Rechtskunde einführung in das strafrecht der bundesrepublik deutschland anhand von tötungsdelikten



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2.3 Schuldtatbestand (STB)




2.3.1 Darstellung

Im Unrechtstatbestand (UTB) ging es auf der Stufe der objektiven Zurechnung um das gesteuerte Willensverhalten des Täters, seine Handlung und den daraus re­sul­tierenden Erfolg: Lag eine körperli­che Hand­lung als gewolltes Tun vor, die zu einem dem Täter objek­tiv zure­chenbaren Unrecht geführt hatte?

Im Schuldtatbestand geht es nunmehr um das geistige Verhalten des Täters, um die subjektive Zurechnung der Rechtsgutsverletzung, denn gemäß § 29 wird jeder Beteiligte ohne Rücksicht auf die Schuld möglicher anderer Tatbeteiligter "nach seiner Schuld bestraft". Darum muss untersucht und geklärt werden: In wieweit hatte der Täter zum Zeitpunkt der Tat in der konkreten Situation die Möglichkeit der geistigen Teilhabe an den Wertvorstellungen des Gemeinschaftsle­bens?
Frau enthauptete Baby mit Brotmesser

Im August 2003 hatte eine 32-jährige Frau aus Nürnberg ihrem zehn Monate alten Jungen mit einem Brotmesser den Kopf abgeschnitten. Die anderen beiden Kinder der verwirrten Täterin im Alter von drei und fünf Jahren hatten die grausame Tat mit ansehen müssen. Die Angeklagte leidet an einer paranoid halluzinatorischen Schizophrenie und wird seitdem psychiatrisch betreut. Die Staatsanwaltschaft geht bei der Frau auf Grund einer schweren psychischen Beeinträchtigung von ihrer Schuldunfähigkeit aus und beantragte daher ihre Unterbringung in einer Psychia­trie.


Denn § 20 StGB regelt ganz eindeutig:
„§ 20. Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen. Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.“
Eine pure Selbstverständlichkeit – sollte man meinen. Leider ist dem aber nicht so. Der us-ameri­ka­nische Strafunrechtsstaat, wie er uns leider viel zu häufig und nicht nur in Guantanamo entgegentritt, scheint zumindest in einem Bundesstaat diese pure Selbstverständlichkeit nicht zu teilen:
Intelligent genug für die Hinrichtung?

Niedriger IQ schützte Mörder bisher

Washington - Es war sein Fall, der den Obersten Gerichtshof der USA dazu gebracht hatte, die Hinrichtung von geistig Zurückgebliebenen zu verbieten. Drei Jahre später ist der Intel­li­genz­quotient (IQ) von Daryl Atkins im Gefängnis aus unerklärlichen Gründen gestiegen. Für ihn leider eine fatale Entwicklung: Denn im Sommer wird ein US-Gericht darüber urteilen müssen, ob der 27jährige nun hingerichtet werden soll - weil er in der Haft klüger geworden ist.

1996 war Daryl Atkins im Bundesstaat Virginia wegen Mordes zum Tode verurteilt worden. Seine geistigen Fähigkeiten wurden 1998 getestet: Sein IQ lag damals bei 59 und damit unter dem Wert, ab dem die Intelligenz als ’normal’ eingestuft wird. Die Justiz rief den Obersten Gerichtshof an. Der entschied im Jahr 2001, daß die Hinrichtung von geistig Zurückgebliebenen gegen den US-Verfassungszusatz verstößt, der jede ’grausame oder ungewöhnliche’ Bestrafung verbietet.

Die Angelegenheit nahm eine unerwartete Wende, als Atkins' Intelligenz im vergangenen Jahr erneut getestet wurde: Diesmal lag sein IQ bei 74, inzwischen soll er laut der Staatsanwaltschaft sogar auf 76 gestiegen sein. Der Oberste Gerichtshof hatte bei seiner Entscheidung jedoch nicht vorhergesehen, daß sich der Intelligenzquotient eines Angeklagten ändern könnte. ’Sie sind davon ausgegangen, daß die geistige Behinderung ein dauerhafter Zustand ist’, sagt Richard Dieter vom Informationszentrum zur Todesstrafe. ’Sie hatten deshalb keinerlei Ursache, in ihrem Urteil zu schreiben, daß eine zur Tatzeit geistig zurückgebliebene Person nicht hingerichtet werden darf.’

Daher ist Atkins jetzt nicht mehr durch die Entscheidung des Obersten Gerichts geschützt. Ab dem 25. Juli soll ein Gericht in Yorktown/Virginia klären, ob er trotz seines gestiegenen IQs weiterhin als geistig zurückgeblieben gelten kann. Das Gericht wird seinen IQ bewerten müssen, aber auch andere Faktoren wie seine soziale Anpassungsfähigkeit.

