Masaryk-universitäT



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2. Werk

In einem ihrer Interviews sagte die Autorin, dass es drei Quellen ihres Schaffens gibt, und zwar ihre eigenen Erfahrungen, zweitens die Erlebnisse ihrer Kinder und drittens sind es übernommene Geschichten und Erfahrungen anderer Menschen, d. h. das, was sie gehört hat.


Dass sie nur schreiben könne, was sie kenne, ist eine der Standardaussagen geworden, die nicht nur zur Charakterisierung der Autorin, sondern auch als Beweis für die Authentizität der Texte steht. Nöstlinger differenziert hier und meint ihre Erfahrungen, nicht ihre Erlebnisse. Damit legitimiert sie auch automatisch den eingeschränkten Handlungsraum (Wien) und die reduzierte Figurenauswahl (Gymnasiasten, mittlere Angestellte) ihrer Texte.“ [Fuchs 2001, S. 15]
Wenn man eine ausführliche Charakteristik ihres gesamten Werkes erfassen möchte, kann man Nöstlingers Meinung über ihr eigenes Schaffen heranziehen:
Ich opponiere nicht gegen die verfrühte Intellektualisierung der Welt des Kindes durch Schule und Erwachsene. Selbige ist mir nämlich noch nie begegnet. Wo wird denn da intellektualisiert? Integriert wird. Leistungsbewusst wird gemacht. Konsumbewusstsein wird erzeugt. Intellektualisierung müsste doch bedeuten: Zusammenhänge erfassen, Probleme selbständig durchdenken und so weiter und so fort. Das wären aber durchaus wünschenswerte Sachen.“ [Ch. Nöstlinger, Das Werkstattbuch, 1974, S. 136]

2.1. Sprache, Sprachmittel, Stil

Die Autorin empfindet eine starke Affinität zu Österreich, zu Wien; den Wiener Jargon bezeichnet sie als ihre Muttersprache.


Die gesprochene Sprache von Österreichern, speziell von Wiener Kindern und Erwachsenen, soll den Leserinnen und Lesern eine ‚Heimat‘ bieten.“ [Fuchs 2001, S. 15]
Jugendjargon, die spezifische Sprache der Heranwachsenden, charakterisiert durch Neuschöpfungen, inhaltliche Verlagerungen, Abkürzungen und Verwendung ungebräuchlicher Begriffe etc. spielt in ihrem Werk eine besonders wichtige Rolle.
‘Spitznamen‘ tragen fast alle Helden und Heldinnen ihrer Geschichten. Sie reichen von einer einfachen Variation des Namens bis zu Namen, die vor allem schlechte Eigenschaften der dargestellten Person spöttisch und scharf hervorheben sollen. So verbindet z. B. der Spitzname ‚Popopapa‘ in sich den väterlich gutmütigen Klassenlehrer mit einer Anspielung auf seine etwas unvollkommene Physiognomie.

Lehrerinnen und Lehrer erhalten meist diskriminierende Spitznamen, wie ‚Parasol‘ für den Klassenvorstand. Ch. Nöstlinger wählt für das Lehrpersonal aber auch gleich sprechende Namen, die sich für eine jugendsprachliche Aufnahme eignen. Frau Professor Wurm wird im Schülerjargon einfach zum ‚Wurm‘. [Vgl.: Ebd. 2001, S. 15]


Wo die Erwachsenen oft despektierliche und Abneigung assoziierende Spitznamen tragen, wie z. B. die Bezeichnung der Mutter einfach als ‚die Frau‘ im Roman Pfui Spinne, haben die kindlichen und jugendlichen Protagonisten teilweise solche Spitznamen, die mit ihrem Aussehen in Verbindung zu setzen sind – z. B. Maria-Theresia alias ‚Ameisenbär´ aus dem gleichnamigen Roman, teilweise mit ihrer Lebensweise zusammenhängen – z. B. Victor-Emanuel, der Protagonist des Romans Lollipopp, wird genauso ‚Lollipopp‘ gerufen, weil er gern lutscht, bis die Welt so aussieht, wie die Farbe seines Lutschers. ‚Luki-live‘ ist ebenfalls der Spitzname des Protagonisten aus dem gleichnamigen Roman, weil der Junge für Englisch und englische Vokabeln eine große Vorliebe hat.

