs- und Sorgepflicht ihren Kindern gegenüber und es wird bei Beratungs- und Therapieresistenz der Eltern das Jugendamt eingeschaltet, kommen dessen Bedienstete in eine Garantenstellung – und damit unter eine strafrechtliche Drohung, wenn das Kindeswohl in absehbarer Weise durch das Verhalten der Eltern schwer geschädigt wird. Den Behörden wird dann immer sehr leicht zu große Untätigkeit vorgeworfen, und ihre Beschäftigten geraten in Rechtfertigungszwänge, die sie nicht immer erfolgreich überstehen.
„Im Mai 1994 wurden das 6 Monate alte Baby Lydia verhungert und ihr 14 Monate älterer Bruder völlig verwahrlost in der Wohnung ihrer Mutter in Osnabrück aufgefunden. Das Jugendamt war auf die Vernachlässigung der Kinder wiederholt aufmerksam gemacht worden. Im März wurde Lydia wegen einer schweren Windeldermitis ins Krankenhaus eingeliefert. Der behandelnde Arzt wies das Jugendamt darauf hin, dass täglich mindestens eine zweistündige Pflege und Betreuung des Babys erfolgen müsse.

Das Jugendamt setzte daraufhin eine Familienhelferin ein, die der Mutter helfen sollte, ihren Haushalt besser zu organisieren. Nicht zu ihren Aufgaben gehörte die Körperpflege und tägliche Kontrolle der Kinder. Zwischen der Sozialarbeiterin [des Jugendamtes; der Verfasser] und den Kindern gab es nun keine Kontakte mehr. Nach dem Tod des Kindes erklärte das Jugendamt, dass es keine Hinweise auf eine Gefahr gegeben hätte. Wenn irgend möglich, versuche die Jugendhilfe, die Trennung von Mutter und Kind zu vermeiden.“99


1999 war ein Lüneburger Sozialarbeiter vom LG Stuttgart wegen fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldstrafe verurteilt worden, weil er nach einem Umzug der Mutter mit ihrem Kind nach Stuttgart die dortige Sozialarbeiterin nicht darüber informiert hatte, dass die Mutter ihr Kind schon (wiederholt?) misshandelt habe. Ähnliche Konstellationen ergeben sich bei der Vernachlässigung von Kindern durch drogenabhängige Mütter.

U.a. das OLG Stuttgart hat 1998 den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Jugendämter in der Jugendhilfe in einer Entscheidung eine strafrechtliche Verantwortung für „durch fahrlässiges Unterlassen erfolgte Verletzungs- oder Todesfolgen bei betreuten Kindern, die durch Vorsatztaten anderer herbeigeführt werden“, zugeschrieben. „Diese Garantenstellung wurde abgeleitet aus dem Wächteramt des Staates und der sich hieraus ergebenden Verpflichtung der öffentlichen Jugendhilfe, das körperliche, geistige und seelische Wohl von mitbetreuten Kindern auch vor rechtsgutsverletzendem Verhalten der Eltern oder eines Elternteiles zu schützen.“100

In dem 1999 abgeurteilten Fall hat das LG Stuttgart bei dem Sozialarbeiter die Sorgfaltspflichtverletzung als strafbegründend angesehen, dass er es unterlassen hat, das nach dem Umzug der Mutter nunmehr zuständige Jugendamt über den bisherigen Verlauf der Betreuung zu informieren und auf besondere Gefährdungsumstände für das Wohl des betreuten Kindes hinzuweisen. Es habe zwar keine besondere Obhutspflicht dem an das andere Amt „abgegebenen“ Kind gegenüber aus einer Dienstanweisung oder Ähnlichem heraus bestanden, aber die Richter kamen in ihrer »Ex-post-Betrachtung«, nachdem das Kind zwar nicht in den Brunnen gefallen, aber erneut misshandelt worden war, zu der rechtlichen Bewertung, es habe – ohne die Anforderungen an in der Jugendhilfe Tätige zu überspannen - bei der gegebenen Gefahrenlage für das Kind durch das Unterlassen eines warnenden Hinweises ein Verstoß gegen die allgemeinen Sorgfaltspflichten eines besonnen und gewissenhaft in dieser Position Beschäftigten vorgelegen. Der unterbliebene Hinweis an das nach dem Umzug nunmehr zuständige Jugendamt sei erforderlich und zumutbar gewesen.
Die Verletzung einer solchen Garantenpflicht hat nicht nur strafrechtliche Konsequenzen, sondern kann sich auch zivilrechtlich niederschlagen; allerdings nicht in dem Umfang wie in Amerika:
„Mitarbeiter auf Zechtour – Firma haftet

Die kanadische Filiale des US-Sportartikelriesen Nike muss einen ehemaligen Mitarbeiter zwei Millionen kanadische Dollar zahlen, weil dieser in indirekter Folge übermäßigen Alkoholgenusses während der Arbeit heute behindert ist. ... Der Geschädigte arbeitete 1991 an einem Nike-Stand ... und trank dabei mit seinen Kollegen reichlich Bier. Danach tranken alle in einer Nacht-Bar weiter. Anschließend stieg der Geschädigte in sein Auto, verlor die Kontrolle über den Wagen und landete im Graben. Dabei zog er sich schwere Verletzungen an der Wirbelsäule zu. Nach Ansicht des Gerichts hätte die Firma nicht nur den Alkoholgenuß bei der Arbeit verhindern müssen, sondern später auch dafür sorgen müssen, dass der Geschädigte nicht selber Auto fährt.“


Die Sicherungsgarantie hingegen verpflichtet denjenigen als Garan­ten in besonderem Maße, der für ein Rechts­guts­objekt durch sein Han­deln eine Gefahrenlage geschaffen, oder der eine potentielle Gefahrenquelle so unter Kontrolle zu halten hat, dass nicht durch eine Realisierung des in der Gefahrenquelle steckenden Risikos andere an Leben, Leib oder Vermögen geschädigt werden. 
„Dobermann-Attacke

dpa Berlin – Ein neunjähriger Junge ist in Berlin von einem Dobermann angegriffen und schwer verletzt worden. Der betrunkene Hundebesitzer sah tatenlos zu. Erst Passanten rissen das Tier von dem Kind weg, das in Arme, Beine und Bauch gebissen wurde. Der Junge musste zweimal operiert werden.“


Wer als Halter eines gefährlichen Tieres spätestens dann nichts unternimmt, wenn die stets latente Gefahr sich realisiert, weil das Tier zubeißt, verletzt seine (Sicherungs-)Garantenpflicht und begeht eine gefährliche Körperverletzung gemäß § 232 a mittels eines gefährlichen Werkzeugs durch Unterlassen.

