Rechtskunde einführung in das strafrecht der bundesrepublik deutschland anhand von tötungsdelikten


§ 22 definiert im AT für alle begehbaren Delikte den Beginn des Versuchs allgemein mit den Worten



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§ 22 definiert im AT für alle begehbaren Delikte den Beginn des Versuchs allgemein mit den Worten:
"§ 22 Begriffsbestimmung

Eine Straftat versucht, wer nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung unmittelbar ansetzt."


Das hört sich so klar an: Sollte es wenigstens in diesem Punkt un­ter den Strafjuristen einmal keinen Streit geben? Weit gefehlt! Die Definition des § 22 gibt dem Rechtsanwender Steine statt Brot, denn sie lässt offen, wann jemand in einem konkreten Fall unmittel­bar zur Tatbestandsverwirklichung ansetzt. Soziale Phänomene kann man eben oft nicht naturwissenschaftlich exakt aufsplitten. In die­sem Zusammenhang ist der "Pfeffertüten-Fall" be­rühmt geworden:
T lauert an einer Straßenbahnhaltestelle dem von ihm erwar­teten Lohngeldboten O auf. Ihm will er mitgebrachten Pfeffer in die Au­gen werfen, um den so Geblendeten dann zu berauben. T unterschied sich äußerlich in nichts von ande­ren Passanten, von denen einer vielleicht gerade vom Einkaufen kam und even­tuell auch gemahlenen Pfeffer in einer Tüte dabei hatte. T wur­­de vor dem Eintreffen des O verhaf­tet. (Irgendje­mand muss da geplaudert haben.) (NJW 52/514)
Hatte T, indem er sich wartend an die Bushaltestelle stellte, zur Tatbestandsverwirklichung schon unmittelbar angesetzt, oder befand er sich noch im straflosen Stadium der Vorbereitung?
Um deutlich zu machen, in welchem frühen Stadium auf der durch nachfolgende Graphik veranschaulichten Zeitschiene sich der „Pfeffertüten-Fall“ abspielt, sei kurz folgende Zeitungsmeldung in die Fallbesprechung dazwischengeschoben:
„Räuber noch vor der Bank gefasst

dpa Uelzen – Zwei Räuber haben sich vor der Tür einer Bank in Uelzen (Landkreis Lüneburg) maskiert. Ihr Pech: Sie wurden von einem Polizisten beobachtet. Er nahm einen der Gangster fest, bevor er die Bank betreten konnte. Der zweite floh zunächst, konnte später gefaßt werden.“


Der BGH, der die Tendenz hat, die Strafbarkeitsgrenzen auszudeh­nen, hat T aus dem „Pfeffertüten-Fall“ wegen des

Versuchs eines schweren Raubes gemäß §§ 250 I Nr. 2 ("oder sonst ein Mittel bei sich führt, um den Widerstand eines anderen durch Gewalt ... zu überwinden"), 22, 23 verurteilt, weil es nach der Tätervorstellung unmittelbar zum

Rechtsgutsan­griff kommen sollte, wenn O eingetroffen wäre. Aber O war ja noch gar nicht als potentiell zu beraubendes Opfer erschienen, T konnte – im Gegensatz zu den Bankräubern der Zeitungsmeldung - noch gar nicht die Schwelle zum „Jetzt-geht’s-los“ überschritten haben! Vielleicht hät­te es sich T in dem aktuellen Augenblick von Os Erscheinen noch einmal anders über­legt und von seiner ursprünglichen "dolosen" (hinterlistig auf Deliktsverwirklichung zielenden) Absicht Abstand genommen? Was die Bankräuber ja nicht taten.

Für seine Entscheidung im „Pfeffertüten-Fall“ ist der BGH fast unisono von den Professo­ren der Strafrechtswis­sen­schaft, der "Lehre", gescholten worden. Sie wiesen darauf hin, dass das Rechtsgut Eigentum auch nach dem Tä­terplan noch ungefährdet gewesen war und es noch weiterer Teil­akte bedurft hätte, um den Tatbestand des schweren Raubes zu ver­wirklichen. T hatte bislang nur delik­ti­sche Gedanken gehabt, doch die BGH-Richter scheinen genial einfach formulierte Volkslieder­weis­heiten(!), mit denen schon demokratisch-freiheitlich und liberal gesinnte




Deutsche 1832 zum Hambacher Schloss gezogen sind, verlernt zu ha­ben: "Die Gedanken sind frei!" Böses Wollen allein ist vor irdischen Richtern (an sich) nicht strafbar: „cogitationis poenam nemo patitur“ = „Gedankenstrafe erduldet niemand“. Bei einem äußerlich "undolos" erscheinenden Rum­stehen, wie es auch an­dere Passanten an den Tag legen, fehlt es an einem "unmittelbaren Ansetzen" zur Tat. Der Täter hat noch nicht die Schwelle zum "Jetzt­-geht's-los!" überschritten. Das wäre wohl erst der Fall gewesen, hätte er die Tüte geöffnet, um den gemahlenen Pfeffer zum Blenden des potentiellen Opfers einsatzbereit zu halten. Folgte man der Wertung des BGH, so wird einem solchen Tä­­ter jede Möglichkeit zum - gleich noch zu behandelnden - strafbefreienden Rück­tritt genommen, der anderen Tätern gemäß § 24 grundsätzlich zuge­bil­ligt wird! Es hat nur eine Vorbereitungshandlung vorgelegen, die schon allein in Ermangelung einer anders lautenden Strafnorm straffrei zu blei­ben hat. Dafür sprechen auch kriminalpolitische Überlegungen, und das Problem ist relevant: Kann ein potentieller Ladendieb schon beim Betreten eines Kaufhauses nach Passieren der Eingangstür we­gen versuchten Diebstahls festgenommen werden? Zunächst ist zwar das Problem ungelöst, wie man das nach­weisen könnte. Da müsste erst wieder einer vor Deliktsbegehung plaudern. Das geschieht ab und an, ist aber so selten, dass man wegen der vorgebrachten ge­wichti­gen Gegenargumente auf die numerisch äußerst kleine Zahl der zu­sätz­lichen Delinquenten gut verzichten kann.


Nach der relativen Ratlosigkeit, die auch nach dem Lesen des § 22 bleibt, bestimmt § 23 u.a.:
"§ 23 Strafbarkeit des Versuchs

(1) Der Versuch eines Verbrechens ist stets strafbar, der Versuch eines Vergehens nur dann, wenn das Gesetz es ausdrücklich be­stimmt.

(2) Der Versuch kann milder bestraft werden als die vollendete Tat (§ 49 Abs. 1).

(3) Hat der Täter aus grobem Unverstand verkannt, dass der Versuch nach der Art des Gegenstandes, an dem, oder des Mittels, mit dem die Tat begangen werden sollte, überhaupt nicht zur

Vollendung führen konnte, so kann das Gericht von Strafe absehen oder die Strafe nach seinem Ermessen mildern (49 Abs. 2)."
Um diese Regelung verstehen zu können, muss zunächst auf § 12 zu­rückgegriffen werden, der bestimmt, wann ein Verbrechen und wann ein Vergehen vorliegt. Es gibt im Strafrecht zurzeit nur diese beiden De­liktseinteilungen. (Übertretungen sind nach einer Reform aus dem Kri­mi­nalstrafrecht herausgenommen worden und werden darum nicht vom Strafrichter, sondern von der Verwaltungsbehörde durch von ihr festzusetzende Bußgeldbescheide geahndet.) Das Prinzip der unterscheidenden Ein­tei­lung ist die unterschiedliche Schwere der Straftaten, wie sie vom Gesetzgeber angenommen wurde. Maßstab der Klassifizierungen sind die gesetzlichen Strafdrohungen. In § 12 wird bestimmt:
"§ 12 Verbrechen und Vergehen

(1) Verbrechen sind rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind.

(2) Vergehen sind rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit einer geringeren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bedroht sind.

(3) Schärfungen oder Milderungen, die nach den Vorschriften des Allgemeinen Teils oder für besonders schwere oder minder schwere Fälle vorgesehen sind, bleiben für die Einteilung außer Betracht."