Manchmal ist der Spitzname einfach nur ein Abkürzungswort, gebildet aus den Anfangssilben des Vornamens und des Familiennamens, wie z. B. ‚Koku‘ d. h. Konrad Kurdisch aus dem Roman Nagle einen Pudding an die Wand (1990).

Häufig dient als Grundlage eines Spitznamens ein synonymischer Ausdruck, so gibt es z. B. für die Mütter bzw. die Eltern Ausdrücke wie ‚meine Erzeuger‘, ‚Henne‘, ‚Pummel‘, ‚Raffzahn‘, ‚Gruftspion‘, ‚Mittagessen-Mutter‘ für Mütter von Nachbarskindern, bei denen zu Mittag gegessen wird. Diese Synonyme beziehen sich jedoch nicht nur auf Personen, sondern auch auf Räumlichkeiten, z. B. ‚Mutterbauch‘ für Küche, oder auf andere Zusammenhänge wie z. B. die finanzielle Situation der Familie. Diese sprachschöpferischen Komposita sind unter anderem ein Merkmal Nöstlingerschen Sprachwitzes. [Vgl.: Dilewsky 1993, S. 195]
Die einzigen ‚ehrwürdigen‘ Spitznamen tragen die Tiere, besser gesagt die Haustiere, sei es z. B. die Katze ‚Kater‘ aus dem Erstlingswerk Die feuerrote Friederike (1974) oder der Kater namens ‚Anatol‘ aus dem Roman Anatol und die Wurschtelfrau (2000).
Das Satzgefüge Nöstlingers hat einen einfachen Aufbau. Um bestimmte Sachverhalte zu verdeutlichen, bedient sie sich zeitweise metaphorischer Bilder. Ihre Protagonistinnen und Protagonisten verwenden die schlichte Alltags- bzw. Umgangssprache, was durch einen natürlichen und humorvollen Stil ergänzt wird. Besonders wirkungsvoll ist in diesem Zusammenhang der Stil ihrer Dialoge. Sie lässt die Personen wie im Drama auftreten. Sie charakterisieren sich selbst durch die ihnen zugedachte Rolle. Die Dialoge, insbesondere zwischen den Generationen, sind einerseits realistisch, gleichsam drastisch, andererseits werden innerhalb dieser Dialoge die Alltäglichkeiten so durch Komik ergänzt, dass sie den Wiedererkennungswert für das Publikum steigern.
Deine Mutter sollte sich einfach ein Auto kaufen“, sagte die Luki-Mutter.

Einen Zweitwagen?“ fragte ich ohne böse Absicht. (Alle Leute nennen doch das zweite Auto, das in eine Familie kommt „Zweitwagen“.) Aber da erregte sich die Luki-Mutter: „Schäm dich, Ariane! Achte gefälligst mehr auf das, was du sagst!“ Ich wusste wirklich nicht, wofür ich mich schämen sollte, doch sie erklärte es mir gleich. Die Erklärung dauerte bis zum Gartentor der Böhms. Sie hatte den Inhalt, dass der Ausdruck „Zweitwagen“ die Familienverhältnisse in unserer Gesellschaft wieder einmal deutlich zeigt. Frauen steht eben immer das Zweite zu. Das Zweitrangige. Das Zweitklassige. Weil sie als Menschen zweiter Klasse gelten. „Oder hast du schon einmal einen Mann gesehen, der den Zweitwagen fährt?“ fragte sie mich. Hatte ich nicht. [Ch. Nöstlinger. Luki-live, 1978, S. 118]




2.2. Genres im Werk von Christine Nöstlinger

Im Werk von Christine Nöstlinger sind vor allem zwei Genres der Kinder- und Jugendliteratur wesentlich vertreten, und zwar die phantastische und die realistische Jugendgeschichte. Ich möchte mich in diesem Abschnitt meiner Arbeit mit beiden Genres zuerst allgemein befassen, wobei ich auf einige Werke näher eingehen werde.