Als ein Fall einer Sicherungsgarantie ist es sicher auch zu werten, dass in dem Mormonenstaat Utah ein Ehemann für jedes kriminelle Vergehen seiner Ehefrau verantwortlich ist oder war, welches sie in seinem Beisein begeht oder beging.


Und hier der Fall zum Überprüfen, ob Sie das, was über die Voraussetzungen einer Garantenstellung gesagt wurde, richtig verstanden haben und anwenden können:
Im Herbst 2002 ist der Sohn einer wohlhabenden Frankfurter Bankiersfamilie entführt und als Preis für seine Freilassung eine Lösegeldforderung in Millionenhöhe gestellt worden. Der der Tat dringend verdächtige Nachhilfe»lehrer« des Jungen, ein Jurastudent, wurde beobachtet, wie er das hinterlegte Lösegeld abholte, und dann kurz darauf festgenommen, weil er nicht, wie erhofft, zu dem Versteck ging, in dem das entführte Kind möglicherweise noch hätte sein und durch die Polizei dann hätte befreit werden können.

In den Verhören schwieg der mutmaßliche Täter beharrlich. Das ist nach unserer Rechtsordnung rechtens: Niemand muss sich selbst ans Messer liefern, wenn er von der Polizei einer Straftat beschuldigt wird. Es gibt keine Rechtspflicht zum Geständnis!

Nun sind – auch in Deutschland - schon Fälle passiert, dass Entführungsopfer in Erdverliesen im Wald oder in für die Unterbringung des Opfers vorbereiteten abgelegenen Räumlichkeiten verhungert und verdurstet sind, weil die mutmaßlichen Täter von der Polizei schnell ermittelt und festgenommen wurden - und so die Opfer von den Entführern nicht mehr versorgt werden konnten. Da die Täter in den polizeilichen Vernehmungen das von ihnen im Wald gegrabene Erdloch oder jeweilige Versteck nicht preisgaben, in das sie das Opfer in auswegloser Lage eingegraben oder verbracht hatten, konnte es nicht schnell genug gefunden werden. Man fand irgendwann nur noch die Leichen.

Der stellvertretende Frankfurter Polizeipräsident Daschner ging davon aus, dass das entführte Kind möglicherweise noch leben könnte – er konnte nicht wissen, dass der Täter sein Opfer gleich nach der Entführung getötet hatte, da es den Täter ja hätte identifizieren können - und wollte, wenn möglich, zuvörderst das Leben des Jungen retten. Dazu musste der der Tat Verdächtigte dazu gebracht werden, das Verlies des Kindes preiszugeben. Aber der mutmaßliche Täter schwieg beharrlich. Die Zeit verrann!

Der Vizepolizeipräsident glaubte in der schlimmen Zwangslage, entgegen der eindeutigen Gesetzeslage im Grundgesetz, in:
„§ 343 StGB Aussageerpressung (1) Wer als Amtsträger, der zur Mitwirkung an

einem Strafverfahren ...

berufen ist, einen anderen körperlich misshandelt, gegen ihn sonst Gewalt anwendet, ihm Gewalt androht oder ihn seelisch quält, um ihn zu nötigen, in dem Verfahren etwas auszusagen oder zu erklären oder dies zu unterlassen, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.

(2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren.“


und dem hessischen Polizeigesetz, das jeglichen Vernehmungszwang verbietet, einen übergesetzlichen Notstand reklamieren zu dürfen, als er am 01.10.02 anordnete, den mutmaßlichen Kindermörder - in Anwesenheit eines Arztes(!) – notfalls durch Zufügung von Schmerzen durch einen polizeilichen Judolehrer unzulässig unter Druck zu setzen.

(Wer sich dadurch nicht an die Zeit des Mittelalter bis hin zu Friedrich dem Großen, der die Folter abschaffte, und an Nazi-Verhörmethoden erinnert fühlt, der muss als Pflichtlektüre das Buch von Eugen Kogon: „Der SS-Staat“, und dort die Bestrafungsriten in Gestapo-Haft und in KZs mit u.a. einem Ochsenziemer in Anwesenheit eines Arztes lesen!)

Als der Verteidiger des Kindesmörders anlässlich des Prozesses Einsicht in die Vernehmungsakten erhielt, stolperte er über die von dem Vizepolizeipräsidenten bewusst aktenkundlich gemachte Androhung von körperlichen Schmerzen zur Erpressung der Aussage über das Versteck, in das das Kind verbracht worden sei. (Der ansonsten honorige Vize-Polizeipräsident hatte sich darüber hinaus selbst bei der Staatsanwaltschaft angezeigt.)
Es kochte in den Medien eine Auseinandersetzung über die Berechtigung von Polizei-Folter hoch. Der stellvertretende Polizeipräsident forderte in einem Gespräch mit dem Magazin Focus eine Gesetzesänderung: "Die Anwendung von Gewalt als letztes Mittel, um Menschenleben zu retten, müsste auch im Verhör erlaubt sein." Sonst hätte der Polizeiführer sich, so ließ er sich in einem SPIEGEL-Interview ein, nach seiner Sicht der Dinge möglicherweise einer Tötung durch Unterlassen schuldig gemacht.
Medien wiesen in ihrer juristischen Unkenntnis auf die ihrer Meinung nach bestehende (angebliche) Diskrepanz hin, dass dem Staat durch Polizisten zur Gefahrenabwehr sogar ein „finaler Rettungsschuss“ gegen Geiselnehmer gesetzlich erlaubt sei, unser Staat also erlaubt töten dürfe, die Androhung von Folter im Vergleich dazu hingegen ein wesentlich geringerer Eingriff in die Rechtsgüter eines Straftäters sei. Von den wenigen Befürwortern des Vorgehens des Vizepräsidenten der Polizei einmal abgesehen, die sich sogar zu der - fälschlichen - Annahme verstiegen, dass es vermutlich kein Verfahren gegen den anordnenden und den die Drohung dann ausgesprochen habenden Polizeibeamten gegeben hätte, wenn das Entführungsopfer so hätte gerettet werden können, war man sich aber in Juristenkreisen und der in den Medien veröffentlichten Meinung darüber fast einhellig einig, dass das Vorgehen der Polizisten unter keinen erdenklichen Umständen hinnehmbar sei: Ein Staat, der Folter zulässt oder durch seine Bediensteten gar vornehmen lässt, verletzt die Menschenwürde und damit die Grundlage unseres Rechtsstaates. Das Folterverbot ist eine absolute Grenze, die auch nicht nach noch so honorigen, auf Lebensrettung abzielenden Abwägungen – und wenn auch nur ein kleines bisschen durch glaubhafte bloße Drohung mit möglicher Folter - überschritten werden darf!101 Wehret den Anfängen! Das wären sonst ja wieder Gestapo-Methoden.