Nachdem Sie sich den auch schon an anderer Stelle behandelten Unterschied zwischen Vergehen und Verbrechen in Ihr Gedächtnis gerufen haben, sollten Sie - nur so zwischendurch als Nagelprobe - den nachfolgend wiedergegebenen Textauszug aus einer an sich so qualifizierten Zeitung wie der WELT kritisch zur Kenntnis nehmen:
„Alle fünf Sekunden geschieht in Deutschland ein Verbrechen

Die neuesten Kriminalitätstrends aus den Ländern

Berlin - … Nach Analyse der von den Bundesländern vorgelegten Kriminalitätsstatistiken wurden im Jahr 2004 rund 6,6 Millionen Straftaten gezählt (2003: 6,57 Millionen). Anders ausgedrückt: Alle fünf Sekunden geschieht in Deutschland ein Verbrechen. ...“

DIE WELT 27.04.05

Zurück zu unserem Problem der Versuchsstrafbarkeit von Vergehen und Verbrechen. Weil eine Körperverletzung gemäß § 223 mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe strafbewehrt ist, das Mindestmaß also Geldstrafe ist, liegt im Fall einer einfachen Körperverletzung ein Vergehen vor. Gemäß § 23 I ist der Versuch eines Vergehens nur dann strafbar, wenn das Gesetz es ausdrücklich anordnet. Das war bei § 223 bis zum 6. StRG von 1998 nicht der Fall. Wer die zum Schlag erhobene Hand wieder sinken ließ, weil ein Passant oder - ganz selten einmal - ein Polizist vorbei­gekommen war, konnte vor der gesetzlichen Neuregelung des eingefügten, nunmehr auch die Versuchsstrafbarkeit selbst einer einfachen Körperverletzung begründenden Körperverletzung gemäß § 223 II, nicht wegen einer nur Versuch ge­bliebenen Körperver­let­zung bestraft werden. Eine solche „Tat“ war tatbestandslos - auch wenn der Polizist, der als staatliches Strafverfolgungsorgan zur Verfolgung einer von ihm beob­achteten Straftat einschreiten muss, ihren Versuch gesehen hatte. Aber der bloße Versuch einer einfachen Körperverletzung war eben noch keine Straftat. Wer es als einzelner Angreifer letztlich dann doch unterließ zuzuschlagen, blieb straflos. Deswegen konnte der Polizist nur die Augenbrauen ermahnend heben, doch weiterhin rechtstreu zu bleiben; wenn das auch manchmal nur durch Glück geschieht. (Wie leicht ist man vielleicht auch selber einmal an der Grenze, die notwendige Kontrolle zu verlieren, sei es aus Fahrlässigkeit, Liebe oder Eifersucht, Mitleid, falsch verstandener Kameradschaft, Angst, Wut und all den anderen Möglichkeiten, aus denen heraus man sich vielleicht einmal anders verhält, als man es normalerweise von

sich erwartet!)

Zur Verdeutlichung der Versuchsstrafbarkeit bei Vergehen sei das letzte Ausgangsbeispiel erweitert: Nunmehr wollen A und B dem O gemeinsam "ans Leder" und heben die Fäuste, verzichten dann aber notgedrungen auf die faustrechtliche Regelung ihres Anliegens, weil unser Freund und Helfer noch einmal zurückgekommen ist. Jetzt musste er auchschon vor der Neuregelung von 1998 einschrei­ten, denn nun war ein Versuch einer gefährlichen Körperverletzung gemäß § 223 a in der Tatmodalität "von mehreren gemeinschaftlich ... begangen" einschlägig, und für das Vergehen des § 223 a ist – wie jetzt erst nachträglich für die ein­fa­che Körperverletzung des § 223 gesetzlich angeordnet - eine Versuchs­strafbarkeit in § 223 a II aus­drücklich geregelt. Die Regelung des Ge­setz­gebers macht Sinn: Der von zwei Personen Angegriffene befindet sich in einer schlechteren Verteidigungsposition, als wenn er es nur mit einem Angreifer zu tun hat, denn wir Kinogänger verfügen nicht über das Verteidigungspotential des promovierten(?) Rechtsanwaltes und ehemaligen Mitglieds der olympischen Schwimm- und Wasserballmannschaft Italiens 1952 und 1956 Dottore Carlo Pedersoli, alias „Bud Spencer“. Ein nicht nur bloß von einem übelwollenden Nachbarn oder Kneipenbesucher sondern gleich deren zwei angegriffener Normalbürger ist einer höheren Gefahr ausgesetzt, die einen größeren Rechtsgüterschutz erfordert. Weil sich die Deliktsqualität von § 223 zu § 223 a - beide sind Verge­hen - nicht ändert(e), musste die Versuchsstrafbarkeit im Falle der gefährlichen Körperverletzung extra angeordnet werden.

Andere Voraussetzungen im Vergleich zu den eben beispielhaft angesprochenen Körperverletzungsdelikten liegen vor, wenn jemand seinen Nächsten - und das ist meist wörtlich zu nehmen, denn Tötungsdelikte sind, wie durch eine statistische Erhebung herausgefunden wurde, zu rund 80 % Nahraumdelikte, in denen das Opfer den Täter kannte - um­zu­bringen versucht (und dabei natürlich vorsätzlich handelt).


"Mörder bekannt

dpa Washington - Fast 80 Prozent aller Opfer haben ihre Mörder gekannt. Das ergab eine US-Untersuchung von 10.000 Mordfällen. Jede dritte Frau wurde von ihrem Ehemann oder Liebhaber umgebracht."


Bei Tötungsversuchen ist grundsätzlich ein Verbrechen gegeben, weil die Strafdrohung des § 211 Mord auf lebenslange Freiheits­stra­fe, die Mindeststrafe des § 212 Totschlag auf Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren und die des § 220 a Völkermord wieder auf le­bens­lange Freiheitsstrafe lautet, alle vier Strafdrohungen also über der Verbrechensgrenze von einem Jahr Mindestfreiheitsstrafe liegen. Darum braucht bei diesen Delikten wegen der generellen Re­gelung des § 23 eine Versuchsstrafbarkeit nicht noch einmal in dem einzelnen Deliktsparagraphen angeordnet zu werden.
Grundsätzlich - so wurde eben herausgearbeitet - fällt die vor­sätz­liche Tötung eines Menschen in die Verbrechenskategorie. Der im juristischen Sprachgebrauch Geschulte musste aufgemerkt haben, als er gerade das bewusst dort hingesetzte Wörtchen "grundsätz­lich" las. Es signalisiert, dass es mindestens eine juristisch relevante Ausnahme von diesem Grundsatz gibt. Ein Blick ins Gesetz ... und wir finden § 216 Tötung auf Verlangen. Der Strafrahmen be­ginnt bei sechs Monaten Freiheitsstrafe. Konsequenz: Dieses Delikt ist nicht als Verbrechen, sondern als Vergehen eingestuft. Folg­lich musste die vom Gesetzgeber gewollte Versuchsstrafbarkeit extra in dessen Abs. 2 angeordnet werden.

Noch ein Blick ins Gesetz ... und wir finden § 213. Es stel­len sich jedoch Zweifel ein: Der Strafrahmen für einen minder schweren Fall des Totschlags ist in der gleichen Höhe angesetzt wie bei § 216, aber es findet sich keine Regelung einer Versuchsstrafbar­keit. Wollte der Gesetzgeber – etwa aus falsch verstandener86 Bibelfestigkeit heraus - einen in Wut vorgenommenen Tötungs­versuch nicht geahndet wissen? Kain, der Erstgeborene von Adam und Eva, hatte seinen jüngeren Bruder Abel erschlagen – es lag somit kein Versuchsdelikt mehr vor, sondern ganz offensichtlich („Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.“) ein Vollendungsdelikt -, weil Abel und dessen Tier-Opfer „von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett“ von Gott gnädig angesehen worden waren, Kain und sein Acker-Opfer „von den Früchten des Feldes“ hingegen nicht. Als Gott den Kain wegen dessen daraufhin in aufgewallenem Grimm verübten Brudermordes verfluchte und Kain befürchtete, „dass mich totschlägt, wer mich findet“, machte der HERR „ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände“ (1. Moses 4/15). Der durch das »Kainsmal« Gezeichnete sollte laut Urteilsspruch des obersten Richters durch dieses Zeichen am Leben erhalten werden: „Wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden“. Wenn Gott dem Vollendungstäter Kain vergeben hatte, sollte dann der irdische Gesetzgeber nicht vielleicht den Versuch dieses Deliktes ungestraft lassen?

Wurde auf eine Strafbarkeit deswe­gen verzichtet, weil es so (selbst-)verständlich ist, dass man aus Wut seinen Nächsten umbringen darf? Ein aus Barmherzigkeit vorge­nom­mener Tötungsversuch hingegen, mit dem vielleicht ein unheilbar Kranker von seinen Leiden erlöst werden sollte, der soll aber strafbar sein? Sollte dieses das Ergebnis der Abwägung des Gesetzgebers sein, so müsste sich uns das Nackenfell zu Recht sträuben!