So werden sich im Juli Experten vor Gericht drängeln, um zu klären: Wie kommt es, daß Atkins im Gefängnis seinen IQ steigern konnte? Psychologe Evan Nelson erklärt sich Atkins' rätselhaften IQ-Wachstum durch seinen juristischen Kampf: Der häufige Kontakt mit Anwälten habe ihn intellektuell angeregt. So habe er Akten gelesen und Schriftverkehr gehabt, versucht, juristische Erklärungen zu verstehen und mit den Juristen diskutiert. Letztlich könnte es also gerade der Versuch sein, sein Leben zu retten, der Atkins nun dem Tode näher bringt. afp“

(HH A 17.02.05)


Ich verstehe nicht, wieso der Oberste Gerichtshof hätte vorhersehen sollen und müssen, dass sich der IQ verbessern könnte, denn darauf darf es gar nicht ankommen: Rechtstaatlich betrachtet kann es immer nur auf den Geisteszustand zum Zeitpunkt der Tat ankommen! Ein späterer Intelligenzzuwachs kann die auf die geistigen Fähigkeiten zum Zeitpunkt der Tat abstellende rechtliche Beurteilung nicht verändern! Es sei, die Problemlage erläuternd, auf den Fall des CSU-Abgeordneten "Old-Schwurhand" hingewiesen, dem in seinem Meineidsberufungsverfahren nach Verurteilung in der ersten Instanz auf Grund eines stark nach Gefälligkeitsgutachten riechenden Attestes nachträglich(!) partielle Unzu­rechnungsfähig zum Zeitpunkt der Tat gewährt worden war und der dann gut 20 Jahre später zum Bundesinnenmi­ni­ster ernannt worden war.

Beruhte die unrechte Tat auf dem Nichternstnehmen der in dieser Gemeinschaft gültigen und mehrheitlich befolgten Ge- und Verbote? Beachtete er die von den jeweiligen Rechtsgütern ausge­henden Achtungsansprüche in der konkreten Situation bewusst nicht, unbewusst nicht, oder konnte er sie zum Zeitpunkt der Tat unvermeidbar(!) überhaupt nicht erkennen, weil er die Gesamtumstände falsch einschätzte oder die sich daraus ergebende rechtliche Wertung? Mit anderen Worten: Verstieß er vorsätzlich oder fahrlässig gegen seine Rechts­pflichten, oder handelte er schuld­los; dabei kann sich ein Beschuldigter in einem für ihn unvermeidbaren Tatsachen- oder Verbotsirrtum befunden haben.

„Ehefrau war erst elf Jahre alt

Köln – Ein 22 Jahre alter Grieche hat in Düsseldorf monatelang mit seiner erst elf Jahre alten Ehefrau gelebt. Der Mann hatte das Mädchen in einem griechischen Ort geheiratet, in dem ein Gesetz von 1914 Muslimen die Ehe mit Mädchen im Alter von zehn Jahren erlaubt. Jetzt ordneten die deutschen Behörden die Trennung des Paares an. Gegen den Mann wird wegen Kindesmißbrauchs ermittelt. (ap)“ (HH A 11.01.05)

Wir können die Schuldfrage bezüglich des Handelns des Griechen nicht abschließend beantworten, dafür fehlen uns die dazu erforderlichen weiteren Informationen. Aber wir können spekulieren, wann das Gericht zu einem Schuldspruch wegen eines Verstoßes gegen § 176 Sexueller Mißbrauch von Kindern kommen wird: Mit einem Schuldspruch wäre z.B. zu rechnen, wenn das Ehepaar griechisch-orthodox aufgewachsen ist und ganz schnell einen Monat vor der Hochzeit – vielleicht auch nur pro forma – (angeblich) zum Islam konvertiert war, in Deutschland aber keine Moschee besucht, sondern weiterhin in den Gottesdienst der orthodoxen Kirche gegangen ist; wenn sie dazu überhaupt Zeit gefunden haben. Dann würde die Heirat in dem griechischen Dorf nach einer bewussten Gesetzesumgehung aussehen, wie sie in der Geschichte von Nasreddin Hodscha erzählt wird: Bei dem sei unerwartet der Polizeichef von Akschehr erschienen. Hauche mich an“, brüllte der Gewaltige. Hodscha tat es. „Wein!“, triumphierte der Wali: „Du hast gegen Allahs Gesetz verstoßen. Komm mit!“ „Was habe ich getan?“ „Wein getrunken, Lump!“ „keineswegs, großmächtiger Wali!“ „Und wo kommt der Dunst in Deinem unverschämten Rachen, he?“ „Ich habe Wein gegessen, Wali. Verboten ist nur, ihn zu trinken.“ Der Polizeichef zwirbelte seinen Bart. Hodscha holte Brot, entnahm ihm etwas Substanz, formte einen kleinen Becher, goß ihn voll Wein und aß das Ganze. Die Tür hinter sich zuschlagend, verschwand der Wali.“81