Einer von Daschners Anwälten argumentierte laut einer dpa-Meldung vom 16.12.04 in der Hauptverhandlung (seinem Amte als Strafverteidiger des Angeklagten entsprechend; wider besseres Wissen?): In dieser Situation habe die Menschenwürde und das Leben des entführten Kindes der Menschenwürde und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit des Tatverdächtigen gegenübergestanden. Daschner habe sich zu Gunsten des Opfers entschieden. Wenn er dies nicht getan hätte, wäre ihm nach Ansicht seines Anwalts danach möglicherweise unterlassene Hilfeleistung oder Tötung durch Unterlassen vorzuwerfen gewesen. Er betonte zudem, wenn der so genannte finale Rettungsschuss durch Polizisten zulässig sei, könne der «einfache körperliche Zwang» gegen Kriminelle nicht verboten seien. Daschners zweiter Anwalt sprach einem Freispruch für seinen Mandanten auch grundsätzliche Bedeutung zu: „Alles andere würde bedeuten, dass die Welt nicht mehr im Rahmen des Rechts gerettet werden kann.“ (Strafverteidiger dürfen in einer Verhandlung jeden hehren Kokolores behaupten, wenn sie sich davon eine Verbesserung der Lage ihres Mandaten bei dem erkennenden Gericht versprechen.)

Die Vorsitzende rückte in ihrer Urteilsbegründung das Vorbringen des Angeklagten und seiner Verteidiger zurecht. Die Richterin führte aus: „Menschen sollen nie mehr wie bei den Nazis nur Träger von Wissen sein, das der Staat aus ihnen herauspressen kann.“ Das Folterverbot ist zentraler Bestandteil des Schutzes der Menschenrechte. (Auch wenn ich in der Lage der um das Leben ihres Kindes bangenden Eltern sicher selber nicht frei davon wäre, die erfolterte Rettung eines eigenen Kindes zu ersehnen!) Im nationalen und internationalen Recht ist Folter geächtet, sogar ausdrücklich bei Terrorangriffen oder Krieg! Das Folterverbot ist deshalb in der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen, der UN-Anti-Folter-Konvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention und über den Wortlaut von Art. 1 I GG
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
im Grundgesetz verankert, denn Menschenwürde schließt Folter aus! Das Verbot markiert die Trennlinie zwischen Rechts- und Unrechtsstaat. Ein Rechtsstaat, der mit Folter drohen ließe oder sie gar zuließe, beginge – da mit „gemeingefährlichen Mitteln“ begangen - Selbstmord!
Ich weiß nicht, ob Sie sich schon zutrauen, das Argument des Vizepolizeipräsidenten zu zerpflücken. Ich halte das für zu schwer. Darum die Fallbeurteilung, wie ich sie sehe: Daschner wendet auf den Vorwurf, er habe mit der Androhung von Schmerzen, „wie er [Gäfken; der Verf.] sie noch nicht erlebt habe“, gegen die Menschenwürde des Grundgesetzes sowie gegen das Folterverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen, ein, dass er nur unmittelbaren Zwang nach dem Polizeirecht ausgeübt habe. Daschner sieht zu Recht einen Unterschied zwischen Zwang und Folter – und beruft sich zu Unrecht darauf, sein Vorgehen rechtlich als unmittelbaren Zwang einstufen zu können.

Daschners Argumentation: Folter sei die Zufügung schwerer körperlicher Qualen, die grausame Leiden hervorrufe. (Das sollte der von ihm herbeigerufene Polizeisportler durch u.a. das Verdrehen des Handgelenks ja aber tun! Das war die Drohung.) Eine solche Maßnahme sei nie Gegenstand der polizeilichen Überlegungen gewesen. Unmittelbaren Zwang, wie er in den Polizeigesetzen des Bundes und der Länder vorgesehen sei, mit Folter gleichzusetzen, sei „absurd” und entbehre jeder Grundlage, schließlich sei es zulässig, dass die Polizei jemandem die Schließkette am Handgelenk unter Schmerzen so zuziehe, dass sie ihn gefügig macht, eine Gegenüberstellung zu ermöglichen. Das sei nach der Rechtsprechung eine zulässige Maßnahme. Was für eine Gegenüberstellung erlaubt sei, so Daschner in einer vorbereiteten Erklärung, könne als einziges Mittel zur Rettung eines Opfers aus akuter Lebensgefahr nicht verboten sein. Der Polizeivizepräsident liegt aber u.a. deswegen falsch, weil er die Verbringung eines mit einer Schließkette gefesselten Gefangenen mit einer Aussageerpressung gleichsetzt.

Sein anderes falsches Argument: Obwohl die Menschenrechtskonvention auch das Recht auf Leben garantiere, sei trotzdem gegenüber einem Geiselnehmer ein ihn tötender „finaler Rettungsschuss“ zu Gunsten des Geiselopfers möglich, um es aus der Gewalt des dann toten Geiselnehmers zu befreien. Mit diesem verqueren Beispiel verwechselt oder verwischt er das Verhältnis der Polizei zu dem Subjekt der polizeilichen Maßnahme: Im Falle des Geiselnehmers steht der Polizei ein Verbrecher gegenüber, der sich nicht in ihrer Gewalt befindet, aber durch Waffeneinwirkung erreichbar ist. Im Falle des Gefangenen jedoch befindet sich derjenige, dem zum Zwecke der Aussageerpressung Gewalt angedroht wird, in unmittelbarem Einfluss der Polizei, dem er sich nicht mehr entziehen kann.