Ein weiterer Blick ins Gesetz behebt diesen Zweifel nicht. (Ein Blick ins Ge­setz behebt eben nur manchen Zweifel!) Die Lösung besteht darin, dass § 213 als keine eigenständige Deliktsnorm zu verstehen ist, sondern nur im Zu­sammenhang mit § 212 gesehen werden soll, auf den er sich als eine ungewöhnlicherweise in einem eigenständigen Paragraphen gefasste Strafzumessungs­regel bezieht.


Es wäre auch möglich gewesen, dass für die Anordnung einer milderen Strafzumessung im Falle eines minderschweren Tot­schlags eine Regelung nach dem Vorbild z.B. des 1998 vom Gesetzgeber als nicht mehr zeitgemäß empfundenen und daher abgeschafften § 217 a.F. gewählt wor­den wäre, der in seinem zweiten Absatz eine solche Bestimmung traf. Der Gesetzgeber hätte also im Rahmen des § 212 in einem dritten Absatz formulieren können:
"(3) In minder schweren Fällen, die insbesondere vorliegen, wenn der Totschläger von dem Getöteten ohne eigene Schuld ... zum Zorne gereizt und hier­durch auf der Stelle zu der Tat hingerissen wurde, ist die Strafe Freiheits­strafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren."
Er tat es aber nicht - und wir müssen damit leben; das Opfer kann es nicht mehr:
„Frau biss Ehemann tot

Er wollte keinen Sex – da drehte die Hausfrau Kelli Pratt (45) total durch

Was muss in dieser Frau nur vorgegangen sein? Kelli Pratt (45) war mit ihrem Mann Arthur (65) viele Jahre verheiratet. Aber dass sie ihn totbiss, nur weil er sich ihr verweigerte – damit konnte der arme Arthur ja nun wirklich nicht rechnen. Als der genervte Arthur das eindeutige Angebot seiner Frau ablehnte, stürzte sie sich auf ihn, schlug ihm die Zähne in den Hals. Die Beißerei ging immer weiter – am ganzen Körper. Arthur hatte über 20 Bisswunden, konnte im Krankenhaus noch einmal stabilisiert werden. Sechs Tage später war er tot. Die Mediziner und die Polizei sind sich sicher: Arthur Pratt starb an der Beißattacke seiner Frau.“ (Mopo 19.10.02)
Im vorstehenden Fall kann man sicher von einem minderschweren Fall des Totschlags ausgehen. Wenn sie ihm signalisiert: „Ich bin »notgeil« und brauche jetzt sofort deine Hilfe!“ und der Muffel nonverbal antwortet: „Du bist mir viel zu unattraktiv geworden, lass’ mich in Ruhe!“, dann vermag ich darin eine schwere Beleidigung zu sehen, die die Frau zum Zorn gereizt hat.

Wie aber ist es in dem nachfolgenden Fall?


„Streit um Wandfarbe: Mann erstochen

Sie wollte hellgrüne Wände, er weiße – ein Streit zwischen einem Ehepaar um die Wandfarbe endete mit einem Stich ins Herz. Krankenpfleger Karl Heinz U. (53) war sofort tot. Seine Frau Barbara (50), die Täterin, wurde gestern stundenlang von der Mordkommission vernommen und dann in die Untersuchungshaftanstalt gebracht.

Es hatte beim Renovieren begonnen. Karl Heinz U. hatte die Wände der Wohnung am Trifthof (Eißendorf) auf Wunsch seiner Frau in einem hellen Grün gestrichen. Doch dem Mann gefiel die Farbe nicht, er beschloss, alles weiß überzustreichen.

Da rastete die Ehefrau aus. Auch Karl Heinz U. verlor die Nerven. Er rannte in die Küche und holte ein Fleischermesser. ’Hier, dahin musst du stechen, wenn du mich umbringen willst’, schrie er und deutete mit dem Messer auf seine Brust.

Plötzlich riss Barbara U. ihrem Mann das Messer aus der Hand und stach tatsächlich zu. Mit einem Stich traf sie das Herz ihres Mannes.

Die Täterin lief dann zum Telefon und rief ihre Tochter an. Die Tochter alarmierte die Polizei – Festnahme. (kj) (HH A 26.06.03)


Eine Tötung auf Verlangen gemäß § 216 greift nach dem Wortlaut der von ihr wiedergegebenen letzten Äußerung ihres Mannes vor dem tödlichen Stich sicher nicht ein.

Ist hier ein minder schwerer Fall oder der »Normalfall« einer Tötung anzunehmen?

Wenn sich die Eheleute auf ihren Wunsch hin auf eine grüne Wandfarbe geeinigt hatten und das Zimmer auch zunächst so gestrichen wurde, ihm das Grün nicht gefiel, er zu dem üblichen neutralen Weiß zurückkehrte und sie daraufhin mehr ausrastete als er: soll das ein minder schwerer Fall einer Tötung im Sinne des § 213 sein?

Eine ohne eigene Schuld zugefügte Misshandlung der Ehefrau seitens des Erstochenen liegt jedenfalls nicht vor. Eine schwere Beleidigung aber? Ich tue mich schwer damit: „Dein Geschmack ist »Scheiße«, und darum wird alles wieder weiß gestrichen!“ als nonverbale Botschaft anzunehmen, wäre nach meinem Empfinden, der ich nicht zu solchen Reaktionen neige, eine Überinterpretation der Situation. Er hatte ja nur zu verstehen gegeben: Ich war gerne bereit, deinem Wunsch nach einem Wechsel der Tapetenfarbe nachzukommen, aber jetzt dieses viele Grün zu sehen, erschlägt mich. Wenn man, um der Frau zu helfen, einen sonstigen minder schweren Fall annehmen wollte, wie will man ihn von dem »Normalfall« einer Tötung abgrenzen? Nur, weil er das Messer aus der Küche geholt und, wie sich gleich letal herausstellte, seiner Frau einen medizinisch richtigen Hinweis gegeben hatte?

Letztlich entscheidet das Fingerspitzengefühl der Richter in der Verhandlung.

Die Vor­gehensweise des Gesetzgebers - Anbindung des § 213 als extra gefasste Strafzumessungsregel an den § 212 – hat die nach dieser Information nunmehr nachvollziehbare Konsequenz, dass minderschweren Fällen eines Totschlages gemäß § 213 trotz der Min­deststrafe von (nur) sechs Monaten Freiheitsstrafe keine Vergehens­qua­li­tät zuer­kannt wird, son­dern dass diese Straftaten auch unter die durch § 212 geregelte Verbrechenskategorie fallen. Nur aus diesem Grund wurde in § 213 eine selbstverständlich bestehende Versuchs­straf­barkeit nicht extra angeord­net. Und unser irritiertes Rechtsgefühl kann sich wieder beruhigen: Wenn für eine Tötung auf Verlangen ei­ne (bei der für eine von einem schmerzgepeinigten unheilbar Kranken verlangten Tötung für viele eine nicht mehr nachvollziehbare) Versuchsstrafbarkeit besteht, dann erst recht für den Versuch eines wenn auch in einem minder schweren Fall begangenen Totschlags! Zu diesem Ergebnis wären wir auch durch eine Kontrollüberlegung auf der Basis des § 12 III gekommen: " ... Milderungen ... für ... minder schwere Fälle ..., bleiben für die Einteilung außer Betracht."


