Rechtskunde einführung in das strafrecht der bundesrepublik deutschland anhand von tötungsdelikten



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2.4 Entschuldigungsgründe (E)

2.4.1 Darstellung

In seltenen Ausnahmefällen kann eine Rechtsschuld selbst dann entfallen, wenn der Unrechtstatbestand einer Strafnorm erfüllt ist, keine Rechtfertigungsgründe vorliegen, und im Schuldtatbestand das Vorliegen eines rechtsgutsverletzenden geistigen Willensverhaltens bejaht werden muss. Trotzdem wird dann in solchen seltenen Fällen die Strafwürdigkeit des Täterverhaltens wegen fehlender Mindestverwerflichkeit verneint, die Voraussetzung jeder Verurteilung ist. Entschuldigungsgründe sind der archimedische Punkt, mit dem eine durch Bejahung des Vorliegens der objektiven Momente einer Straftat und ihrer vorsätzlichen oder fahrlässigen Begehung an sich gegebene Rechtsschuld letztlich doch noch wieder ausgehebelt werden kann.


„Straffrei rasen

dpa Celle – Wer auf dem Weg zur todkranken Mutter zu schnell fährt, kann straffrei davonkommen. So eine 37 Jahre alte Frau aus dem Kreis Uelzen, die mit 140 km/h auf der Bundesstraße 191 geblitzt worden ist, als ihre Mutter im Sterben lag. Das Celler Amtsgericht stellte das Verfahren ohne Geldbuße ein.“


Als wichtigste gesetzliche Bestimmung wird die Regelung des § 35 entschuldigender Notstand exemplarisch darge­stellt. Zur Verdeutlichung der Strukturunterschiede zwischen Recht­fertigung und Entschuldigung sollen zunächst die §§ 34 und 35 gegenübergestellt werden:
Eine Handlung ist gemäß § 34 gerechtfertigt, wenn in einer Not­standslage eine Gefahr für irgendein beliebiges Rechtsgut des Han­delnden oder eines anderen nicht anders als durch einen Eingriff in ein geringerwertiges Rechtsgut eines Unbeteiligten gebannt wer­den kann. Wenn z.B. bei einem Überfall auf ein Spielkasino die Räuber einen der Kasinogäste unter vorgehaltener Pistole oder Gei­selnahme zwingen, ihnen beim Einsammeln des Baren und der Preti­osen der Gäste zu helfen, so ist das Handeln des Genötigten ge­recht­fertigt, denn das Rechtsgut seines Lebens oder des der Geisel ist höherwertig als von ihm unter Zwang einzusammelndes Sacheigentum unbeteiligter Dritter.
§ 35 hingegen enthält nicht mehr eine solche Güterabwägung, wie sie in § 34 enthalten ist. Unter § 35 fallen solche Sachverhal­te, in denen sich die bedrohten Rechtsgüter gleichrangig gegen­über­stehen, dem Täter aber weder eine Selbstaufopferung noch die "Opfe­rung" einer ihm nahestehenden Person zugemutet wird. Außer­dem darf in der subjektiv als ausweglos erlebten Notstandslage Gefahr nur für Leben, Leib oder Freiheit des Handelnden, eines An­gehörigen oder einer ihm nahestehenden Person bestanden haben. Es genügt nicht mehr die Gefahr für irgendein Rechtsgut irgendeines Menschen. Sowohl die schutzwerten Rechtsgüter wie auch der Perso­nen­kreis derjenigen, denen in entschuldigender Weise geholfen wer­den darf, ist in § 35 gegenüber der vorangehenden Norm des in § 34 geregelten recht­fertigenden Notstandes eingeschränkt.

2.4.2 Anwendungsfälle und Besprechung

Damit wir nicht immer im Geiste die Badehose anziehen müssen, um Notstandsfälle erörtern zu können, soll kein Rückgriff auf Karnea­des vorgenommen werden. Außerdem ist man geneigt, ein solches Bei­spiel für zu extrem zu halten. So etwas passiert doch nicht - höch­stens beim Untergang der Titanic! Doch, es passiert fast jedes Jahr bei Stierkämpfen in Mittel- und Südamerika, Fußballveranstal­tungen, Großhotelbränden oder in ähnlichen Situationen, die sich zu einer Panik ausweiten.