Würden beide Griechen – ungewöhnlicherweise - im islamischen Glauben aufgewachsen sein, aber nicht in dem bewussten Ort leben, sondern zur Vornahme der Heiratszeremonie dorthin extra angereist sein, ließe das auch auf ein durchaus vorhandenes, wohl schon nicht mehr nur latentes Unrechtsbewusstsein schließen.

Als entlastend könnte der Umstand gewertet werden, wenn die Hochzeitsfeier möglicherweise unter Anteilnahme der (islamischen?) Dorfgemeinschaft stattgefunden hätte.

Ein paar Tage später gab es in der taz die Meldung:
Streit über Kinder-Ehe erreicht Athen

ATHEN dpa/taz In Düsseldorf wird gegen einen 22-jährigen Griechen wegen Kindesmissbrauchs ermittelt, der monatelang unbehelligt mit seiner 11-jährigen Ehefrau zusammenlebte. Bekannt wurde der Fall erst, als sich der Mann bei den Behörden anmelden wollte. Daraufhin verfügte ein Familienrichter die sofortige Trennung, und das Mädchen kehrte inzwischen nach Griechenland zu ihren Eltern zurück. In Athen forderte Ahmet Ilhan, ein Abgeordneter der muslimischen Minderheit, das auf islamischer Tradition basierende Gesetz, das Ehen mit Kinder erlaubt, müsse dringend geändert werden. Die geistliche Führung der rund 130.000 Mitglieder zählenden muslimischen Minderheit Thraziens besteht dagegen auf der Rechtmäßigkeit der im August 2004 geschlossenen Ehe. Die Hochzeit sei zwar eine Ausnahme, aber mit dem islamischen Gesetz konform, wonach Ehen bereits nach der Geburt der Kinder abgesprochen würden. 1923 hatte Griechenland im Vertrag von Lausanne den Muslimen Minderheitsrechte zuerkannt, darunter auch das traditionelle Familienrecht.

taz 25.1.2005

Keine Strafe ohne persönlich vorwerfbare Schuld! Das gebietet das durch die Rechtsprechung des BVerfGs mit Verfassungsrang ausgestattete und darum den einzelnen einfachgesetzlichen Regelungen vorgehende Schuldprinzip.
Wenn der Sachverhalt keinen Anlass dafür bietet anzunehmen, dass der Täter eventuell im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit oder gar der Schuldunfähigkeit gehandelt hat, dann ist nur lapi­dar festzustellen: "Von der Schuldfähigkeit des Täters ist aus­zu­gehen." Das gilt grundsätzlich auch beim Vorliegen einer z.B. durch starken Alkoholgenus bedingten erheblich verminderten Schuld­fähigkeit i.S.d. § 21 - die der Täter aber nicht mit dem Ziel herbeigeführt haben darf, sich in den Zustand der Schuldunfä­higkeit zu saufen, um dann im Zustand der Trunkenheit ab ca. 2 0/00 um so leichter Straftaten verüben zu können.
„Auf Verrat steht der Tod

[Über einen mit Hilfe des Programms „Exit“ ausgestiegenen Neonazi; der Autor]

... Sylvester wollte er ‘ein Zeichen setzen‘. Einen Molotowcocktail in eine Döner-Bude werfen. ... Mike hatte sich auch schon überlegt, dies mit besoffenem Kopf zu tun. Weil, sollte er erwischt werden, Alkohol strafmindern wirke. Unter den Kameraden fand sich keiner, der Schmiere stehen wollte. ‘Sonst wäre das Ding gelaufen.‘“ (STERN 31.05.2001)
Auch eine ver­min­derte Schuldfähigkeit ist noch immer eine (allerdings einge­schränkte) Schuldfähigkeit. Sie kann - muss aber nicht - vom Rich­ter beim Urteilsausspruch strafmildernd berücksichtigt werden. (Strafzumessung ist aber nicht die Aufgabe eines Fallbearbeiters.)

Liegt auf Seiten des Täters eine Schuldunfähigkeit vor, so bricht die Prüfung der Strafbarkeit an dieser Stelle hier im Schuldtatbe­stand ab und es ist dann als Ergebnis festzuhalten: "Der Täter handelte schuldlos, eine Straftat ist nicht gegeben."


