Rechtskunde einführung in das strafrecht der bundesrepublik deutschland anhand von tötungsdelikten



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2. Sinn des Strafens

Strafe durch die öffentliche Gewalt des Staates symbolisiert u.a., dass die Gesellschaft für das Opfer Partei ergreift. Die Strafe fügt dem Bestraften etwas zu, was er meist nicht will; sie wendet ihm gegenüber Zwang an, gleichgültig, mit welcher Intention sie verhängt wird. Ihr Zweck kann Vergeltung, Abschreckung, Prävention oder auch Besserung sein. Darum drängen sich beim Strafen, insbesondere weil die Gesamtheit der Strafmöglichkeiten und die Dauer der ein­zelnen Strafen immer weiter zurückgenommen wurden, u.a. die Fragen auf:


Warum strafen wir? Was soll wie bestraft werden?
Sehr eindrucksvoll ist dieses Problem von Stefan Zweig in seiner Legende: "Die Augen des ewigen Bruders" dargestellt worden.38 Die Legende ist schnell erzählt:
Virata, ein furchtloser Jäger, Krieger und Fürst in Indien, schlägt mit seinen Mannen einen gegen seinen König gerichteten Aufstand trotz großer feindlicher Übermacht nieder. Dabei tö­tet er nachts in einem Überraschungsangriff eigenhändig den schlafenden Gegenkönig und einige von dessen Heerführern in des Gegenkönigs Zelt, u.a. - wie sich erst am nächsten Tag beim Abgehen der Strecke herausstellt - seinen eigenen älteren Bruder, der zum Gegenkönig übergelaufen war. Als der König zum Dank für die Rettung seines Thrones Virata zum neuen Oberkommandierenden ernennen will, verweigert der die Annahme dieses Geschenkes, weil ihn der gebrochene Blick seines von ihm selbst erschlagenen Bruders nicht mehr loslässt. Obwohl es zuvor noch nie geschehen war, "dass ein Frei­er des Königs sich gewehrt und ein Fürst ein Geschenk nicht nahm von seinem König", respektiert der König - nach anfänglichem Unwillen - die Entscheidung Viratas. Um aber trotzdem nicht auf die Dienste dieses außergewöhnlichen Mannes verzichten zu müssen, ernennt ihn der König zum obersten Rich­ter seines Landes. (Hier kann die Darbietung der Erzählung einsetzen, nachdem - wie vorstehend geschehen - zuvor einlei­tend die Vorgeschichte kurz zusammengefasst worden ist.)

"Von der Höhe der rosenfarbenen Treppe, im Schatten des Pala­stes, sprach nun Virata im Namen des Königs Recht von Sonnen­aufgang bis Sonnenuntergang. ..." (Ein weiteres Zitieren würde irgendwann Lizenzgebühren kosten, nicht aber die nachfolgende Zusam­men­fas­sung.)

Eines Tages wird ein Gefesselter von seinen Häschern vor Vira­ta gezerrt. Jener hatte aus Rache, weil er von dem Vater eines von ihm begehrten Mädchens als zukünftiger Schwiegersohn ver­schmäht worden war, den Vater, dessen Söhne und zahlreiche von deren Knechten getötet, bevor er überwältigt werden konnte. Vi­ra­ta lässt ihm das Leben, "denn von den Göttern ist das Leben, und nicht darf der Mensch an Göttliches rühren." (Problem: Todesstrafe!) Aber er verurteilt ihn für jeden Getö­teten zu einem Jahr unterirdischer Kerkerhaft in einem Berg­werk, insgesamt zu elf Jahren, und zu elfmaliger Geißelung pro Jahr. Am Ende der dramatisch verlaufenden Gerichtsverhandlung behauptet Virata, die Strafe gerecht gemessen zu haben. Der Ge­fesselte aber, der bis dahin von seinem Aussageverwei­ge­rungsrecht gemäß § 243 IV 139 StPO Gebrauch gemacht hatte, schreit bei dieser Selbstberuhigung des Richters ("Die Höhe der Strafe ist tat- und schuldangemessen.") auf: "Gerecht ge­messen? Wo aber ist dein Maß, du Richter, nach dem du missest? ... Du bist der Schuldigste aller, denn du mißt mir ein Maß, das deine Hand nicht gewogen und dessen Wucht sie nie ge­prüft."

Das hatte Virata so noch nie bedacht. Dieser Gedanke raubt ihm den Schlaf. "Des Fremden Blick stak in seiner Seele wie ein brennender Pfeil. Und die Seinen hörten ihn die ganze Nacht, Stunde um Stunde, schlaflos auf dem Dach seines Hauses schrei­ten, bis der Morgen rot zwischen den Palmen aufbrach."

Hier kann zunächst abgebrochen und die Diskussion freigeben werden.