Und jetzt wird Ihnen gleich deutlich werden, warum das Problem an dieser Stelle des Buches abgehandelt wird, was Sie aber noch nicht leisten können, da Sie ja gerade erst mit dem Problem des Garantenunterlassens vertraut gemacht werden. Dann kann man selbstverständlich noch nicht so souverän über das erforderliche Wissen verfügen, dass man dem stellvertretenden Polizeipräsidenten eine rechtliche Belehrung zukommen lassen könnte. Aber Sie haben die Ausführungen zu der Begründung einer Garantenstellung als Obhuts- oder Sicherungsgarant hoffentlich so weit verstanden, dass Sie nachvollziehen können, wenn ich meine Sicht begründe, dass es sich bei dem Vorbringen des Vizepolizeipräsidenten um ein Scheinargument handelt, das ihm wegen der daraus ersichtlichen mangelhaften Rechtskenntnis von jedem Strafrichter sofort um die Ohren gehauen werden müsste:

Die Obhutsgarantie verpflichtet den Garanten, ihm zum Zeitpunkt der Tat – und allein auf diesen Zeitpunkt kommt es für die strafrechtliche Betrachtung immer an! - nach dem BGB be­sonders nahestehende Personen oder solche, deren Betreuung er ver­antwortlich übernommen hat, vor Gefahren an Leib, Leben oder dem Verlust be­deu­tender Vermögenswerte nach Kräften zu bewahren. Ein Obhutsgarant macht sich strafbar, wenn er dem Opfer, hier dem Entführungsopfer, eine Handlung nicht zukommen lässt, obwohl ihm das Gesetz eine Pflicht zum Tätigwerden auferlegt: Der Garant kommt einer ihm vom Gesetz auferlegten Handlungspflicht nicht nach. Zum Zeitpunkt der Tat war die Polizei aber kein Obhutsgarant für den entführten Jungen, da nicht dessen Bodyguard. Die Polizei ist nicht Obhutsgarant uns normalen Staatsbürgern gegenüber. Wäre es anders, hätten geschädigte Staatsbürger immer einen Schadensersatzanspruch gegen die Polizei, weil sie den Betroffenen nicht davor bewahrt hat, Opfer einer Straftat zu werden.

Übrig bleibt nur eine Sicherungsgarantie. Sie verpflichtet denjenigen als Garan­ten in besonderem Maße, der für ein Rechts­guts­objekt durch sein Han­deln eine Gefahrenlage geschaffen, oder der eine potentielle Gefahrenquelle so unter Kontrolle zu halten hat, dass nicht durch eine Realisierung des in der Gefahrenquelle steckenden Risikos andere an Leben, Leib oder Vermögen geschädigt werden. 

Die Polizei war zum Zeitpunkt der Tat jedoch nicht Sicherungsgarant für das Verhalten des die Entführung planenden Jurastudenten. Sie war nicht Sicherungsgarant dafür, dass der Ersttäter Gäfken nicht zum Kindermörder werde. Und nachträglich kann man nicht zum Garanten werden! Selbst wenn der Kabarettist Dirk Bielefeldt als unnachahmlich dargestellter Polizeihauptwachtmeister „Holm“ dessen Kernthese vertritt: „Jeder Mensch ist eine mögliche Straftat!“, so ist die Polizei nicht Sicherungsgarant dafür, dass wir Staatsbürger nicht ab und an kleine, größere oder große Straftaten begehen. Das war nicht einmal im Obrigkeitsstaat so. Das wäre höchstens im Orwellschen Überwachungsstaat möglich. Das kann die Polizei mit ihren geringen Kräften nicht leisten – und wir wollen nicht in einem solchen Staat leben.

Zur gedanklichen Klarstellung des Problems wollen wir einen Augenblick annehmen, dass Daschner nicht wegen seiner Begehungstäterschaft angeklagt wäre - hinter die jedes Garantenunterlassungsdelikt zurücktritt -, und der vernehmende Kriminalbeamte hätte von sich aus Foltermaßnahmen angedroht. Das wäre Daschner zu Ohren gekommen, gleichwohl wäre er nicht eingeschritten. Dann hätte bei Daschner ein Garanten-Unterlas­sungs­delikt vorgelegen, denn bei solchen Delikten handelt es sich darum, dass ein Garant - und das ist der Vizepolizeipräsident gegenüber einem Inhaftierten, wenn dem von einem seiner Untergebenen eine gesetzlich unzulässige Beeinträchtigung oder Beeinflussung droht -, seiner Obhutspflich nicht nachkommt und eine Beeinträchtigung zulässt, die er verhindern kann und zu deren Verhinderung er rechtlich verpflichtet ist. Er wäre nicht Obhutsgarant hinsichtlich des außerhalb seines Einflussbereiches befindlichen Opfers, aber Obhutsgarant hinsichtlich des sich in polizeilichem Gewahrsam Befindenden. Gemäß § 13 StGB wäre er ein Unterlassungstäter, da er es unterließe, „einen Erfolg abzuwehren, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört“, weil „er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht“. Und es ist unbezweifelbar die Aufgabe eines leitenden Beamten dafür zu sorgen, dass die ihm unterstellten Beamten keine Straftaten, hier in Form einer wie auch immer gearteten Körperverletzung, begehen. Daschner wäre in diesem Fall Garant für die körperliche Unversehrtheit des Untersuchungsgefangenen, denn es besteht die Rechtspflicht, nicht zu foltern!