Das vorstehend dargestellte gesetzestechnische Vorgehen der durch einen hochqualifizierten Beamtenapparat unterstützten Legis­lative fällt nicht ganz aus dem Rahmen. Wir finden es auch in der Norm des § 243 besonders schwerer Fall des Diebstahls wieder. Da wir uns gerade mit den Strafdrohungen der vorsätzlichen Tö­tungs­­delikte der §§ 211, 212, 216 und 220 a87 befasst haben, sei in diesem Zusammenhang noch auf eine für das Ver­ständnis mancher Normzusammenhänge wichtige Abstufung hinge­wie­sen: Manchmal findet sich eine Ausgangsregelung, die auch als Grunddelikt bezeichnet wird. Ein solches Grunddelikt wird dann im Tatbestand und/oder in den Schuldmerkmalen - und als Konsequenz daraus auch in der Strafdrohung - in einer oder mehreren zusätzlichen Strafnormen durch Hinzufügung einer das Grunddelikt strafverschärfend qualifizierenden Norm zweistufig oder in einer auch als Trichotomie bezeichneten Dreistufigkeit durch Hinzufügung von Qualifizierung und Privilegierung abgewandelt. Bei den Tötungsdelikten ist die Grund­norm § 212 Totschlag. Die schwereren, "qualifizierten" Delikte ge­genüber dem einfachen Totschlag sind § 211 Mord und § 220 a Völ­ker­­mord. Um von einem Grund­delikt, in der Beispielsüberlegung dem Totschlag, zu dessen Qualifizierung zu kommen, bedarf es des Hin­zutretens mindestens eines weiteren, das Unrecht der Tat steigernden Tatbestands- oder den Schuldvorwurf steigernden Schuld­merk­males. Dann ergibt sich ein deliktischer Quantensprung. Gegenüber dem Grunddelikt des § 212 Totschlag kommt bei z.B. § 211 Mord mindestens eines der abschließend aufgezählten Mordqualifikationsmerkmale der Tötung: a) aus Mordlust, b) zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, c) aus Habgier, d) oder sonst aus niedrigen Beweggründen, e) heimtückisch, f) grausam, g) mit gemeingefährlichen Mitteln, h) Straftatermöglichungsabsicht oder i) Straftatverdeckungsabsicht hinzu. Diese Qualifizierungsaufzählung hat eine lange Entwicklung hinter sich. Als das StGB geschaffen worden war, bestand der Tatbestandsunterschied zwischen Mord und Totschlag nur darin, ob die vorsätzlich begangene „Tödtung mit Ueberlegung ausgeführt“ worden war – dann Mord mit der Folge der Todesstrafe –, oder die vorsätzliche „Tödtung nicht mit Ueberlegung ausgeführt“ worden war, wofür dann auf eine Zuchthausstrafe nicht unter fünf Jahren zu erkennen gewesen war. Allerdings bräuchte man jetzt einen Kommentar aus damaliger Zeit, um besser zu verstehen, wie man vorsätzlich aber ohne Überlegung so tötet, dass man »nur« wegen „Todtschlages“ bestraft werden konnte. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die im 13. Jahrhundert ins Kirchenrecht aufgenommene Gleichsetzung von Empfängnisverhütung mit Mord bis 1917 Bestandteil des Kirchenrechts der katholischen Kirche gewesen ist.88
Die vorstehende abschließende Aufzählung der Mordqualifikationsmerkmale gibt mir die Gelegenheit, mein intellektuelles strafrechtliches Steckenpferdchen zu reiten, mit dem ich aber den eingebürgerten falschen deutschen Sprachgebrauch – leider(!) - kaum ändern werde. (Und wegen dieses nicht abänderbaren Sprachgebrauchs werden meine Überlegungen – leider - keine weitere Verbreitung finden.) „Wohlan, die Zeit ist kommen, mein Pferd, das muss gesattelt sein, ich hab’s mir vorgenommen, geritten muss es sein“:

Alles in mir als begeistertem Strafrechtler - und demzufolge »Freund des gespaltenen Haares«! - sträubt sich, den kirchlich gegründeten Vorwurf eines eventuell nur Versuch gebliebenen Selbstmordes gegenüber jedem zu erheben, der sich aus diesem für ihn aus welchem Grund oder welchen Gründen auch immer unerträglich gewordenen Leben zurückzieht oder es zumindest zu tun vergeblich versuchte. Nach der Selbsttötung des Judas, der mit seiner Schuld nicht fertig geworden war, dass er den HERRN für 30 Silberlinge verraten und dessen Henkern überantwortet hatte, wurden Menschen, die sich selbst getötet hatten, wegen des ergangenen kirchlichen Verdikts der Selbsttötung fast zwei Jahrtausende lang nicht auf dem „Gottesacker“ beigesetzt. Sie wurden irgendwo in einer separierten Ecke mit einem "Eselsbegräbnis" verscharrt. Soweit das historische Moment.

Für mich macht es aber einen gewaltigen Unterschied, ob jemand (insbesondere im Winter) ins eiskalte Wasser geht, still in eine Schlinge springt, Gift zu sich nimmt, sich eine Kugel durch den Kopf jagt oder sich auf sonst wie sozial verträgliche Weise ins Jenseits befördert, oder ob er unter mindestens billigend in Kauf genommener, wenn nicht gar beabsichtigter Tötung unbeteiligter Anderer nicht nur seinem Leben ein Ende setzt, indem er den Gashahn aufdreht und das Haus in die Luft jagt, sich mit einem Sprengstoffgürtel und einer Splitterbombe um den Bauch in der Nähe von Menschen zu töten sucht, mit einem als Kerosin-Bombe umfunktionierten Flugzeug in ein (Hoch-)Haus rast und was sich kranke Hirne sonst noch ausdenken. Natürlich ist die strafrechtliche Konsequenz für den Täter bei vollendeter Selbsttötung gleich der bei vollendetem Selbstmord: nämlich Null. Man klaubt nicht die Knochen eines Selbstmörders von der Straße, um damit schändliches Spiel zu treiben; jedenfalls nicht in Europa. Wie ist es aber bei nur Versuch gebliebener Selbsttötung im Vergleich zu ebenfalls nur Versuch gebliebenem Selbstmord? Soll der »versuchte Selbstmörder« strafrechtlich genau so behandelt werden wie ein »versuchter Selbsttöter«, der versuchte Suizidant? Soll auch er straflos bleiben?

Das darf nicht sein: Wenn jemand in die Schlinge springt, weil der- oder diejenige kommt, der oder die meist mit der inszenierten Selbsttötung seelisch unter Druck gesetzt werden soll, wenn er oder sie zwar schon am Strick zappelt, aber noch rechtzeitig genug abgeschnitten wird, sodass der »Täter« der letztlich nur versuchten Selbsttötung nach Wiederbelebungsversuchen wieder zu sich kommt, so wird ihm daraus in nicht katholisch geprägten Ländern wie der Bundesrepublik Deutschland kein strafrechtlicher Vorwurf gemacht. In Kalifornien stellte sich 2005 aber ein Selbstmörder mit seinem schweren Auto auf Eisenbahngleise, um sich von einem herannahenden Zug überrollen und zu Tode schleifen zu lassen. Im letzten Augenblick jedoch fand er das Leben doch noch so lebenswert, dass er sich aus seinem Auto fallen ließ, um dem Tod von der Schippe zu springen. Wenn er sich da man nicht in seiner Zukunftsprognose geirrt hat: Der Zug entgleiste, raste dadurch in einen in dem Augenblick auf der Gegenstrecke entgegenkommenden Güterzug und elf Menschen starben. Der das Zugunglück überlebt habende Siuzidant wurde wegen Mordes angeklagt. Und die überwiegende Anzahl der Staaten der USA kennt und praktiziert auf erkannten Mord die Todesstrafe.


Wie wir schon an Hand der zuvor behandelten Strafdrohungen der Tötungsdelikte feststellen konnten, gibt es neben dem Grunddelikt des Totschlags und seinen Qualifizierungen auch Tötungsdelik­te, die vom Gesetzgeber in ihrer Verwerflichkeit gegenüber dem Grunddelikt als weniger gravierend eingestuft werden. Sie gelten als »leich­ter«, weniger verwerflich, teilweise sogar sehr verständlich, sind aber gleichwohl strafwürdig. Das sind die so genannten "privilegierten" Delikte. Diese Tötungs­handlungen sind uns in der seelischen Motivationslage des Täters verständlicher als der »Normalfall« einer Tötung. Darum wird der Täter mit einer geringeren Strafdrohung als für das Grunddelikt einer Tötung privilegiert. Ein solcher (privilegierter) Tä­ter genießt gegen­über einem Täter des Grunddeliktes das Privileg, von der "Keule des Strafrechts" nur mehr oder minder zart tangiert und nicht mit ihr unan­gespitzt in den Boden geschlagen zu werden. Ihn trifft nicht die volle Härte des Gesetzes, die normalerweise beim Vorliegen eines Totschlages angewandt wer­den müsste. Privilegierung gegenüber dem Grunddelikt § 212 Totschlag ist § 216 Tötung auf Verlangen. Bis zu seiner Abschaffung 1969 war eine andere strafrechtliche Privilegierung im Bereich der Tötugsdelikte z.B. § 206 Tötung im Zweikampf, was mit Festungshaft statt mit zunächst Zuchthaus und nach dessen Abschaffung mit Gefängnis bestraft wurde, bis 1998 war es auch noch § 217 Kindestötung (in oder kurz nach der Geburt): Eine Mutter, die aus Angst vor ihrer durch die Geburt ihres nichtehelichen Kindes vielfach noch ausgelösten gesell­schaft­­lichen Ächtung oder aus anderen mit der Geburt zusammenhängenden Gründen dieses Kind "gleich"(?) nach der Geburt tö­tet, handelt verständlicher als eine andere, die einen neuen Freund hat, mit ihm ausgehen möchte, sich darin durch ihr/e Kind/er gehindert fühlt und es/sie darum durch Tun oder Unterlas­sen tötet. Leider keine aus­gedachten Fälle!