"Mordlust durch Schlaftablette

Klage in den USA: Wie gefährlich ist ‘Halcion'?

SAD/HA London - Sie kann zu Mordlust führen: Die Schlaftablette ‘Halcion' ist jetzt in England verboten worden. ...

In den USA wurde erstmals ein Mord im Tablettenrausch begangen. Eine Hausfrau erschoss ihre 83jährige Mutter. Die Täterin Ilo Grundberg hat den Hersteller des Medikamentes ‘Halcion', ..., auf umgerechnet 24 Millionen Mark Schadenersatz verklagt. Die Staatsanwaltschaft musste auf eine Mordanklage gegen sie verzichten, nachdem Gutachter bestätigt hatten: Durch die Einnahme der Pillen hatte sie unfreiwillig eine Persönlichkeitsänderung durchgemacht. ..."


"Im Wahn getötet: Ein salomonisches Urteil

Das Urteil der Großen Strafkammer 1 war salomonisch. Denn der Maurer Harald A. (61), der vor 21 Jahren zusammen mit seinem Sohn im Zustand paranoiden Wahns auf Teneriffa seine Frau und die beiden Töchter erschlagen hatte, braucht sein Leben nicht hinter den Mauern eines psychiatrischen Krankenhauses zu verbringen.

Nach dem Urteil wurde für den wegen Totschlags in drei Fällen Beschuldigten zwar die Unterbringung angeordnet, zugleich aber zur Bewährung ausgesetzt: Der nach eigenem und ärztlichem Urteil voll krankheitseinsichtige Harald A. bleibt noch für längstens sechs Monate in Ochsenzoll. Danach wird er für fünf Jahre unter Führungsaufsicht gestellt, muss sich weiter fachärztlich behandeln lassen und jeden Wohnungswechsel dem Gericht melden. Das Gericht stellte fest, dass Harald A. infolge seiner weiterhin bestehenden Schizophrenie immer noch für die Allgemeinheit gefährlich sei.

Zu der wahnsinnigen Tat des Kranken gehörte, dass er den Frauen in der Vorstellung, sie seien vom Bösen besessen, die Herzen herausschnitt. Der Beschuldigte habe nicht bestraft werden können, weil er, der Krankheit wegen, nicht schuldhaft gehandelt habe."

Auch wenn es um die Frage der Schuldfähigkeit geht, gilt der strafjuristische Fundamentalgrundsatz: "In dubio pro reo!"
"Polizist frei

dpa Braunschweig - Er stahl Augencreme und Pickelstift für 19,64 Mark. Vor Gericht wurde der frühere Vizechef der Braunschweiger Polizei gestern freigesprochen. Grund: Es blieb unklar, ob der 47jährige zur Tatzeit durch Tabletten, Streß oder Unterzuckerung schuldunfähig war."


Wird bei einer Fallprüfung die Schuldfähigkeit bejaht, so ist zu untersuchen, ob die subjektive Zurechnung der unrechten Tat zur Schuld durch Vorsätz­lichkeit oder Fahrlässigkeit vorgenommen werden kann. Dabei ist vom Erfordernis des zu prüfenden Tatbestandes und der in § 15 ge­troffenen Regelung auszugehen:
"§ 15 Vorsätzliches und fahrlässiges Handeln

Strafbar ist nur vorsätzliches Handeln, wenn nicht das Gesetz fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht."


Wenn jemand z.B. nach einem Kneipenaufenthalt beim Hinausgehen acht­los einen Mantel vom Garderobenhaken nimmt in der Annahme, es sei der eigene, dann aber zu Hause feststellt, dass er sich geirrt hatte und dass es sich bei dem neuen um einen wesentlich besseren Mantel handele, den er nun behält, so kann er trotzdem nicht gemäß § 242 we­gen Diebstahls bestraft werden, da ein Diebstahl nur vorsätzlich, nicht aber fahrlässig begehbar ist. Die Strafjuristen sagen: Es gibt keinen "dolus subsequens", keinen (der Tat) nachfolgenden Vorsatz; das soll heißen: nach­träg­lich kann man nicht eine Tat als vorsätzlich begangen einstu­fen, die in der aktuellen Situation zu Beginn der jeweiligen Tat­hand­lung höchstens fahrlässig begangen worden war, oder bei deren Ablauf gar kein irgendwie gearteter, auf eine Delikts­verwirklichung gerichteter Tatvorsatz bestanden hatte. Der Gaststät­ten­besucher hatte beim Verlassen der Kneipe keinen mit Enteignungswillen vorgenommenen Ge­wahrsamsbruch begehen wollen und darum auch gar nicht begangen, wie es aber die Verwirklichung des Diebstahlstatbestandes u.a. erfordert. Der Unrechtstatbestand des § 242 war somit nicht erfüllt. Dass ein Diebstahl nicht fahrlässig begehbar ist, sagt uns schon unser Rechtsgefühl, welches die Strafjuristen auch mit dem Wort "Judiz" bezeichnen.