Wenn man das durchdacht und verstanden hat, dann müsste jedem klar sein, dass es einen Unterschied macht, ob gegen einen Täter, der sich nicht in polizeilichem Gewahrsam befindet und der darum (noch) nicht der Sicherungsgarantie der Polizei unterliegt, dafür zu sorgen, dass er keine weiteren Straftaten begehe, ob gegen einen solchen Täter zu Gunsten eines Geiselopfers mit einem „finalen Rettungsschuss“ vorgegangen wird, oder ob sich der zu Folternde schon in ihn bezwingender polizeilicher Gewalt befindet. Wer diesen Unterschied nicht anerkennen wollte, für den wäre die Situation rechtlich gleich zu bewerten, wenn einerseits die Polizei gegen einen freien Geiselnehmer mit einem „finalen Rettungsschuss“ vorgeht – oder den Geiselnehmer nach seiner Gefangennahme während des Verhörs erschießt! Darum führt es zu einem juristisch unhaltbaren Ergebnis, wenn man Daschners Argumentation auf den Leim kröche und Folter gegen Gäfken als zulässig erachtete, weil ja sogar ein Geiselnehmer erschossen werden könne.
Daschner wurde unter Zubilligung „massiver Milderungsumstände“ und unter Abweichung vom Regelstrafrahmen von fünf Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe äußerst milde nur wegen Anstiftung zu schwerer Nötigung (da unter Missbrauch seiner Amtsstellung begangen) – und unverständlicherweise nicht wegen Aussageerpressung(!) im Amt mit einer Mindeststrafe von einem Jahr Gefängnis (und damit verbundener zwangsläufiger Entlassung aus dem Beamtenverhältnis) - zu 90 Tagessätzen von insgesamt 10.800 € unter Strafvorbehalt auf Bewährung verurteilt. Deswegen gilt er – trotz der mit dem Urteil ausgesprochenen Missbilligung durch die Rechtsordnung – als nicht bestraft; ein äußerst verständnisvolles Urteil, das angesichts der Schwere des Delikts in dem konkreten Strafausspruch nicht ganz so milde hätte ausfallen müssen, denn in dem Urteil geht es nicht nur individual- oder spezialpräventiv um den Fall der beiden Polizisten, die sich sicher kein zweites Mal mehr so verhalten werden, sondern auch generalpräventiv gegenüber allen Polizisten um unsere staatliche Ordnung: eine ebenfalls zur Bewährung ausgesetzte geringe Gefängnisstrafe hätte die Missbilligung der Rechtsordnung gegenüber bei Vernehmungen Folter androhenden Polizisten meines Erachtens angemessener zum Ausdruck gebracht. "Die Verteidigung der Rechtsordnung", sagte die Vorsitzende in der mündlichen Urteilsbegründung, habe "zwar einen Schuldspruch, aber keine Verurteilung geboten", da sich die Angeklagten "subjektiv in einer Situation befunden hätten, die eine gewisse Nähe zu Rechtfertigungsgründen vermuten" lasse, da der mit der Auffindung des Lösegelds festgenommene Verdächtige den Kriminalisten den Eindruck vermittelt habe, dass er bewusst mit dem Leben des Kindes spiele". Das ist eine mehr als windelweiche Begründung für die äußerst nachsichtige Ahndung eines so schwerwiegenden Vorwurfs der Androhung von staatlicherseits verübter Folter, da es unter der Geltung des Grundgesetzes wegen der in Art. 1 GG normierten Unantastbarkeit der Würde des Menschen für staatlich verübte Folter keinerlei Rechtfertigung geben kann! Nach den in der NS-Zeit gesammelten Erfahrungen soll es dem Staat unmöglich gemacht werden, dass der Staat aus einem zu einem "Bündel der Angst" gemachten Bürger Informationen herauspressen dürfe - "und sei es im Dienst der Gerechtigkeit". Da kann es für staatliche Folter keine gesetzliche Grundlage in Form strafjuristischer Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe wie Notstand, Notwehr in Form der Nothilfe, Verbotsirrtum, vermeintlich zulässige Methoden des unmittelbaren Zwanges aus dem Polizeirecht und – als schwerstes juristisches Geschütz der Verteidigung - die Vermeidung der Gefahr einer von den Polizisten (angeblich) befürchteten späteren Anklage wegen einer durch ihre Unterlassung begangenen Tötung des Entführungsopfers geben, zumal es nach Meinung der Kammer "schon objektiv gar keine Notwendigkeit" für das Erwägen derart rechtsstaatsfeindlicher Methoden gegeben habe: "Es war keine unausweichliche Konfliktlage", fasste die Vorsitzende Richterin in ihrer mündlichen Urteilsbegründung zusammen, "es war nicht einmal eine besondere Ausnahmesituation", sondern ein Kriminalfall, der "in diesem Bereich leider nicht untypisch ist. Die Möglichkeiten waren bei weitem nicht ausgeschöpft." Mitarbeiter hatten dem Vize-Polizeipräsidenten und dem mitangeklagten Kripobeamten wiederholt gesagt, dass sie deren geplante Vorgehensweise für ungesetzlich hielten, da außer internationalem und bundesstaatlichem Recht auch das hessische Polizeigesetz auf das Verbot der Strafprozessordnung verweist, nach der die Freiheit der "Willensentschließung oder Willensbetätigung" des Beschuldigten nicht durch Misshandlung oder "körperlichen Eingriff" beeinträchtigt werden darf. Der Gesetzgeber habe die möglichen Zwangslagen gesehen und seine Abwägung getroffen. Daran hätte sich der Vizepolizeipräsident halten müssen, zumal er von ihm Unterstellten wiederholt darauf hingewiesen worden sei. Ein Zeuge sagte, er habe nach Daschners Anordnung Entsetzen erlebt, Ungläubigkeit. Der Chef des Sondereinsatzkommandos habe wortlos den Telefonhörer auf die Gabel geknallt, als an ihn das Ansinnen herangetragen wurde, einen Mann abzustellen, der in der Lage sei, Gäfgen zu foltern (DIE WELT 21.12.04).
Um den Rahmen des Buches nicht zu sprengen, wurde für die in diesem Buch zu dem Problemkreis der Garantenpflicht behandelten Fälle eine Beschränkung der Darstellung auf Fälle einer Obhutsgarantie vorgenommen.

6.2 Teleologische Systematik der Unterlassungsdelikte 

Im Unrechtstatbestand ist die Gefahrenlage für ein Rechtsgutsob­jekt darzustellen. Wird ein Wortlaut-Unterlassen geprüft, so sind die in der Strafnorm genannten Voraussetzungen anschließend auf ihr Vorliegen hin zu untersuchen und gegebenenfalls zu bejahen. Wenn ein Auslegungs-Unterlassen gegeben sein könnte, so ist die zu prüfende Strafnorm des BT in Verbindung mit § 13 Ausgangspunkt der Überlegungen. Es ist dann a) das Garantieverhältnis, b) die individuelle Handlungsmöglichkeit des Garanten mit objektiver Rettungsaussicht, c) sein Nichthandeln und d) die Entsprechung des durch das Unterlassen begründeten Unrechts gegenüber der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun zu prüfen. Können diese Punkte bejaht wer­den, so ist damit das Unterlassungsunrecht gegeben.