Zum 01.04.1998 wurde der eine Mutter in der Ausnahmesituation einer nichtehelichen Geburt privilegierende § 217 abgeschafft, weil er wegen der in § 217 gesetzlich vorgesehenen Privilegierung bei der Tötung ausschließlich eines „nichtehelichen“ Kindes als nicht mehr zeitgemäß angesehen wurde; soziale Ächtung der unverheirateten Kindsmutter – früher öffentlich durch Pranger und Züchtigung, 2008 in Italien privat durch 18 Jahre angedauert habendes Einsperren der ledigen Mutter in einem unzureichend eingerichteten Raum durch deren Mutter, Schwester und Bruder geschehen - und der oft damit verbundene Verlust des Arbeitsplatzes der abhängig Beschäftigten wurde in unserer liberalen Gesellschaft als nicht mehr gegeben angesehen, Armut angesichts von Sozialhilfe nicht mehr als Grund für eine Kindestötung aus sozialer Notlage heraus akzeptiert. Das waren wohl die Gründe, die Immanuel Kant dafür hatten plädieren lassen, dass unverheiratete Kindesmörderinnen straffrei ausgehen sollten.

Mit der Abschaffung des § 217 Kindstötung 1998 war das Problem aber nicht beseitigt: Für erwachsene deutsche Frauen mag der § 217 vielleicht nicht mehr zeitgemäß gewesen sein, aber bei der fortschreitenden Akzeleration des Eintritts der Pubertät auf 12;6 Jahre und darunter ist anzunehmen, dass ungewollte Schwangerschaften in immer jüngeren Jahren zunehmen werden – und damit der „Infantizid“ (lat.: Kindestötung) oder „Neonatizid“ (gr./lat.: Neugeborenentötung): Nach einer Untersuchung von 1988 sind Kinder von Müttern, die bei der Entbindung nicht älter als 15 Jahre sind, fast siebenmal so stark gefährdet, durch Totschlag zu sterben, als Kinder von mindestens 25 Jahre alten Müttern. Unverheiratete Frauen töten 4,3-mal häufiger ihren Nachwuchs als verheiratete; Jungen sind öfter Opfer als Mädchen (HH A 10.02.03). 2006 tötete eine 23-jährige alleinerziehende zweifache Mutter aus Eutin ihr ohne jegliche fremde Hilfe in ihrer Wohnung zur Welt gebrachtes drittes Kind aus Angst um den Verlust ihres Ausbildungsplatzes als Verkäuferin und um Sorge um ihre berufliche Zukunft kurz nach der Geburt. „Viele Nachbarn fragen entsetzt: Wie kann die Sorge um den Arbeitsplatz so groß werden, daß ein Kind sterben muß? … Erschütternd, so die Ermittler, sei die fatale Einsamkeit und Hilflosigkeit der Frau, die ihr den Blick auf Auswege wie Adoption oder Babyklappe verstellt hätten. … Staatsanwalt W.: ’Die Anklage wird voraussichtlich auf Totschlag in einem minder schweren Fall lauten’“ (HH A 10.05.06).

Und eine weitere Problemgruppe bedarf nach meiner Einschätzung der sie privilegierenden Bestrafung bei Kindstötung: Für bei uns lebende und aus dem islamischen Kulturkreis stammende Mädchen, die nicht auf Analsex ausgewichen sind, um ihr Jungfernhäutchen unbeschädigt bis zur Hochzeitsnacht zu bewahren und als insoweit „virgo intacta“ in die Ehe zu gehen, oder die nicht verhütet haben und so ungewollt schwanger wurden und deswegen von den eigenen Familienangehörigen den Tod zu befürchten haben, weil sie die von ihrer Verwandtschaft so interpretierte Familienehre in einer Art und Weise beschmutzt hätten, dass die nur noch mit dem Blut der so be- und „verurteilten“ hurerischen Schänderin reingewaschen werden könne, besteht sehr wohl noch eine Notwendigkeit, die Privilegierung der Tötung eines neugeborenen Kindes „in oder gleich nach der Geburt“ aufrecht zu erhalten!

Die „psychische Ausnahmesituation der Frau im unmittelbaren Zusammenhang mit der Geburt“ kann nach dem Wegfall des § 217 nunmehr laut BGH als ein minder schwerer Fall des Totschlags gesehen werden und ist damit im Rahmen des § 213 mitgeregelt. In einer Gesamtwürdigung der Tatumstände muss in der Hauptverhandlung abgewogen werden, ob ein minder schwerer Fall eines Totschlags tatsächlich vorliegt. Es könnte ja auch rücksichtsloser Eigennutz als Tatmotiv gegeben sein, um z.B. einen Vor- oder Miterben zu beseitigen.

Die jährliche Zahl der Infantizide wird auf 240 geschätzt. Man fragt sich unbedarft, warum diese Frauen ihre Neugeborenen nicht in eine Babyklappe gesteckt oder ihre Kinder nicht zur Adoption freigegeben haben: Der gesellschaftliche und/oder familiäre Druck auf diese unglücklichen Mütter muss selbst heute noch, wo inzwischen mindestens ein Fünftel aller Kinder in Deutschland nichtehelich geboren werden, so groß sein, dass sie lieber ihr Kind töten, um ihre meist nichteheliche Schwangerschaft zu verbergen, als sich zu der Schwangerschaft zu bekennen und das Kind dann nach der Geburt zur Adoption freizugeben. Diese Frauen verdrängen oft ihre Schwangerschaft bis zur Geburt, ziehen keine zu ihnen stehenden Partner oder Freundinnen ins Vertrauen und ignorieren sämtliche von einer Schwangerschaftsberatung über die Möglichkeiten einer anonymen Geburt und die »Hinterlegung« des Neugeborenen in einer Babyklappe bis hin zur Adoptionsvermittlung reichenden sozialen Hilfsangebote von z.B. „Pro familia“ oder Einrichtungen mit ähnlicher oder erweiterter Zielsetzung. Weil sie ihre Schwangerschaft verdrängen, würden sie nach der Meinung von Psychologen die Babyklappenangebote gar nicht intellektuell erreichen.


Und wie viel größer war der Druck vor einigen Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten! Nach einem - aus dem STERN teilweise in dem altertümelnden Deutsch nacherzählten - Bericht über die Hinrichtung einer Kindsmörderin entstand Weltliteratur:
Am 14.01.1772 wurde der Kopf der 24-jährigen Magd Susanna Margaretha Brandt „mit einem Streich glücklich abgesetzt“, denn der Henker verstand sein Handwerk gut und führte das geschickt aus, was der Rat der Stadt Frankfurt am Main beschlossen hatte: „...sie zur wohlverdienten Strafe und anderen zum abscheulichen Exempel mit dem Schwert vom Leben zum Tod zu bringen.“ Einer der Beobachter des Prozesses war der junge Jurist Johann Wolfgang Goethe.

Nach anfänglichem Leugnen, das durch Vorzeigen der wieder ausgegrabenen Kinderleiche gebrochen wurde, hatte die Inquisitin in dem Peinlichen Verhöramt zugegeben, dass sie am 02.08.1771 eine heimliche Geburt gehabt habe. „Bey Vorzeigen des Kindes wurde Inquisitin bald weiß, bald roth und rufthe dabey zu verschiedenen mahlen aus: ‘Herr Jesus, Herr Jesus, ja, das ist mein Kind!‘“ Sie gesteht, „... dass sie mit ihren Händen Gewalt an ihr Kind geleget.“ Sie habe das Kind mit der rechten Hand an der Kehle gefasst, gewürgt, sein Gesicht und die Augen zerkratzt. Als es noch röchelte, nahm sie es an den Armen und schlug es mit dem Kopf gegen das große Faß in der Waschküche. Im Stall schmetterte sie den Kinderkopf noch einmal gegen die Wand.