Um sicher Recht zu tun, braucht man sehr wenig vom Recht zu wissen. Allein um sicher Unrecht zu tun, muss man die Rechte studiert haben“ (Georg Christoph Lichtenberg). Oder Erich Kästner mit dem für ihn typischen Verständnis für die menschliche Seele: „Das Gewissen ist eine Uhr, die immer richtig geht. Nur wir gehen manchmal falsch“. Das Gewissen, unser „innerer Gerichtshof“, wie Kant es bezeichnet hat, schläft nicht wie ein Stein!


„Wohl dem, der frei von Schuld und Fehle

bewahrt die kindlich reine Seele!

Ihm dürfen wir nicht rächend nahn,

er wandelt frei des Lebens Bahn.

Doch, wehe, wehe, wer verstohlen

Des Mordes schwere Tat vollbracht!

Wir heften uns an seine Sohlen,

das furchtbare Geschlecht der Nacht.


Und glaubt er, fliehend zu entspringen

Geflügelt sind wir da, die Schlingen

Ihm werfend um den flücht’gen Fuß,

dass er zu Boden fallen muss.

So jagen wir ihn ohn’ Ermatten,

versöhnen kann uns keine Reu’,

ihn fort und fort bis zu den Schatten

und geben ihn auch dort nicht frei.“


(Friedrich von Schiller: Die Kraniche des Ibykus)

Aus dieser Einsicht heraus hat jemand für das Stadium der Vorbereitung oder schon des Versuchs definiert: „Das Gewissen ist eine innere Stimme, die einem in gewissen Situationen sagt, dass man sich nicht erwischen lassen darf“, und ein anderer für das Stadium der Vollendung: „Das Gewissen ist eine innere Stimme, die einem in gewissen Situationen sagt, man hätte nicht tun sollen, was man eben getan hat.“ Und Gewissenspein kann, wenn man im Morden nicht geübt ist, eine zu große Last werden:


Ein 37-jährige Krankenpfleger hat seinen zwei Monate alten Sohn getötet - und doch ist er nicht mit den Mördern zu vergleichen, über die hier sonst geurteilt wird.

Der Sohn war einer von 400 Betroffenen in Deutschland, die unter dem Apert-Syndrom leiden. Mit Mißbildungen an Kopf und Gliedmaßen kam er zur Welt. Sein Vater gestern vor Gericht: "Er hätte 20 Operationen vor sich gehabt; diese Qualen wollte ich ihm ersparen." Nur zwei Monate nach der Geburt legte er eine Wolldecke über die Babytragetasche, in der der Sohn schlief. Das Kleinkind erstickte wie bezweckt, doch der herbeigerufene Notarzt diagnostizierte "plötzlichen Kindstod".

Der Krankenpfleger beichtet zunächst seiner Frau die Tötung des Kindes, und im November 2003 ging er schließlich zur Polizei und zeigte sich selbst an. Die Staatsanwaltschaft klagte ihn daraufhin wegen heimtückischen Mordes an und es kam 2004 zum Prozess.

Der Vater wurde wegen eines Totschlags in einem minder schweren Fall zu sechs Jahren Haft verurteilt. Der BGH hob das Urteil wegen einer von ihm so beurteilten Strafmaßüberschreitung auf und verwies den Fall an das Landgericht Nürnberg-Fürth zurück.