Bei den Rechtfertigungsgründen ist beim Vorliegen von Anhaltspunk­ten darauf einzugehen, ob der Täter eine unaufschiebbare, vorge­hen­­de oder wenigstens gleichrangige Handlungspflicht erfüllt hat.

Im Gegensatz zu den Begehungsdelikten wäre sogar auch im letzteren Fall ein Unterlassen gerechtfertigt und das Unrecht ausgeschlos­sen:


Bei einem schweren Busunglück auf einer Autobahn werden mehrere Perso­nen gleichschwer verletzt und in das nächste Krankenhaus ge­schafft. Die Ärzte schieben ein Unfallopfer in den OP und ret­ten es. Die anderen gleichschwer Verletzten sterben draußen vor der OP-Tür. Jedes andere Unfall­opfer wäre gerettet worden, wenn es als erstes operiert worden wäre.
Die Bereitschaftsärzte waren aus übernommener Behandlung Ga­ran­ten für das Leben aller einge­lie­fer­ten Opfer. Ihrer Garan­ten­pflicht kamen sie aber nur gegenüber dem glücklichen ersten Opfer nach, doch sie konnten auch nur nicht mehr als einem Opfer gegenüber dieser Pflicht nachkom­men. Gegenüber den anderen Opfern konnten sie dem gleichran­gi­gen Anspruch nicht nach­kommen und erfüllten (für eine „logische juristische Sekun­de") den Unrechtstatbestand einer Tötung durch Unterlassen. Dieses zunächst als begründet angenommene Unrecht ist aber so­fort dadurch gerecht­fertigt und so­mit sofort wieder ausge­schlos­sen worden, dass die Ärz­te einer gleich­rangi­gen Handlungspflicht genügten, als sie ein gleichschwer verletztes Unfallopfer ope­rierten.

Hätten die Ärzte zunächst ein leichter verletztes Unfallopfer ohne bestehende Lebensgefahr ver­sorgt und wäre in der Zwischenzeit ein dringlicher zu ver­sorgendes Opfer mit an sich guten Überlebenschancen bei sofortiger Einleitung der erforderlichen Rettungshandlungen gestorben, so würden die Ärzte bei uns wegen dieser Tötung durch Unterlassen angeklagt werden müssen. (Aber wer will das entdecken, anzeigen und auch noch beweisen, wenn die Insider schweigen?)


Ein solches ärztliches Fehlverhalten sei generell nicht vor­stell­bar? Schon allein der von Ärzten der westlich orientierten Welt geschworene hippokratische Eid verhindere das? Es passierte sogar noch schlimmer. Dazu die folgende Zei­tungs­meldung, die zum Glück nach der politischen Umgestaltung der Südafrikanischen Union von dort so nicht mehr wird berichtet werden können:
"Wie man an Apartheid stirbt. 

Johannesburg - Ein als Fernsehmonteur arbeiten­der Mischling ist Pressebe­rich­ten zufolge nach einem Unfall auf einer Bahre gestorben, weil er wegen seiner unklaren Ras­senzugehörig­keit von einer Kranken­hausabteilung in die andere geschickt wurde. Vivian Salomons, der bei seinem Unfall keine Personalpapiere mit einer klaren Aussage zu seiner Rasse bei sich hatte, ist Zeugen zu­folge nach­einander in die - streng getrennten - Abteilungen für Misch­linge, Asiaten und Weiße ein­gewiesen worden, weil ein Mensch in der Südafrikanischen Union nach den dort geltenden Rassentren­nungsgesetzen nur in `seiner' Abteilung behandelt werden darf. Er ist während der Überweisungen gestorben. Dabei haben sich die Krankenhausan­ge­stellten den Zeugen zufolge ein­zig um seine Hautfarbe, nicht aber um seine Verletzungen ge­küm­mert."
Nachdem das unmenschliche System der Apartheid abgeschafft worden ist, werden sich solche Fälle in ähnlicher Konstellation wohl nur noch dann in irgendwelchen Ländern wiederholen, in denen keine generelle Krankenversicherungspflicht besteht und Ärzte die Aufnahme in ihr Krankenhaus wegen der unklaren Kostentragungslage abzulehnen suchen.

Da konnte man aus den USA schon ähnlich Erschreckendes hören!


Im Schuldtatbestand liegt bei den Unterlassungsdelikten dann Vor­sätzlichkeit vor, wenn der Täter um alle Punkte des Unrechtstatbe­standes gewusst und bewusst gegen eine sich daraus ergebende Hand­lungspflicht verstoßen hat, ohne dass sein Handeln gerechtfertigt gewesen war.

Fahrlässigkeit ist dann zu bejahen, wenn dem Täter bezüglich aller Punkte des Unrechtstatbestandes die Möglichkeit der Wissenserlan­gung gegeben war, sodass er den Verstoß gegen die ihm auferlegte Handlungspflicht hätte vermeiden können.  

Als Entschuldigungsgrund ist denkbar, dass der Täter in nachvoll­ziehbarer Weise einer anderweitigen moralischen Verpflichtung von erheblichem Gewicht nachgekommen ist und darum das an sich dring­li­chere Handeln zur Gefahrenabwehr unterlassen hat.

6.3 Anwendungsfall und Besprechung

Zur Besprechung wurde der berühmte »Ade-Schatz-Fall« ausgewählt, für dessen Entscheidung der BGH zu Recht viel und sehr gescholten worden ist. Weil es dabei teilweise auf Einzelheiten ankommt, wird schamlos zitiert (JR 1955/104 f):