Der Fall war klar. Trotzdem kritisierten aufgeklärte Juristen, unter ihnen der Bürger Goethe, die bisherige Rechtspraxis, ausschließlich den Fall zu rekonstruieren, ohne nach den Motiven zu forschen. Die werden durch ihren Verteidiger Marcus Schaaf – erstmals in der deutschen Rechtsprechung – in den Prozess eingebracht:

Die Magd war kurz vor Weihnachten in der Gaststätte „Einhorn“ von dem Diener eines holländischen Kaufmanns zum wiederholten Trinken genötigt worden. Er habe ihr etliche Gläser Wein zu trinken gegeben, wodurch sie „... dergestalten in die Hitze gekommen, dass sie seinen Einfällen nicht widerstehen können, sodass er sie auf das Bett gezerret, und daselbsten die Unzucht mit ihr getrieben, und wäre es nicht anders gewesen, als ob er ihr etwas in den Wein getan.“ Dreimal habe er ihr dann beigewohnt.

Der Verteidiger führt aus, die Malefikantin sei eher unglücklich als lasterhaft. Die Schwangerschaft habe sie in eine für sie ausweglose Lage gestürzt: Von der Brotherrin verstoßen [nach anderer Darstellung von der eigenen älteren Schwester angezeigt, um sich nicht wegen Mitwisserschaft selber vor einem Strafgericht verantworten zu müssen], unwissend, wer der Schwängerer war, unvermögend, das Kind selbst zu ernähren, der Schande und damit der Verachtung der Welt preisgegeben. Eine gewisse Mitschuld träfe auch die Freie und Reichsstadt Frankfurt, die einem gefallenen Mädchen kaum eine Wahl lasse. „Ich kann bei dieser Gelegenheit unmöglich unterlaßen, den Wunsch zu äußern, das unsere Stadt ein Findelhaus errichtet. Und möchte die unglückliche Brandtin die letzte seyn, welche um dem Verlust ihrer Ehre zu entgehen, sich der Gefahr eines größeren Verlusts aussetzzet.“ Trotzdem erkennen die Richter auf „vorsätzlichen und boshaften Mord“.

Am 14. Januar um fünf Uhr morgens öffnet sich die Tür zum Kerker. Herein kommen der Oberst­richter, feierlich in Schwarz mit Stiefeln und Sporen und einem roten Mantel, auf dem der weiße Adler der Reichsstadt prangt. In seiner Begleitung zwei lutherische Pfarrer, zwei weltliche Richter, der Scharfrichter – „ein Mann von groser Statur, starcken Gliedmaßen, und bezeigt eine große Munterkeit, sodass man sich von ihm versprechen kann, er werde die Hinrichtung glücklich und wohl verrichten“ – einige Soldaten und der Ratsschreiber. Zum weißen Kleid mit weißem Halstuch, weißer Haube und weißen Handschuhen trägt die Malefikantin eine Zitrone zum Zeichen der Sünde. Noch einmal wird das Urteil verlesen. Dann das übliche Ritual: Der Richter bricht über der Delinquentin einen kleinen roten Stab und wirft ihn ihr vor die Füße. Susanna Margaretha Brandt zittert am ganzen Körper. Die Herrschaften setzen sich zur Henkersmahlzeit. Es gibt Gerstensuppe, Blaukraut, Bratwürste, Rindfleisch, Karpfen, gespickten Kalbsbraten, Konfekt und Wein.89 Die Todeskandidatin bittet um ein Glas Wasser.

Um neun Uhr schlägt der Stöcker dreimal die Messglocke. Eine halbe Stunde später ist es so weit. Susanna Margaretha Brandt wird aus dem Armesünderstübchen geholt. Der Scharfrichter bindet ihr die Arme auf den Rücken und zieht einen Stecken durch. Hinter ihnen der Oberst­richter mit einem Zepter in der Hand, 30 Grenadiere, die Geistlichen. Zwei Kompanien halten die singenden und betenden Zuschauer zur Absicherung des Richtplatzes unter Kontrolle, nachdem zuvor wegen des großen Andrangs Schaulustiger die Stadttore geschlossen worden waren. Um zehn Uhr langt die Prozession auf dem Richtplatz an. Die Herren Pfarrer segnen das Schafott. Susanna Margaretha Brandt wird auf den Stuhl gesetzt und festgebunden.

Der Scharfrichter versteht seine Arbeit. „Mit einem Streich den Kopf glücklich abgesetzt“, nimmt der Ratsschreiber erleichtert zu Protokoll.

Für die Frankfurter Bürger ist die göttliche Ordnung wiederhergestellt. Einige Juristen planen Streitschriften gegen die Todesstrafe für Kindsmörderinnen. Dieses Verhalten war erst in der Peinlichen Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 als strafbares Verbrechen definiert worden, davor war es ziemlich verbreitet, u.a. da nicht strafbewehrt. Bürger Goethe beschließt, den Fall literarisch zu verwerten und setzt Gretchen ein bleibendes literarisches Denkmal in seinem Faust. [Das hindert ihn aber nicht, elf Jahre später als Minister im Herzogtum Weimar mit seiner dritten und entscheidenden Stimme – gegen die vorab geäußerte Absicht seines Landesherrn Herzog Carl Augusts, der die blutjunge Kindsmörderin Catharina Höhn zu lebenslanger Zuchthausstrafe begnadigen wollte – für die (öffentliche) Hinrichtung dieser Unglücklichen (am 28.11.1783 auf dem Marktplatz von Weimar) zu stimmen, wo ihr dann, Goethes Empfehlung folgend, in einem öffentlichen Halsgericht der Kopf abgeschlagen wurde.]

Rund einhundert Jahre später ist im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 die vorsätzliche Kindstötung in und gleich nach der Geburt als privilegiertes Delikt ausgestattet und »nur noch« mit Zuchthaus nicht unter drei Jahren bedroht, bei milderen Umständen mit Gefängnisstrafe nicht unter zwei Jahren, wohingegen Totschlag mit Zuchthaus nicht unter fünf Jahren Zuchthaus strafbewehrt war.


2005 erregte der Fall einer 39-jährigen gelernten Zahnarzthelferin aus Brandenburg großes mediales Interesse, die als Verheiratete außer den zu dem Zeitpunkt lebenden vier Kindern im Alter von 20, 19, 18 und eineinhalb Jahren zwischen 1988 und 2004 innerhalb von 17 Jahren weitere neun Kinder ohne jegliche Hilfe in alkoholisierter Einsamkeit geboren und gleich nach der Geburt umgebracht hat. An die Tötungen könne sie sich nicht erinnern, da habe sie auf Grund ihrer Alkoholexzesse einen »Filmriss«, denn immer, wenn die Wehen eingesetzt haben, habe sie zur Flasche gegriffen und bis zur Besinnungslosigkeit getrunken. Wenn sie aus ihrem Rausch erwacht sei, habe dann immer entweder eine Kinderleiche neben ihr gelegen, oder sie habe das jeweils neugeborene Kind im Blumenkasten eingebuddelt gefunden – ein sehr zielgerichtetes »Betrunkenheitshandeln«, aber Betrunkene können je sehr zielgerichtet eigensinnig sein! Keiner aus dem sozialen Umfeld der Frau habe etwas von den weiteren Schwangerschaften gewusst, weder Verwandte noch Bekannte, auch nicht der nach 21-jähriger konfliktbeladener Ehe und sich über fünf Jahre hinziehendem Scheidungsverfahren erst 2005 von ihr geschiedene Ehemann, der allerdings oft und für längere(?) Zeit abwesend gewesen war, insbesondere zum Zeitpunkt einer jeweils weiteren Geburt. Wie konnte es geschehen, dass die neun weiteren Schwangerschaften ohne nachträglich vorhandene Babys im sozialen Umfeld der Frau – Ehemann, Mutter, zwei ältere Schwestern, Bekannte aus dem Dorf - unentdeckt geblieben sind?

Die sozial isolierte Alkoholsüchtige hat die Kinderleichen in nach diversen Umzügen immer wieder bei sich oder auf dem Grundstück ihrer Mutter auf dem Balkon aufgestellten Blumenkästen, Plastikeimern und einem ausgedienten Aquarium verbuddelt und sich dann jahrelang auf den Balkon gesetzt, um „im Reich ihrer Kinder“ „ihren Kinder nahe zu sein“ – was allein schon für einen psychischen »Hau« spricht; das müssen jetzt die »Seelenklempner« untersuchen.