Es wird an die­ser Stelle nicht verraten, wie Virata auf diese ihn ruhelos umtreibende Frage auf ungewöhnlichem Wege eine Antwort sucht. Er findet sie, aber "... sein Haupt wird grau über den hämmernden Schläfen."

Nach der vorgeschlagenen (Zwischen-)Diskussion wird die Erzählung an der Stelle der Un­ter­brechung wieder aufgenommen, wenn den Zuhörern die Pro­blemlösung des Dichters vorgelesen wird. Sie endet am besten mit der Bitte Viratas an seinen König: "Laß' mich ledig sein meines Amtes! Ich kann nicht mehr wahr sprechen, seit ich weiß: keiner kann keines Richter sein. Es ist Gottes zu stra­fen, und nicht der Menschen, denn wer an Schicksal rührt, fällt in Schuld."

Auch dieser Denkanstoß muss unbedingt diskutiert werden!


Mit der vom Dichter dargestellten Ansicht: "Keiner kann keines Richter sein. Es ist Gottes zu strafen, und nicht der Menschen, ... .", kann eine menschliche Gesellschaft wohl nicht funktions­fähig gehalten werden - auch wenn kommunistische Utopisten das Gegenteil annehmen, die Bibel an einer Stelle (Matthäus 7/1) - im Gegensatz zu anderen Aussagen wie: "Die Obrigkeit hat ihr Schwert, und sie hat es nicht umsonst!" - fordert: "Richtet nicht, auf das ihr nicht gerichtet werdet!", und Jesus nach Johannes 8/7 vor fast 2.000 Jahren das Verfahren gegen die ertappte Ehebrecherin mit der auf die Strafvollstreckung abzielenden strafprozessualen Auffor­derung im Keime erstickte: "Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie." Wie sollte sich aber die Gesellschaft z.B. gegen organisierte Kriminalität schützen? Wir brauchen irdische Richter - aber möglichst welche ohne Selbst­gerechtigkeit und mit dem Bewusstsein ihrer eigenen (potentiellen) Sündhaftigkeit, damit nicht wie in dem von der Presse so bezeichneten "Memminger Hexenprozess" 1989 gegen einen Frauenarzt und indirekt gegen die Frauen, die von dem Arzt nach dessen Beratung, aber ohne die nur in Bayern nach Landesgesetz vorgeschriebene weitere Beratung durch eine zwei­te, davon unabhängige Stelle eine Abtreibung hatten vornehmen lassen, derjenige Richter sich am wenigsten einfühlsam, ja inqui­sitorisch gebärdete, der einige Jahre zuvor seine damalige, von ihm schwangere Freundin von Bayern in ein anderes Bundesland ge­bracht hatte, um dort die von ihm gewollte Abtreibung straflos vornehmen zu lassen.40

Zur Erzwingung der Einhaltung grundlegender gesellschaftlicher Normen in einer pluralistischen Gesellschaft, zur Erzwingung von wenigstens angepasster Konformität an etablierte Normen muss geurteilt und oft auch gestraft wer­den; das hat selbst Jesus anerkannt, denn er hat das Verhalten der Ehebrecherin nicht für straffrei erklärt. Allerdings können wir fehlsamen Menschen nicht auf die Richter warten, die noch keine Sünde begangen haben und deswegen den ersten Stein werden könnten. So viele, wie benötigt, wird es davon nicht geben! Wenn also Einigkeit darüber besteht, dass gestraft werden muss, dann lautet die »nur« noch der Beantwortung harrende Frage: wie? Wie soll die Gewissheit über das Vorliegen einer Straftat gefunden werden und wie hoch soll die Strafe bemessen werden?

Positiv gewendet sichert die formelle Bestrafung abweichenden Verhaltens den abstrakten Glauben der normtreuen Gesellschaftsmitglieder an die Geltung der für unverzichtbar gehaltenen Grundnormen des gesellschaftlichen Zusammenlebens: „Mit der Gemeinheit ist der Täter ... nicht durchgekommen!“ Staatliche Strafmacht sichert so die soziale Solidarität der (relativ) Normtreuen. Außerdem scheinen Strafen ein Stück Genugtuung auf jeden Fall für die Opfer zu sein - so sie die an ihnen verübte Straftat überleben.