2.2.1. Phantastische Geschichten

Die Fiktion hat in der gegenwärtigen Kinder- und Jugendliteratur oft eskapistische Funktion. Dies betrifft vor allem das heutzutage immer öfter erwähnte Genre Fantasy.

Mit den phantastischen Erzählweisen weichen Autoren vom künstlerischen Prinzip der Wirklichkeitsnachahmung ab, magisch-mythisch in mündlich überlieferter Volksliteratur (Märchen, Fabeln) oder auch bewusst mit literarischen oder weltanschaulichen Mustern spielend. Zweiteres gehört nach Toderov zur phantastischen Literatur, in der die Fantastik ein Störfaktor mit unaufgelöster Spannung bleibt. Dieses bewusste Spielen mit der Wirklichkeitsnachahmung, mit dem Prinzip der Fiktion, d. h. mit der literarischen Glaubwürdigkeit, ist in den letzten Jahren mit der Popularität der phantastischen Literatur zum Thema der Literaturwissenschaften geworden. [Vgl.: R. Wild 1990, S. 20]


2.2.1.1. Die feuerrote Friederike

Ihre Schreibkarriere begann Ch. Nöstlinger 1970 mit der Feuerroten Friederike, einer phantastischen Geschichte mit durchaus eskapistischer Funktion, deren Hintergrund triste und vergrämende reale soziale Verhältnisse bilden. Man spricht in diesem Fall oft von ‚phantastischem Realismus‘. Meiner Auffassung nach handelt es sich eigentlich um ein sehr trauriges Buch, eine Geschichte darüber, dass wegen Vorurteilen, die auf Äußerlichkeiten, hier außergewöhnlich rote Haare, gerichtet sind, die Protagonistin Friederike mit ihrer Tante, der sprechenden Katze und dem pensionierten Briefträgerehepaar den Wohnort verlassen und in ein anderes Land, in dem alle glücklich sind, flüchten müssen.


Es gibt ein Land, dort sind alle Menschen glücklich. Sie gehen in schöne Schulen. Kein Kind wird ausgelacht. Alle helfen einander.“ [Ch. Nöstlinger. Die feuerrote Friederike 1970, S. 77]
Im Nachwort zu diesem Buch, das in seiner zweiten, nur marginal überarbeiteten Fassung ausgelassen wurde, nimmt Ch. Nöstlinger nicht die Partei der kleinen Nachbarstochter Katinka, die die Schriftstellerin regelmäßig besucht. Sie reagiert vielmehr empört auf die Meinung des Mädchens.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, zerstreut die Schriftstellerin in ihrem Nachwort Gedanken von jungen Lesern, die möglicherweise den Schluss ziehen könnten, erst die Gemeinheit der Kinder habe Friederike Eingang in das herrliche Land ermöglicht, mit dem Hinweis, dass es erstens kaum Kinder mit Zauberhaaren gäbe und dass zweitens Gemeinheit jedenfalls keine passende Hilfe wäre. Das Phantastische und Skurrile wird in der Geschichte als ein Mittel eingesetzt, um zu mehr Toleranz und zu einer humanitären Einstellung aufzurufen. [Vgl.: J. Koppensteiner 1990, S. 108]