Das Gewissen ist nach Ansicht des Spötters Robert Lembke üblicherweise etwas, „das uns bei der Entfaltung unserer Persönlichkeit gewöhnlich im Wege steht.“ Unser Rechtsgefühl sagt uns darum in dem Kneipengarderobefall, dass das nicht das letzte Wort in dieser Angelegenheit gewesen sein kann, denn mindestens eine "moralische Ferkelei" bleibt irgendwie bestehen. Und meistens ist sie dann auch strafbar. So durfte der Täter letztlich nicht handeln - „Wenn das Gewissen ein Rotlicht ist, dann bemühen sich die meisten, noch schnell bei Gelb über die Kreuzung zu kommen“ (Senta Berger) - damit darf er nicht durchkommen! Einen dring­lichen Wertanruf hat er später bewusst missachtet. Wir hätten alle gerne unseren Mantel zurück, wenn der uns so abhanden gekommen wäre! Und hätte der irrtümlich mit dem fremden Mantel gegangene Zecher einen abgerisseneren Mantel vom Haken genommen, so wäre ihm das bestimmt sauer aufgestoßen. Dann wäre er bestimmt bei nächster Gelegenheit in die Kneipe gegangen, um sei­nen besseren Mantel möglichst zurück zu erhalten. Und er würde sich ärgern, wenn er ihn nicht zurück erhielte. Spätestens dann würde ihm sein - wenn es um seinen eigenen Nachteil geht - sehr sensibel reagierendes Gerechtigkeitsgefühl sagen, dass die Nichtrückgabe seines Mantels Unrecht ist. So muss er es aber auch zu sehen vermögen, wenn er von seinem Fehlgriff profitiert und darum den besseren Mantel eines Fremden behalten hat.

Zur Beruhigung unseres erregten Rechts­gefühls sei darauf hingewie­sen, dass sich der Täter, wenn er gefasst wird, wegen einer gemäß § 246 zu ahndenden Unterschlagung zu verantworten haben wird, weil er den Mantel nach der Feststellung seines Irrtums behalten hatte. Aber ein Diebstahl war es nicht gewesen. Der war an der für eine Bestra­fung nach dem Diebstahlsparagraphen erforderlichen, aber zum Zeit­punkt der Tat laut Sachverhalt nicht vorhanden gewesenen, nur vorsätz­lich begehbaren Enteignungs- und mit ihr gleichzeitig einhergehenden eben­falls erforderlichen aber auch feh­lenden Aneignungsabsicht in Eigentümerstellung ge­schei­­tert. Diese Absichten kamen erst zum Tragen, als der Zecher den Man­tel in irrtümlicher Eigentumsannahme schon an sich genommen hat­te.

Anders ist die Rechtslage, wenn man nachfolgenden Witz auf seinen strafrechtlichen Gehalt hin untersucht:
"Warum kommst du eigentlich in letzter Zeit nicht mehr ins Café Imperial?" "Zuwenig Auswahl!"

"An Kuchen?" "Nee, an Mänteln."


Ähnliche Beispiele ließen sich - vielleicht nicht ganz so anschau­lich - auch für andere Straftatbestände bilden, weil nur in Aus­nah­mefällen fahrlässiges Handeln mit Strafe bedroht ist. Im Be­reich der Körperverletzungs- und Totschlagsdelikte, mit denen wir uns hier schwerpunktmäßig befassen, sind für die Bestrafung fahr­lässiger Folgen einer Handlung die §§ 222 fahrlässige Tötung, 230 fahrlässige Körperverletzung und 226 (vorsätzliche) Körperverlet­zung mit (unbeabsichtigter und darum fahrlässiger) Todesfolge von besonderem Interesse. Besonders das letztere Delikt mit seiner we­sentlich höheren Mindeststrafdrohung ("Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren") als für eine fahrlässige Tötung ("oder Geldstrafe") fordert den strafrechtlich Interessierten geradezu heraus zu er­gründen, worin denn der Unterschied zwischen einer vorsätzlichen und einer fahrlässigen Deliktsbegehung besteht. Und keine Angst: Auch in dieser Abgrenzungsfrage gibt es Streitfälle zuhauf, auf deren Klärung schon viel geistige Mühe verwandt worden ist, ohne dass letztlich ein zwingendes Ergebnis als nunmehr gültige Meßlatte für künftige Fälle dabei herausgekommen wäre, die von allen hätte akzeptiert werden müssen.

Juristerei ist eben keine so exakte Wissenschaft wie die Natur­wissen­schaften.


Vorsätzlichkeit liegt vor, wenn zu Beginn der Handlung aktuelles(!) wenigstens unsicheres (nur in unerheblichen Nebenaspekten möglicherweise unrichtiges) Tat- und aktuelles(!) wenigstens unsicheres Un­rechtsbewusstsein vorliegen, wobei es bei dem unsicheren Unrechtsbewusstsein keinen unerheblichen Irrtum geben kann: wer zweifelt, ob sein Handeln rechtmäßig ist, und trotzdem handelt, hat potentielles Unrechtsbewusstsein, das in einem solchen Fall bei gravierenden Pflichtverletzungen von jemandem, der mit den kulturellen Werten seiner Gemeinschaft geistig verbunden ist, immer unterstellt werden kann. (Ein Vater von den Kapverdischen Inseln versuchte sich während meiner Tätigkeit bei der Staatsanwaltschaft über den Schriftsatz seines Verteidigers in einer eilig zusammengezimmerten Verteidigungsschrift gegen den von seiner Tochter erhobenen Inzestvorwurf während seines Lebens in Deutschland mit dem Argument zu verteidigen, er hätte in einem für ihn unvermeidbaren Verbotsirrtum gehandelt, weil es dort, wo er herkomme, üblich sei, dass die Väter ihre Töchter »beschliefen«. Die StA richtete deshalb eine diesbezügliche Anfrage an das Heimatkonsulat des Beschuldigten und fegte mit dessen Auskunft das dümmliche Vorbringen vom Tisch.)