Hierbei kann Strafrechtsprechung nicht nach dem Motto betrieben wer­den: "Wer urteilt, kann irren - wer verzeiht, irrt nie!" Es muss geurteilt und wohl auch gestraft werden. Die menschliche Bosheit erzwingt staatliches Strafen. Die Strafe ist aber stets ein „Griff ins Dunkel“, schrieb Anfang des vergangenen Jahrhunderts der berühmte Strafrechtslehrer Franz von Liszt. Niemand kann voraussagen, was einem straffällig Gewordenen hilft, fernerhin ein Leben ohne Straftaten zu führen. „Nur so viel wissen wir: Die Gefängnisstrafe, ob sie nun Schutz der Gesellschaft, zur Sühne der Tat oder zur Besserung des Täters verhängt wird, ist nicht nur, im Lisztschen Sinne, ein Griff in tiefe Finsternis, sondern allzu oft ein Fehlgriff.“ (Die Zeit 11.04.02)

Die Richter reagieren nicht gleichbleibend: Einer Untersuchung zu Folge haben sich zwischen 1990 und 1998 in den alten Bundesländern die verhängten Haftjahre um 40 Prozent vermehrt, während die Zahl der Angeklagten nur um 7,2 Prozent zugenommen hat. In den beiden vergleichbaren und damals auch noch SPD-geführten norddeutschen Bundesländern Niedersachsen und Schleswig-Holstein entwickelten sich die Zahlen in den angegebenen Zeitraum zwischen 1990 und 1998 völlig unterschiedlich: In Niedersachsen kamen 55 % mehr Menschen ins Gefängnis, in Schleswig-Holstein knapp 17 %, obwohl die Kriminalitätslagen der beiden Länder ziemlich ähnlich sind. „Und noch eine beunruhigende Erkenntnis für den Klimawechsel unter denen, die das Recht anwenden sollen: Stichprobenartige Befragungen unter den Jurastudenten zeigen, dass unter ihnen die Zahl der Todesstrafenbefürworter zunimmt. Und es schwinden die Skrupel, selbst kleine Kriminelle in Haft zu nehmen. Liberale Grundsätze, die wir für gesichert hielten, scheinen ihre Gültigkeit zu verlieren. Hier droht eine neue Generation gnadenloser Richter heranzuwachsen – die ’Generation Schill’. ... Der Rache und Vergeltungsgedanke gewinnt wieder an Bedeutung, ...“ (Die Zeit 11.04.02)
Dieses Wissen wirft uns dann aber wieder auf die erste unserer Eingangsfragen zu Anfang dieses Kapitels zurück:

Was soll der Zweck des Strafens sein?


Denn fest steht: Einen Schaden setzt die Strafe nicht voraus. So werden z.B. beim Vergehen (nach § 12 StGB: Mindeststrafe weniger als ein Jahr Gefängnis) des Eingehens einer Doppelehe (§ 171 StGB) vielleicht insgesamt zwei Frauen sehr glücklich gemacht, wenn ein Geschäfts­rei­sender seine Dienstfahrten so gut terminiert, dass keine der beiden Frauen etwas von der anderen Ehe ihres Ehepartners erfährt. Das ist vorgekommen! Erst bei der Testamentseröffnung erfuhren die Frauen und deren Kinder voneinander.

Es ist sogar vorgekommen, dass Männern eine Doppelehe verordnet worden war: Als sich nach dem 30-jährigen Krieg die Bevölkerungszahl in Deutschland von vorher 20 auf 8 Millionen reduziert hatte und Deutschland weitgehend entvölkert war, beschloss der fränkische Kreistag ein Gesetz, dass erstens innerhalb der nächsten zehn Jahre kann Mann unter 60 mehr ins Kloster gehen dürfe, dass zweitens die Priester und Pfarrer, die keine Ordens- oder Stiftsleute sind, zu heiraten hätten und dass drittens "Jedem Mannsperson zwei Weyber zu heyrathen erlaubt sein. Dabei jede Mannsperson ernstlich erinnert sey, auch auf den Kanzeln öffters ermanth werden sollen, sich dergestalt hierinnen zu verhalten, dass er sich … zwei Weyber zu nemmen getraut …"41


Wird eine Diebesbeute dem Eigentümer - eventuell sogar durch den reumütigen Dieb vor Entdeckung der Straftat - wenig später zu­rück­gebracht, so wird der - vielleicht bei der tätigen Reue - ertapp­te Dieb trotz seiner von ihm selbst vorgenommenen Schadensbeseitigung gleichwohl bestraft werden.
"Räuber resignierte

hei Essen - Nur wenige Minuten nach seinem Überfall auf eine Essener Boutique brachte ein 20 Jahre alter Räuber die erbeuteten 500 Mark wieder zurück. `Die kriegen mich ja doch', sagte er resigniert und legte der verdutzten Verkäuferin die Geldscheine auf den Ladentisch. In diesem Moment ging die Tür auf, und Polizisten stürmten in den Raum."


Ist aber durch einen vollendeten Rechtsbruch dauernder Schaden ent­standen, so wird der durch die Strafe nicht ersetzt. Bei voll­en­deten Tötungsdelikten kann er auch gar nicht wiedergutgemacht werden; jedenfalls nicht am Opfer! Wer sollte dem Opfer das Leben zurückgeben können?



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