Ein Rückblick in die Anfangszeit - und: Wie mich die Vergangenheit beim Kennenlernen von katholischer und evangelischer Bratwurst wieder einholte
Sabine Weber
Mit Beginn des Schuljahres 1983/84 nahm die „Staatliche Schule für Sehbehinderte - Zentrum für Beratung und Frühbetreuung Sehgeschädigter" (SfS) In Schleswig Ihre Arbeit mit sieben Sonderschullehrerinnen und Sonderschullehrern auf, Schulleiter war damals Dr. Peter Appelhans. Alle Kolleginnen und Kollegen waren zuvor In anderen Bundesländern tätig.
Mit viel Engagement und Euphorie starteten wir die Arbeit an der „Schule ohne Schüler", für alle war der Aufbau einer solchen Einrichtung neu und eine große Herausforderung.
Es galt, sich u. a. mit Folgendem auseinander zu setzen:
- mit dem Schleswig-Holsteinischen Schulwesen
- der Ersterfassung von Sehbehinderten
- den Themen Dienstort, Dienstfahrt, dienstlich anerkannter Privat-PKW, Fahrtenbuch
- der Anschaffung von sehbehindertenspeziflschen Hilfsmitteln,
- Vorstellung der Schule im Schulamt, Im Gesundheitsamt, bei Augenärzten, Augenoptikern usw.
Ein Rückblick in die Anfangszeit meiner Beratungstätigkeit an der SfS:
Ohne Navi und Handy war es mir damals fast unmöglich, beim Erstbesuch Jens und seine Familie zu finden: In dem Dorf war keine Menschenseele zu entdecken, endlich doch: Ich musste noch weiter außerhalb des Dorfes fahren und dann Irgendwann rechts...
Jens Marx,*4/1974
Juvenile Opticusatrophie, Visus 0,05 bds.
Vater ebenfalls Opticusatrophie (Fleischermeister);
Mutter und Bruder nicht sehbehindert. Landwirtschaftlicher Betrieb (Schweinezucht, Schlachterei, Geflügel, Ländereien).
Ich habe Jens In seinem 3. Schuljahr kennengelernt, einziges Hilfsmittel war damals eine wenig genutzte Lupenbrille. Das Lesen hatte er noch nicht gelernt (lautieren).
Eine Sehhilfenberatung In Schleswig ergab folgende Hilfsmittel für Ihn: Leuchtlupe mit vierfacher Vergrößerung, Monokular 6x20, Vergrößerungen, verstärkte Lineatur. Etwas später kam noch je ein Bildschirmlesegerät für die Schule und für zu Hause dazu, mit dessen Hilfe Jens zügig lesen lernte.
In seiner Klasse war Jens gut akzeptiert, die Lehrer waren sehr kooperativ und regelten vieles unter sich. Sie und auch Jens mit seiner Familie zeigten sich der regelmäßigen Unterstützung durch die SfS sehr aufgeschlossen gegenüber.
Jens hat an vielen Kursen In Schleswig teilgenommen, u. a. zum Thema Berufsfindung. Die SfS vermittelte Ihm ein Praktikum In einer Hotelküche. Entschieden hat er sich dann doch für den Beruf des Fleischers. Nach einem erfolgreichen Berufspraktikum In der 9. Klasse bei einem Fleischer bot dieser ihm eine Lehrstelle an. Er hatte sich überzeugt, dass Jens nicht über Kisten stolpern würde...
Um seine Ausbildungsstelle und Berufsschule erreichen zu können, benötigte er den Mofa-Führerschein. Dies wurde Ihm ermöglicht durch eine augenärztliche Bescheinigung, die Ihn als Mofa-Führerscheintauglich auswies!
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Jens Marx mit Meisterbrief
Etwa 30 Jahre später (2017):
Beim Aufschlagen unserer Regionalzeitung wurde ich magisch von einem Foto angezogen: 'Mein Jens von damals' würde bei einem Kirchen-Benefizkonzert „katholische" und „evangelische" Würstchen anbieten!!?!
In dem dazugehörigen Artikel erklärt Jens, dass die Rezepte, die in den jeweiligen Innungen der Fleischer festgeschrieben wurden, auf die Reformationszeit zurückgingen. Die freie Reichsstadt Nürnberg wurde evangelisch, Bamberg blieb katholisch. „Die evangelischen Würste sind gröber und kräftiger gewürzt, die katholischen feiner und ein Stück größer."
Wenn das alles kein Grund ist, wieder Kontakt zu Jens aufzunehmen!? Die Adresse hatte sich nicht geändert - ansonsten aber sehr viel: Ein großer Hofladen und ein erweitertes Wohnhaus fielen mir sofort auf! Empfangen wurde ich von Jens, seiner Frau, seiner Tochter (14) und seinem Sohn (8), alle drei nicht sehbehindert.
Hier nun Jens' sehr beachtenswerter Werdegang als Fleischer: Von 1990 - 1993 hat er erfolgreich seine Lehre absolviert und anschließend als Geselle in unterschiedlichen Orten (u. a. Büchen, Nürnberg, Mölln) und Betrieben (u. a. in einem Supermarkt) gearbeitet, bevor er in den elterlichen Betrieb zurückkehrte.
1996 besuchte Jens knapp drei Monate in Frankfurt die Meisterschule. Als er seine Meisterprüfung bestanden hatte, bekam er nicht nur den Meisterbrief, sondern als einziger auch anerkennenden Applaus!
Seitdem arbeitet Jens durchgängig im Familienbetrieb, der sich seit den 80er Jahren kontinuierlich vergrößert hat. 2015 war die letzte große Erweiterung: Neubau des Hofladens, der überwiegend in Eigenarbeit entstanden ist. Großer Wert wird nach wie vor auf beste Qualität gelegt, die u. a. auch dadurch gewährleistet werden kann, dass eine eigene Tieraufzucht und -haltung betrieben wird (Rinder, Schweine, Schafe). Die Tiere werden zum Schlachthof gebracht, anschließend aber von Jens zerlegt. Das Fleisch wird von ihm zugeschnitten und auch für die Wurstherstellung zerkleinert. Besondere Hilfsmittel benötigt er nicht, jeder Mitarbeiter hat ohnehin einen sogenannten Stechhandschuh („Kettenhandschuh") zu benutzen. Sehr wichtig istfür Jens möglichst stressfreies Arbeiten, dabei legt er großen Wert auf Sorgfalt; er hat an sich und seine Angestellten einen hohen Anspruch.
Die Wichtigkeit der inneren Ruhe und der eigenen Arbeitsroutinen habe er von seinem Vater gelernt.
Mittlerweile ist aus dem kleinen Familienbetrieb ein Betrieb mit ca. 12 Mitarbeitern geworden. Insbesondere der Bereich ,Partyservice' und das ,Internetgeschäft' sind sehr expandiert. Jens arbeitet schwerpunktmäßig in der Produktion, sein Vater im Einkauf und Büro, in dem auch seine Frau mitarbeitet.
Jens ist zu Recht zufrieden mit dem, was er bisher beruflich geleistet hat. An eine weitere Expansion denkt er nicht, eher an etwas mehr Zeit für die Familie!
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