Vorsätzlichkeit ist also immer gegeben, wenn es sich um eine bewusste Missachtung eines Rechtsgutsanspruchs handelt.



Fahrlässigkeit liegt vor, wenn zu Beginn der Handlung wenigstens unsicheres Tat- und wenigstens unsicheres Un­rechtsbewusstsein zwar nicht vorhanden waren, aber erlangbar(!) gewesen wären.

Ohne Erlangbarkeit ist ein so genannter „Verbotsirrtum“ gegeben, der auf einer verfehlten rechtlichen Gesamtbewertung beruhen kann und dann als „direkter Verbotsirtum“ bezeichnet wird, oder der Täter irrt – wie z.B. im Falle einer Putativnotwehr – in nicht vorwerfbarer Weise über die tatsächlichen Umstände, die ihn zu seinem Handeln veranlassen: dann liegt ein „indirekter Verbotsirrtum“ vor. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die anlässlich der Erörterungen zur Notwehr geschilderten Fälle, dass in den USA Eltern irrtümlich ihrer Kinder erschossen haben, weil sie sie für Einbrecher hielten. Der Verbotsirrtum muss aber stets „unvermeidbar“ gewesen sein. Ohne diese Grundvoraussetzung kann er nicht in den Täter von einem Schuldvorwurf entlastender Weise angenommen werden!


Gegenstand des Tatbewusstseins ist die Tatsituation und das in Gang gesetzte künftige Tatgesche­hen. Es genügt für das aktuelle Tatbewusstsein zu Beginn der Hand­lung - nicht danach: im Mantel-Beispiel konnte nachträgliche kein Diebstahl begangen werden -, dass der Täter das Geschehen für kon­kret möglich hält. (Das wird ein Täter - insbesondere bei Fahrlässigkeitsdelikten - immer wieder abzustreiten versuchen. Darin liegen dann später in der Verhandlung möglicherweise die Beweis­probleme. Doch Tatbewusstsein haben und Tatbewusstsein leugnen ist zwei­erlei!)
Sex bei 100 km/h endete kurz vor Orgasmus in Leitplanke

Ein 23-jähriger Kölner wurde am Donnerstag wegen eines nicht alltäglichen Verkehrsvergehens zu einer Geldstrafe von 400 € und drei Monaten Fahrverbot verurteilt. Am 5. Juni 2003 war der Verurteilte anderen Verkehrsteilnehmern aufgefallen.

Bei 100 km/h fuhr er in Schlangenlinien über die A1. Ein Zeuge erkannte, dass der Mann während der Fahrt Sex mit einer Blondine hatte und dabei halb liegend den Wagen lenkte. Die Sache ging nicht lange gut und der Wagen schoss in eine Leitplanke.

Die lustvolle Fahrt endete in einer Böschung, von wo aus das Pärchen flüchtete. Der Mann konnte aber natürlich als Halter des Wagens von den Behörden ermittelt werden. Er gab über seine Sexpartnerin an, es sei eine Anhalterin gewesen.

Stern-shortnews 28.06.03

Das Tatbewusstsein umfasst (nur) die für den Unrechtstat­be­stand bedeutsamen Momente des Tatgeschehens. Die Richtigkeit des Tatbewusstseins ist gegeben, wenn sich ein (vorsätzlich handelnder) Täter die Tatsituation, den Tatverlauf und einen etwaigen Taterfolg insoweit richtig vor­stellt, als sie das spezifisch Rechtsgutsverletzende des im Gesetz tatbestandlich geschilderten Tatgeschehens ausmachen. Ist das nicht der Fall, so liegt ein Tatirrtum vor, der je nach Sachver­halt erheblich oder unerheblich sein kann. Sitzt z.B. ein Diplomat bei unsicherem Büchsenlicht auf dem Anstand und schießt er auf einen vermeintlichen Keiler, erlegt dabei aber den hinter einem Busch rumorenden Forstgehilfen F, so ist der Irrtum erheblich, denn einen Menschen hatte der Herr Botschafter nicht zur Strecke bringen wollen; das gibt ja nur diplomatische Verwicklungen. Der Un­rechtstatbestand der Tötung ist zwar gegeben, ein vorsätzliches Tö­­tungsdelikt scheidet aber gleichwohl aus, weil bezüglich der ge­gen F erfolgten Tötungshandlung kein aktuelles Tatbewusstsein vor­lag. Ein fahrlässiges Tötungsdelikt ist zunächst fraglich, kann aber manchmal bejaht werden. Zu diesem Ergeb­nis kommt man jedenfalls dann, wenn man Reinhard Meys Lied über die Diplomatenjagd auf den strafrechtlichen Gehalt des besungenen Sachverhaltes hin untersucht; und wie Fall 50 zeig­te, ist diese Fallkonstellation gar nicht so abwegig. Man kann sie praktisch alle ein bis zwei Jahre in Zeitungen wiederfinden!