"Eine noch nicht volljährige Pflegetochter lief von ihrem zu Hause weg, als sie einen jungen Mann kennenlernte, der ihr Versprechun­gen auf eine gemeinsame Zukunft machte. Den Pflege­eltern gelang es, sie zurückzuholen und ihr das Versprechen ab­­zunehmen, ihren Freund nicht wiedersehen zu wollen. Doch beim ersten auf sein Drän­gen stattfindenden heimlichen Treffen gab sie diese Vorsätze auf und folgte ihm wieder bedenkenlos. Sie verlobte sich sogar mit ihm. ‘Beide hatten ihre Schicksale verknüpft und im Hinblick darauf eine von der Sitte nicht ge­bil­ligte, aber tatsächliche Gemeinschaft des Lebens aufgenom­men, die später zur Ehe führen sollte.' Zur Finanzierung ihres Vagabundenlebens begingen sie mehrere Straftaten und wurden des­wegen von der Polizei gesucht. Das war ihnen bekannt. In dieser Lage und von Geldmitteln völlig entblößt fasste das Mäd­chen M den Entschluss, aus dem Leben zu schei­den. Es sagte aber dem Angeklagten, ihrem Verlobten V, nichts hierüber, sondern ging mit ihm an eine Bahnlinie. Sie setzten sich an einsamer Stelle auf einer zum Bahnkörper hin abfallenden Böschung nie­der. Das Mädchen wechselte eine Monatsbinde und warf dann sein Nachthemd weg mit der Bemerkung, es brauche das Hemd nicht mehr. Sehr bald erklärte das Mädchen dann, austreten zu müs­sen, stieg schräg zum Bahnkörper hinunter, wandte sich dabei zu V um und rief ihm zu: ‘Ade Schatz!' Dass sich ein Zug näher­te und das Mädchen über den Schotter und die Geleise des Bahn­körpers stieg, beachtete V nicht. Er lag auf dem Bauch und blick­te in die andere Richtung vor sich hin. Erst als das Mäd­chen nach der Vorbeifahrt des Zuges auf seinen Ruf nicht ant­wor­tete, sah er nach und fand es tot vor. V hätte aber die M noch festhalten oder doch von den Schienen wegreißen können, wenn er aufgepaßt hätte und ihr sofort nachgeeilt wäre."
Lösungsskizze für die (als unrichtig erachtete) BGH-Ansicht, wobei die fragwürdigen Gesichtspunkte durch "(?)" kenntlich gemacht sind.
M schritt "offensichtlich mit Gelassenheit und ohne Hast in den Tod". V hätte - so wird unterstellt - die M von ihrer Selbsttötung abhalten können, die sie ihm gegenüber im Gespräch nicht deutlich gemacht, sondern nur durch das Wegwerfen des Nachthemdes, den die­ses Tun begleitenden Satz, sie brauche das Nachthemd nicht mehr und den Zuruf: "Ade, Schatz!" angedeutet haben könnte(?). V handelte aber nicht, ob­wohl er die sich anbahnende Situation (nach BGH Vermu­tung) hätte erkennen können (?).
(1) Zu prüfen ist fahrlässige Tötung durch Nichthindern der Selbst­­tötung in (vom BGH behaupteter) Garantenstellung gemäß §§ 222, 13.

(a) UTB:


V handelte nicht selbst und setzte auch keine Ursache für den Tod der M. Darum scheidet ein Begehungsdelikt aus.

V könnte sich nur dann strafbar gemacht haben, wenn er entgegen einer bestehenden Ga­rantenpflicht, die sich allein aus enger Lebensge­mein­schaft ergeben müsste, untätig geblieben wäre. Dass V einen Ret­tungsversuch unter­ließ, ist dabei unstreitig.

Fraglich ist aber zunächst die Garanten­stellung. Die kann sich, ob­wohl keine Ehe und damit keine voll­ständige Lebensgemeinschaft, sondern "eine von der Sitte nicht gebilligte aber tatsächliche Gemeinschaft des Lebens" bestanden hatte, u.U. aus einem solchen "Quasi-Ver­löbnis" ergeben (?). (Für feste, auf längere Dauer angelegte nichteheliche Partnerschaften Erwachsener wird sie in der heutigen Zeit zu bejahen sein, aber nicht, wenn eine nur mal einige Zeit mit einem „geht“. Hinzu kommt, dass das Gericht selber die Beziehung als „von der Sitte nicht gebilligte Gemeinschaft des Lebens“ eingestuft hatte. Wie sollte sich daraus eine Garantenpflicht ergeben können? Garantenpflichten entstehen ja gerade aus Sitten, nicht aber aus Unsitten.) Wegen der ungewöhnlich starken Liebesbezie­hung der beiden zueinander und der Unbedingtheit, mit der sie einan­der angehörten, war der Angeklagte unter den festgestellten Gesamtum­ständen rechtlich verpflichtet (?), Gefahren für Leib und Leben von seiner Braut abzuwenden und sie, soweit ihm möglich, an der Selbsttötung zu hindern (?). Die Garantenstellung ist zu bejahen (?).

V unterließ die Erfolgsabwehr, obwohl er aufgrund dieser Ga­ranten­stellung (angeblich) dazu verpflichtet gewesen wäre. Sein Unterlassen eines Ret­tungsver­suches entspricht der gemäß § 13 geforderten Verwirklichung des ge­setzlichen Tatbestandes durch ein Tun (???).

Der UTB ist erfüllt.

(b) RF: (-)

(c) STB:

Von der Schuldfähigkeit des V ist auszugehen.

Da V die M bei ihrem Tun nicht beobachtet, sondern auf dem Bauch liegend nur un­acht­sam (?) in die andere Richtung geblickt hatte, ist auf der Stufe der subjektiven Zurech­nung FL zu prüfen:

V hatte kein Tatbewusstsein. Aber obwohl die M zunächst ihre Mo­nats­binde gewechselt und dann kurze Zeit später bei ihrem Davonge­hen angegeben hatte, kurz austreten zu wollen, hätte V die Selbst­tötungsabsicht der M erkennen können und müssen (???), weil sie (- wie es auch manche anderen jung Verliebten tun! -) zu­vor ihr Nachthemd mit der Bemerkung weggeworfen hatte, sie brauche es nicht mehr (da sie in Zukunft mit ihm immer nackend zu schlafen wünsche, um so besser seine Haut spüren zu können?), und beim (angeblichen) Austreten: "Ade, Schatz!" ge­sagt hatte.

Die Erlangbarkeit ("Potentialität") des Tatbewusstseins wird (vom BGH) bejaht (?). Daraus ergibt sich dann die Erlangbarkeit des Unrechtsbewusstseins.

Die unrechte Tat war (nach BGH-Ansicht) fahrlässig begangen worden.