Christine Nöstlinger verarbeitet hier ein sehr altes Vorurteil gegenüber Rothaarigen, das schon Johann Nestroy als Grundlage für die Posse Der Talisman verwendete. Die angesprochene Feuergefahr in Wiener Spottversen auf Rothaarige verkehrt Christine Nöstlinger in einen Zauberspruch, der die Haare tatsächlich zum Glühen bringt: Rotarotaginggingging, feiabrenntinottakring“. Die Ursache der Ausgrenzung wählt sie als Grundlage zur Phantastik, und der Flug in eine utopische, soziale Welt beschreibt eine Kapitulation vor einer intoleranten Gesellschaft. Bei Nestroy schließen sich die Rothaarigen zusammen, um gegen Vorurteile mit List zu kämpfen, bei Ch. Nöstlinger verschwinden sie aus der Stadt. Mit dem Verschwinden vergessen die Menschen sowohl das Vorhandensein von Fremdartigem als auch die Utopie einer besseren Welt. [Vgl.: S. Fuchs 2001, S. 78]

Die feuerrote Friederike wurde zweimal aufgelegt. An dieser Stelle meiner Arbeit möchte ich mich den Unterschieden der Buchauflagen widmen, wobei gleich am Anfang dieses Abschnittes gesagt werden kann, dass es sich nur um marginale Veränderungen handelt.

Die Protagonistin, die anderen handelnden Personen, ja sogar die Handlung unterscheiden sich in beiden Auflagen kaum. Der erste Unterschied betrifft die formale Seite. Die Größe der Bücher ist unterschiedlich, das Buch von 1970 hat Christine Nöstlinger als angehende Graphikerin und Buchillustratorin persönlich illustriert, bei der zweiten Auflage ist ihre Tochter Christiane Illustratorin des Werkes. Die Bilder der ersten Auflage sind schwarz-weiß, sie wirken comicartig, manchmal sind es tatsächliche Comicbilder, da die Aussage der handelnden Person sehr kurz und prägnant formuliert und in einer Sprechblase bzw. Denkblase angebracht ist.

Die Illustrationen von Ch. Nöstlinger jr. sind farbig, sie wirken beschönigend, haben nicht den Charakter der Comiczeichnungen. Die Konturen der Zeichnungen sind nicht skizzenhaft wie ursprünglich, sondern eher kraus, flatternd, sie unterwerfen sich meiner Meinung nach dem Geschmack der Kinder.

Keines von den beiden Büchern ist in Kapitel gegliedert, es sind nur räumlich getrennte Textabschnitte. Das erste Exemplar beinhaltet am Ende als Nachwort eine ‚Nachschrift‘ der Autorin, wobei die Aggressivität des Inhaltes durch rot gedruckte Buchstaben unterstrichen wird. Dadurch ist die ganze Aussagekraft noch gesteigert worden und wirkt sehr scharf, empört, beunruhigend.

Da in der Neuauflage die Nachschrift der Autorin ausgelassen blieb, wirkt meines Erachtens das Werk milder, ruhiger, es wird so dem Leser mehr Freiheit für eigenes Interpretieren und Auslegen des Werkes überlassen.
Vom inhaltlichen Gesichtspunkt ist für eine komparatistische Analyse der Brief des Vaters an Friederike gut geeignet.

In beiden Versionen findet nämlich Friederike im Laufe der Handlung einen Brief von ihrem Vater, der ihr in beiden Fällen mitteilt, dass er abreist und Friederike zu ihm kommen soll, wenn sie mit ihrem bisherigen Leben nicht zufrieden und vielleicht unglücklich ist. Bei jeder Version wurden andere Sprachmittel gewählt und andere Aspekte wurden hervorgehoben. Während der Vater in der alten Fassung abreisen muss, wird in dem neuen Text lediglich konstatiert, dass er abreist. Weder in dem ursprünglichem noch in dem neuem Wortlaut wird jedoch der Grund der Abreise des Vaters explizit zum Ausdruck gebracht.