Gegenüber dem Grunddelikt treten bei Qualifizierung und Privile­gie­rung im gesetzlich geschilderten Tatbestand noch besondere Umstände hinzu, die über den relativ weit zu sehenden »Normalfall« einer Tötung moralisch »negativ« (dann Qualifizierung) oder »positiv« (dann Privilegierung) hinausreichen. Diese Delikte sind im Tat­be­stand spezieller ausgestaltet als das Grunddelikt, um der beson­deren Tätersituation dieses qualifizierten oder privilegierten Deliktes gerecht werden zu können. In ihnen ist der Tat­bestand des Grunddeliktes voll enthalten, es kommt aber noch mindestens ein weiterer Umstand hinzu. Man spricht darum in dem Verhältnis der spezielleren Norm zu dem jeweiligen Grunddelikt von einer "Spezialität".
Es sei extra hervorgehoben: Die besonderen Umstände, die bei einer Qualifizierung über die Verwerflichkeit des »Normalfalles« einer Tötung hinausreichen und bei einer Privilegierung darunter liegen, müssen nicht nur im (Lebens-)Sachverhalt vorliegen, sondern auf jeden Fall auch im Tatbestand vorgesehen sein.

Vom Lebenssachverhalt her könnten für eine Privilegierungsmöglichkeit z.B. die beiden nachfolgenden Fälle in Betracht kommen, bei denen aber die Anwendung des privilegierten Deliktes deshalb scheitert, weil die Täter nicht „durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden“ sind; und ein aufgrund der Gesamtsituation vermutend unterstelltes Verlangen, „im dringlichen Interesse des Berechtigten“ gehandelt zu haben, wie es im Zivilrecht bei z.B. der Geschäftsführung ohne Auftrag unterstellt wird, reicht bei § 216 (bisher) nicht.


"Tochter erdrosselt

dpa Altena - Aus Mitleid hat ein 82jähriger in Altena (Westfalen) seine Tochter (47) mit einem Strick erdrosselt. Sie war körperlich und geistig behindert, er konnte sie nach dem Tod seiner Frau nicht allein versorgen. Der Mann wurde in ein Justizkrankenhaus eingewiesen."


„Prozess

Eine Frage der Gnade

Aus Mitleid erschoss ein 19jähriger seinen sterbenden Vater. Der Vater hatte sich nach mehreren Schicksalsschlägen, u.a. einer nach einem Unfall zugezogenen Querschnittslähmung, mit einer Schrotflinte zu erschießen versucht, sich dabei das halbe Gesicht und Teile des Schädels weggeschossen. »Mein Vater war zwischen Himmel und Erde. Er konnte nicht mehr auf die Erde zurück, war aber auch noch nicht im Himmel. Ich musste als sein Handlanger seine Tat vollenden.« Der Sohn erschoss seinen Vater mit dem neben dem Sterbenden liegenden Gewehr. Ein Pathologe sagte vor Gericht, dass der Schwerverletzte auch sonst innerhalb der nächsten Stunden gestorben wäre. »Das Ausmaß der menschlichen Tragödie ist so groß, dass man die Schuld fast vernachlässigen möchte«, sagte Richter Schmidhuber. Er verurteilte den Abiturienten wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe von einem Jahr auf Bewährung. ... Offensichtlich tat es ihm leid, dass er den Abiturienten überhaupt bestrafen musste.“
Warum hat er dann nicht von der Möglichkeit des § 60 Gebrauch gemacht?
㤠60 Absehen von Strafe

Das Gericht sieht von der Strafe ab, wenn die Folgen der Tat, die den Täter getroffen haben, so schwer sind, dass die Verhängung einer Strafe offensichtlich verfehlt wäre. Dies gilt nicht, wenn der Täter für die Tat eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verwirkt hat.“


Andere Richter nutzten die ihnen vom her Gesetz eröffnete Möglichkeit besser:
„Frau aus Mitleid getötet – straflos

Lübeck – Ein 81 Jahre alter Rentner ist vom Landgericht Lübeck wegen Totschlags in einem minderschweren Fall verurteilt worden, weil er aus Mitleid seine schwer kranke Ehefrau getötet hatte. Die Richter verzichteten auf eine Strafe, da der Mann in einer extremen Überlastungssituation gehandelt habe. (dpa)“ (HH A 05.09.02)
Und der Sohn, der seinen Vater mit dem halb weggeschossenen Kopf findet und ihm den Gnadenschuss gab, weil der weder leben noch sterben konnte? Diese Situation sehe ich als eine gleichwertige „extreme Überlastungssituation“ an. Der Vater des mir unverständlich entschiedenen Tötungsdeliktes war doch kein Opfer seines Sohnes!

Es muss nicht zwingend von jedem Grunddelikt ein privilegiertes und ein qualifiziertes Delikt geben. Meist ist es nur einfach so, dass es von einem Grunddelikt eine unterschiedliche Anzahl von Qualifi­zie­rungen gibt. Im Bereich der vorsätzlichen Körperverletzungsde­lik­te z.B. ist § 223 I das Grunddelikt und vor dem 6. StRG von 1998 war (der insoweit jetzt abgeänderte) § 223 II, falls der Täter nicht einen »Jedermann« oder eine »Jederfrau«, sondern seine Verwandten aufsteigender Linie (Eltern, Großeltern) geschlagen haben sollte, eine der vielen Qualifizierungen, wie auch §§ 223 a, 223 b, 224, 225, 229 und 340.

Eine Privilegierung gegenüber dem § 223 I gibt es nicht. In Schweden ist es den Eltern seit 1979 gesetzlich verboten, ihren unlieben Kleinen einen »körperlichen Verweis« zu erteilen und seit 2000 auch bei uns durch das „Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung“ – woraufhin die Zahl der krankenhausreif geprügelten Jungen und Mädchen rapide zurückgegangen ist. Die Eltern sollen selbst dann kein maßvolles/mäßiges Züchti­gungs­recht mehr haben - Prügelorgien wird damit selbstverständlich nicht das Wort geredet - , wenn vielmaliges Reden nichts half und Ben­gelchen immer wieder gegen strikte Verbote verstößt, die viel­leicht sogar zu seinem Schutz erlassen wurden; z.B. gegenüber klei­nen Kindern: "Nicht auf der Fahrbahn spielen!" Es lässt sich aber für züchtigende Eltern wegen des manchmal erforderlichen Klapses auf den Po eine Privile­gierungsregelung denken, weil nach meinem unmaßgeblichen Dafürhalten eine Erziehung im Konfliktfall manchmal kaum praktikabel ist. Bisher lautet der Entwurf für § 1631 BGB nur: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig“, ohne dass eine Änderung des § 223 StGB mit intendiert wäre. Und es ist schon zu Verurteilungen von Eltern gekommen, die ihrem Kind eine Ohrfeige gegeben haben, weil Reden dem Fehlverhalten nicht abgeholfen hatte:
Eine Mutter, die ihrem kleinen Kind eine gelangt hatte, ist wegen der vom Richter so gewerteten Körperverletzung zu 100 Euro Geldstrafe auf Bewährung verurteilt worden, weil sie ihre ungebärdigte Tochter geohrfeigt hatte.

Die damals zwei Jahre und drei Monate alt Tochter spuckte auf einem Kaffekränzchen mehrerer Mütter mehrmals trotz wiederholter Ermahnungen Saft aus. Da langte die Mutter der Tochter eine. Eine der Frauen zeigte sie an.

Seit 1998 ist im Bürgerlichen Gesetzbuch das Recht von Kindern auf gewaltfreie Erziehung ausdrücklich festgeschrieben. Paragraph 1631, Absatz 2 (im Jahr 2000 geändert) besagt: "Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig."

Die Mutter hätte richtig reagiert, wenn sie ihrer Tochter das Saftglas nach der wiederholten Verwarnung weggenommen hätte, anstatt ihr eine Ohrfeige zu geben.

Der Kinderschutzbund hat die kostenlose Broschüre "Gewaltfreie Erziehung" herausgegeben. Sie kann unter 01803/34 34 34 angefordert werden.

(Nach HH A 12.11.04)



Bis zu 900 Euro Geldstrafe

Juni 2004: In Leipzig wurde Conny (13) von ihren Eltern monatelang verprügelt. Urteil: drei Jahre Haft für die Mutter (30), zweieinhalb für den Vater (34).

Oktober 2003: In Köln wird eine Mutter (22) zu 75 Euro Geldstrafe verurteilt. Sie hatte ihre Tochter (2) geohrfeigt. April 2003: Ein Freiburger Arzt (40) gab seinem Sohn (7) eine Ohrfeige - 900 Euro Strafe.

August 2002: Eine Berlinerin ohrfeigte ihre Tochter (13) zweimal - 250 Euro Strafe.