(d) E: (-)
Endergebnis: Fahrlässige Tötung durch Nichthindern einer Selbst­tö­tung in Garantenstellung gemäß §§ 222, 13 (+). (???)
Anmerkung

Zu den in der strafjuristischen Argumentation mit "(?)" markierten fragwürdigen Stellen wird angemerkt:

Erstens wird eine Garantenstellung aus Verlöbnis in der Rechtswis­senschaft überwiegend abgelehnt.

Zweitens muss V keine Selbsttötungsabsicht der M ahnen, wenn M aus­treten will - auch dann nicht, wenn M dabei einen etwas komischen "Spruch loslässt"; und auch dann nicht, wenn sich das Herannahen ei­nes Zuges entfernt ankündigt. (M schritt "offensichtlich mit Ge­lassenheit und ohne Hast in den Tod".) Gegen ein vom BGH unterstelltes, sich (mir aber nicht) aufdrän­gen­des Erlangen des Bewusstseins einer bevorstehenden Selbsttötung in dieser Gesamtsituation spricht die allgemeine Lebenserfahrung (Mo­natsbindenwechsel und die Behauptung, austreten zu wollen). Die Erlangbarkeit des Tatbewusstseins in dieser konkreten Situation kann mit Fug und noch mehr Recht bezweifelt werden.

Der größte Wertungswiderspruch ergibt sich drittens aber daraus, dass für die Bestrafung eines Garanten gemäß § 13 gefordert werden muss, dass sein Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tat­bestandes durch ein Tun entsprechen müsse. Davon kann in diesem Fall der Selbsttötung nun wirklich keine Rede sein: Da ein "Bi­lanzsuizid", mit dem jemand sein von ihm als verpfuscht ange­se­henes Leben beenden will, für den Täter straflos ist und darum ein vorsätzlich handelnder Gehilfe dieser Selbsttötung für einen von ihm hierzu erbrachten Tatbeitrag nach deutschem Recht (im Gegensatz zu z.B. dem Recht der USA und Kanadas) wegen Fehlens einer Haupttat nicht bestraft werden kann, darf eine fahrlässige Nichthinderung einer freiverantwortlich vorgenommenen Selbsttötung auch nicht strafbar sein. Im letzteren Fall wird ja nicht einmal eine Hilfe­leistung erbracht!

Das Urteil des BGH ist ein Beispiel dafür, dass schludrig wirkt, wer beim Anziehen einer Jacke den ersten Knopf falsch knöpft und dann schön ordentlich und konsequent weiterknöpft.

Und nachdem das alles erarbeitet worden ist, ein Fall zum Wundern – oder zur Überprüfung des Gelernten:
Frau an Klobrille festgewachsen

Eine 35-jährige Frau hat in den USA zwei Jahre auf der Toilette verbracht. In dieser Zeit ist ihre Haut mit der Klobrille verwachsen. Polizisten mussten den Toilettensitz abschrauben, bevor sie die 35-Jährige ins Krankenhaus bringen konnten. Laut dem Freund der Frau sei die Beziehung aber normal weiter gelaufen.

Zwei Jahre lang hat eine 35-jährige Frau im US-Staat Kansas nach Polizeiangaben auf einer Toilette im Badezimmer ihres Freundes gesessen – und war letztendlich mit dem Sitz verwachsen. Sie habe unter einer Phobie gelitten und das Bad deswegen nicht mehr verlassen wollen, erklärte ihr Freund in einem Telefoninterview. Beide hätten weiterhin eine ganz normale Beziehung geführt, die sich eben im Badezimmer abgespielt habe.

Polizisten schraubten den Sitz ab und brachten die Frau in eine Klinik, wo sie operativ von dem Sitz getrennt wurde. "Sie war nicht angeklebt, sie war nicht gefesselt“, sagte der Polizist Bryan Whipple. Offenbar sei die Haut der Frau um den Sitz herum gewachsen. "Es ist kaum vorstellbar“, fügte der Beamte hinzu. "Ich habe immer noch Schwierigkeiten, mir das vorzustellen.“


Die Polizei wurde am 27. Februar von dem Freund der Frau angerufen. Er habe gesagt, "dass irgendetwas mit seiner Freundin nicht stimmt“, teilte Whipple mit. Der Freund habe sie mit Nahrung und Wasser versorgt und sie jeden Tag gefragt, ob sie nicht aus dem Bad kommen wolle. "Ihre Antwort sei gewesen: ’Vielleicht morgen’.“ Das Haus in Ness City hat ein zweites Badezimmer, das daraufhin von dem Freund benutzt wurde.

"Ich hätte früher Hilfe holen sollen"

Der 36-Jährige erklärte, seine Freundin habe sich jeden Tag etwas länger im Badezimmer aufgehalten. Irgendwann habe sie sich entschieden, den Raum nicht mehr zu verlassen – "als ob es ein sicherer Ort für sie war“. Ende Februar habe seine Freundin allerdings gewirkt, als ob sie nicht ganz bei sich wäre, und er entschied sich, die Polizei zu rufen. "Ich hätte früher Hilfe für sie holen sollen, das gebe ich zu. Aber nach einer Weile gewöhnt man sich irgendwie daran“, sagte er über das eigenartige Verhalten seiner Freundin, mit der er seit 16 Jahren zusammen ist.


Ein Nachbar berichtete, die Frau habe eine schwere Kindheit gehabt. Ihre Mutter sei früh gestorben, und sie sei daraufhin offenbar die meiste Zeit im Haus festgehalten worden. Ihrem Freund zufolge wurde sie geschlagen.

Kein Gefühl mehr in den Beinen

Die Polizei fand die Frau mit heruntergelassener Hose auf dem Toilettensitz. "Sie sagte, dass sie keine Hilfe brauche, dass es ihr gut gehe, und dass sie nicht weggehen wolle“, erklärte Whipple. Schließlich konnte sie aber überzeugt werden, in die 240 Kilometer entfernte Klinik nach Wichita gefahren zu werden.

Nach Angaben ihres Freundes war sie sich gar nicht bewusst, dass sie mittlerweile gar kein Gefühl mehr in ihren Beinen hatte. Eine Infektion habe ihre Nerven geschädigt, und möglicherweise werde sie in Zukunft im Rollstuhl sitzen. Er wolle sich nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus weiterhin um sie kümmern. Die Behörden prüfen unterdessen, ob ein Ermittlungsverfahren gegen den Mann wegen Misshandlung einer schutzbedürftigen Erwachsenen eingeleitet wird.
WELT ONLINE 20.03.08



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