Fall 59

Rocker-»Fans« des FC Liverpool greifen anlässlich eines Europa­cup-Endspiels in Brüssel Fans von Juventus Turin an und jagen sie über die Ränge. Die Italiener drängen in Richtung Spiel­feld, um sich vor den Hooligans in Sicherheit zu bringen. Ein von hinten drän­gender weil selbst bedrängter italienischer Fan I stößt auf seiner Flucht den ebenfalls flie­henden Fan F zu Boden, um an ihm vorbei nach vor­ne zu kommen und so den nachdrängenden Hooligans zu entfliehen. Der Um­gestoßene wird von anderen Nach­drän­genden tot getrampelt.


Lösungsskizze

(I) I stößt Fan F um, der daraufhin tot getrampelt wird.

(1) Zu prüfen ist Totschlag gemäß § 212.

(a) UTB: I hat F zwar umgestoßen, aber selber nicht tot getram­pelt. Der UTB des § 212 ist von ihm nicht erfüllt worden. Eine Straftat gemäß § 212 liegt nicht vor.

(2) Zu prüfen ist deshalb fahrlässige Tötung gemäß § 222.

(a) UTB: Der UTB des § 222 setzt voraus, dass der Tod eines Men­­schen vom Täter objektiv zurechenbar in irgendeiner Weise (Einheitstäterschaft!) verur­sacht worden ist. Das ist im vorliegenden Fall zu beja­hen, da F tot getrampelt worden ist, nachdem er von I umgesto­ßen worden war. Der UTB ist erfüllt.

(b) RF: (-), insbesondere keine Notwehr des I, weil I nicht von F angegriffen worden war; und auch kein rechtfertigender Notstand, weil das Rechtsgut Leben des I nicht das Rechtsgut Leben des F überwog. Beider Leben war gleichrangig. Das Handeln des I ist nicht gerechtfertigt.

(c) STB: Von der Schuldfähigkeit des I ist auch in dieser Si­tuati­on auszugehen.

I muss fahrlässig eine Ursache für den Tod des F gesetzt haben.

Hinsichtlich der nachfolgenden Tötung kann nicht angenommen wer­den, dass I mit aktuellem Tat- und Unrechtsbewusstsein gehan­delt hat­te. Damit scheidet Vorsätzlichkeit aus. Aber er hätte sich den­ken können, dass ein Mensch, der in einer panikartig ha­stenden Men­ge umgestoßen wird, rettungslos verloren ist. Aktuelles Tatbewusst­sein war für ihn zumindest erlangbar gewe­sen, aktuelles Unrechts­bewusstsein dann ebenfalls. Damit ist Fahrlässigkeit zu bejahen. Die unrechte Tat wurde fahrlässig begangen.

(d) E: Der selbst angegriffene I befand sich in einer gegenwärtigen Not­standslage. Er konnte die für ihn bestehende Körper- und Lebensge­fahr nicht anders abwenden, als dass er so kräftig wie möglich nach vorne drängte, ohne auf andere Fliehende Rück­sicht zu nehmen, und dabei F umstieß. I handelte in entschuldi­gen­dem Notstand. Darum ist eine Rechtsschuld ausgeschlossen.
Fall 60

Bei Folterknechten nicht nur in mittel- und südamerikanischen Dik­taturen, sondern - laut Berichten von amnesty international - auch bei der Polizei des Nato- und Folterstaates Türkei war es be­sonders politischen Häftlingen gegen­über beliebt, die Kinder in­haftierter Eltern ebenfalls grund­los einzukerkern und dann die El­tern zu zwingen, ihre eigenen Kinder eigenhändig zu fol­tern. Folterknecht T zwingt Mutter M durch tagelange Folterun­gen, ihr Kind K zu foltern.

Strafbarkeit der M?
Niemand werfe den ersten Stein, wenn Eltern dem Folterdruck letztlich nicht standzuhalten vermögen! Die juristische Lösung der durch M objektiv zurechenbar begangenen Körperverletzungen gemäß §§ 223 ff kann nur über § 35 entschuldigender Notstand erfolgen.

Wem dieser Fall zu wirklichkeitsnah ist, der mag die unter dem Gliederungspunkt „III 2. Teleologische Systematik an Hand von Fällen einfacher vollendeter Begehungsdelikte“ abgedruckte Ballade von Annette von Droste-Hülshoff „Die Vergeltung“ auf ihren strafrechtlichen Gehalt hin klausurmäßig untersuchen.





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