Lauert aber jemand seinem Nebenbuhler N in der Dämmerung an einer Stelle, an der der immer vorbeizukommen pflegt, auf, um ihn dort zu töten, und erschießt er die erscheinende Person, von der sich - für ihn verblüffend - nachträglich herausstellt, dass nicht sein Ne­­benbuhler, sondern ein zufällig vorbeigekommener, an dem Liebeshändel völlig unbeteiligter Passant P das Opfer des Anschlags geworden ist (Fallgestalt Rose-Rosahl), so ist der Irrtum des Täters in der Person des Opfers unerheblich, denn der Täter hatte mit seinem Schuss einen Menschen töten wollen und diesen Tötungsentschluss auch umgesetzt. Er hatte sich bewusst über den von dem Rechtsgut Menschenleben ausgehenden Achtungsanspruch hinweggesetzt, dabei mit aktuellem Tat- und aktu­el­lem Unrechtsbewusstsein und somit vorsätzlich gehandelt.

Es genügt, wenn das Tatbewusstsein unsicher ist: Wer auf große Ent­fer­nung auf einen Menschen schießt und wegen der Entfernung und des eigenen Tatterichs einen Tötungserfolg für zumindest zweifel­haft hält, aber dann doch tödlich trifft, hat ein vorsätzliches Tötungsdelikt begangen. Er handelte zwar mit "dolus eventualis" (un­sicherem Tatbewusstsein), aber der reicht zur Bejahung eines ak­tuellen Tatbewusstseins und damit der Vorsätzlichkeit aus, da ein Unrechtsbewusstsein problemlos angenommen werden kann: Ohne Verteidigungsnotwendigkeit einen (anderen) Menschen zu töten ist in unserer Rechtsordnung sowohl jedem einzelnen wie auch „dem Staat“ verboten. (Khomeini und seine Nachfolger sahen das anders, als er eine ursprüngliche Belohnung von 1 Mill. $ - zwischenzeitlich auf 2,5 Mill. $ erhöht, dann aber von der neuen Regierung nicht mehr weiterverfolgt, dafür von einer anderen iranischen Institution weiterhin propagiert -, auf die Ermordung des Schriftstellers Salman Rushdie auslobte.)


Erforderlich für die Bejahung einer vorsätzlichen Straftat ist ne­ben einem zumindest unsicheren aktuellen Tatbewusstsein ein aktu­el­les seelisches Erleben des Täters bezüglich des Unrechts seiner Handlung, ein aktuelles Unrechtsbewusstsein: Wer - vgl. Fall 54 - (angeblich) schlafwandelnd 23 km mit dem Auto fährt, um seine Schwiegermutter zu töten, hat wegen seines - durch Mediziner zu erläuternden(!) - Schlafzustandes kein seelisches Erleben bezüglich des von ihm im Schlafzustand und daher nicht vorwerfbar be­gange­nen Unrechts seines ungesteuerten Verhaltens, denn eine Handlung als gewolltes Tun lag nach Wertung der Gutachter und daraufhin der Richter nicht vor. (Hätte man sich einen solchen Fall zur Erläuterung des zuvor Dargestellten ausgedacht, wäre man wohl als unseriös angesehen worden!)

Gesteht in einem Zweifelsfall ein Täter aber zu, zu­mindest ein unsicheres Unrechtsbewusstsein hinsichtlich seiner Handlung gehabt zu haben - dann hat er nicht auf seinen Anwalt ge­hört, denn dann rettet ihn nichts mehr:


"Frage des Unrechtsbewusstseins im Mittelpunkt

Mauerschütze: Nur Pflicht erfüllt

Am zweiten Prozesstag räumt Angeklagter ‘Gewissensbisse' ein

krp.


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