(HH A 12.11.04)

Ähnlich Regelungen gibt es in einigen anderen mittel- und insbesondere nordeuropäischen Ländern. Da passt es nicht in die politische Landschaft, dass eine christliche Privatschule in England, wohl in Erinnerung an frühere Regelungen der Möglichkeiten zur Verhängung von Prügelstrafe auch durch ältere Schüler – „six of the best“ auch durch den „Fuchs“ titulierten älteren Schüler als »Disziplinarvorgesetzter« einer ihm zugeteilten Gruppe jüngerer Schüler, damit die älteren den verantwortungsvollen Umgang mit Macht kennen lernen und einüben konnten – aus angeblichen Glaubensgründen für das Recht auf Prügelstrafe klagte:


CHRISTLICHE SCHULE WILL PRÜGELSTRAFE

Recht auf den Rohrstock

In Großbritannien ist es seit 1996 untersagt, Kinder in der Schule körperlich zu züchtigen. Eine christliche Privatschule in Liverpool will das Verbot umgehen und klagt sich dazu durch alle Gerichtsinstanzen. Begründung: Die Prügelstrafe gehöre zum Glauben.

Eine christliche Privatschule in Großbritannien hat eine Sondergenehmigung zur Wiedereinführung der Prügelstrafe beantragt. Die Züchtigung von Kindern sei Teil ihrer religiösen Überzeugungen, erklärten Vertreter der Christian Fellowship School in Liverpool am Mittwoch. Der Antrag wurde beim Oberhaus eingereicht, dessen fünf Lordrichter die höchste Rechtsinstanz im Vereinigten Königreich darstellen.

Zwei ranghohe Gerichtsinstanzen hatten die Argumentation der Schule zuvor zurückgewiesen. Die Lehranstalt kämpft seit insgesamt fünf Jahren vor diversen Gerichten für das Recht auf Erziehung mit dem Rohrstock.

Die Liverpooler Schule sieht in dem seit 1996 geltenden Verbot der Prügelstrafe in der Schule eine Einschränkung ihres Rechts auf freie Religionsausübung. Der Anwalt des Rektors machte geltend, dass es nach britischem Gesetz Eltern gestattet sei, ihre Kinder zu züchtigen. Dieses Recht müssten sie auf Lehrer übertragen können, denn schon im Buch der Sprüche stehe geschrieben: "Bestrafe das Kind mit der Gerte und rette seine Seele vor dem Tod."

Die Ansicht der Traditionalisten ist allerdings in Großbritannien auch innerhalb der Kirche umstritten. Zahlreiche Funktionsträger und kirchliche Organisationen erklärten, Kinder zu schlagen sei ein Akt der Gewalt. Kinderorganisationen und moderne Pädagogen sind über die handfesten Pläne erzürnt. Ein Bündnis mit dem Namen "Kinder sind unschlagbar" kämpft seit Jahren für ein absolutes Züchtigungsverbot. Nach britischem Recht ist es Eltern nach wie vor gestattet, ihre Kinder zu züchtigen.

Auch in amerikanischen Schulen ist das gefürchtete "Paddling" weit verbreitet, vor allem in den religiös geprägten Bundesstaaten des "Bible Belt". Dort ist das gefürchtete Instrument rund einen Meter lang und ähnelt einem Paddel. Mit Wucht auf den Hintern geschlagen, hinterlässt es Striemen oder sogar Blutergüsse. Zur Züchtigung müssen sich Schüler nach vorne beugen - eine ebenso schmerzhafte wie erniedrigende Prozedur.

Nur 28 amerikanische Bundesstaaten haben die Prügelstrafe offiziell abgeschafft, in den übrigen 22 ist sie noch erlaubt. Laut US-Bildungsministeriums bekamen im Bundesstaat Mississipi 9,8 Prozent der Schüler den Hintern versohlt. Auf den weiteren Plätzen folgen Arkansas mit 9,1 Prozent, Alabama mit 5,4 Prozent und Tennessee mit 4,2 Prozent.

In Deutschland wurde die Prügelstrafe im Klassenzimmer nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst verboten, dann zum Teil erneut eingeführt und erst viel später wieder abgeschafft - in Bayern zum Beispiel 1970, in Baden-Württemberg sogar erst 1976.
Genaue Gebrauchsanweisung

Hinter der Initiative der Liverpooler Schule stehen 40 weitere Privatschulen, die allesamt das Verbot der Prügelstrafe als Beschneidung der Religionsfreiheit ablehnen. Der Vorstoß werde auch von den Eltern unterstützt, behauptet der Direktor. Die Gerichtskosten in sechsstelliger Höhe hoffen die streitbaren Pädagogen durch Spenden zu decken. Die Privatschule verlangt ein Schulgeld von mehr als 3000 Euro pro Jahr.

Das höchste Appellationsgericht des Landes hatte zuvor erklärt, Lehrer könnten bei Problemen mit Kindern deren Eltern kontaktieren, die dann eine etwaige Bestrafung selbst ausführen könnten.

Für den Fall, dass die Christian Fellowship School mit ihrer Argumentation vor Gericht durchkommt, liegen bereits konkrete Gebrauchsanweisungen für das Instrument der Prügelstrafe vor. Kleine Kinder könne man "auf die Hände oder die Beine" schlagen. Größere Schüler gehörten auf den Hintern geschlagen, "mit einem Gegen­stand, der einem Lineal ähnelt, aber etwa 10 Zentimeter breit ist".


SPIEGEL ONLINE 06.12.04

Zum Abschluss dieses Abschnitts sei noch kurz auf die "Kann-Be­stim­mung" des § 23 II eingegangen:


"Der Versuch kann milder bestraft werden als die vorsätzliche Tat (49 Abs. 1)."
Es heißt nicht "muss", sondern ausdrücklich "kann". Es gibt keine obligatorische, den Richter verpflichtende Anordnung der Strafmil­derung für eine Versuchsstraftat, sondern nur eine dem Richter frei­gestellte, "fakultative". Ist das gerecht? Denken Sie bitte an den Fall des Mädchens zurück, das vermutlich von ihrem „Ersatzvater“ mit einem Baseballschläger unter Verletzung ihres Stammhirnes ins Koma geprügelt worden ist und der dann die Vormundschaft übertragen bekommen wollte, damit das Mädchen entgegen einem früheren Gerichtsbeschluss nicht sterben darf, damit er nicht wegen vollendeten Mordes angeklagt werden kann. Soll die Höhe der Strafe für den Täter davon abhängig sein, ob der wegen der unreparierbaren Verletzung seines Stammhirnes »Schon-nicht-mehr-Mensch« stirbt oder durch Maschinen am Leben erhalten wird?
Um zu überprüfen, ob eine gesetzliche Regelung sinnvoll getroffen worden ist, oder nicht vielleicht geändert werden müsste, bilden Strafjuristen gerne extreme Beispiele und fragen dann: Hat der Ge­setzgeber dieses sich aufdrängende Ergebnis seiner Gesetzesanwen­dung so gewollt?

Unter Anwendung dieser Methodik seien die beiden folgenden Fall­kon­stellationen durchdacht:

T erschießt O, ohne dass bei ihm Mordqualifikationsmerkmale oder Privilegierungsgründe vorliegen. Ergebnis: Vollendeter Totschlag gemäß § 212.

A versucht unter den gleichen Voraussetzungen, B zu erschießen, trifft nicht richtig, lässt den schwerverletzten B im Vertrauen auf dessen Verbluten liegen und geht weg; B wird durch das Einschrei­ten zufällig vorbeikommender Passanten gerettet.

Warum sollte A, der den B sich zu Tode quälen lassen wollte, wegen der - in diesem Fall sogar ohne sein "Ver­dienst" - nur Versuch gebliebenen Tötung milder be­straft werden als T, der den O durch einen sauberen Schuss ohne Todesqualen ins Jenseits befördert hat? Mit der nur fakultativen Strafmilderung kann­ man sehr gut leben.
"Betrunkene wollte ihren Mann anzünden

Nach einem heftigen Ehestreit in einer Wohnung in der Rappstraße (Rotherbaum) wollte eine 45jährige Frau ihren schlafenden Mann verbrennen. Sie hatte aber kein Benzin, griff stattdessen zu fünf Litern Motoröl. Doch das Schmiermittel ließ sich nicht entzünden. Dann rief die Frau bei der Polizei an. Die Beamten sorgten für eine Einweisung der Betrunkenen in eine Nervenklinik."

Dieser als Anschauung für die "Kann-Bestimmung" des § 23 II ausgewählte Fall gehört aber inhaltlich auch sowohl zu dem Gliederungspunkt der schon abgehandelten verminderten Schuldfähigkeit wie auch zu dem nachfolgenden des untauglichen Versuchs.



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