Im ursprünglichen Text beschäftigt sich der Vater auch mit der Haarfarbe seiner Tochter und verbindet so implizit ihr Glücklichsein mit der Farbe der Haare. Er schreibt sogar, dass Friederike vielleicht ein blondes schönes Mädchen ohne Probleme und ganz glücklich wird. In der neuen Variante wird über das Haar kein Wort gesagt.

Unterschiedlich handelt in beiden Versionen auch der Briefträger Bruno, ein großer Verteidiger und Freund von Friederike und ihrer Tante. Als er entlassen wird, wehrt er sich in der ursprünglichen Fassung gegen den Eigensinn des Postdirektors gewaltig, während er in dem neuen Wortlaut resigniert und gleich die Postmütze auf den Haken hängt. Es ist anzunehmen, dass die junge Autorin noch voll von Idealen und Widerstand war, aktiver als die schon reife und erfahrene Schriftstellerin, die vielleicht schon gleichsam klug den ewigen Kampf mit den Behörden, der Bürokratie und der oft unverständlichen Politik aufgegeben hat.

Auch kurz vor dem Ende des Buches, wo sich die Familie und Bruno mit seiner Ehefrau auf den Flug vorbereiten, ist ein markanter Unterschied festzustellen. Während sich im ursprünglichen Text die Autorin mit präziser Sorgfalt damit beschäftigt, was mit den Sachen und Verpflichtungen der Abzureisenden nach dem Abflug passieren wird und im Rahmen dessen u. a. Friederike von der Schule abgemeldet wird, die Sachen verschenkt werden und das rote magische Buch dem Cousin namens Profi übersendet wird, lassen die Flüchtlinge in der modernen Fassung alle Sachen ohne Bedenken liegen. Ihre einzige Sehnsucht ist es, möglichst schnell ins Wunderland zu kommen. [Vgl.: M. Vávra 1998, S. 34]


2.2.1.2. Wir pfeifen auf den Gurkenkönig

Nur selten hilft ‚eingreifende Phantasie‘, manchmal auch ‚soziale Phantasie‘ genannt, zur Bewältigung realer Probleme wie in Christine Nöstlingers Jugendroman Wir pfeifen auf den Gurkenkönig (1972).

Klaus Jürgen Dilewsky führt in seiner Nöstlinger-Monographie sechs verschiedene Form-Möglichkeiten der phantastischen Kindergeschichte an.

An dieser Stelle möchte ich meine Aufmerksamkeit einem der Bereiche seiner Kategorisierung widmen, d. i. ‚Phantasie als Verwandlung und Transzendierung der Realität im Sinne einer Weiterentwicklung, nicht Abkehr‘ und möchte den Roman Wir pfeifen auf den Gurkenkönig näher beschreiben und analysieren. Es handelt sich um den mehrfach ausgezeichneten und immer wieder aufgelegten Roman, der zwei Jahre nach Friederike erschienen ist und von Werner Maurer illustriert wurde. Die im Jahre 1994 erschienene Auflage wurde von Jutta Bauer illustriert.


Inhaltlich-thematische Analyse
Wolfgang Hogelmann, zwölf Jahre alt, ist gleichzeitig Protagonist und Erzähler des Romans. Eines Tages sitzt auf dem Küchentisch der Familie Hogelmann ein merkwürdiges, skurriles Wesen, das einer verschrumpften Gurke auffallend ähnelt. Es ist ein von seinen Untertanten verstoßener Gurkenkönig, namens Kumi-Ori, und er bittet in der Familie um Asyl. Im Verlauf der Geschichte solidarisiert sich der Vater mit dem Gurkenkönig, was der Familie die Möglichkeit bietet, sich gemeinsam gegen die Person des Gurkenkönigs und damit auch gegen die Herrschaftsansprüche des Vaters aufzulehnen. Am Ende der Geschichte wird der Gurkinger durch den kleinen Sohn Nick aus dem Haus geschafft und eine positive Veränderung des Vaters angedeutet.
Der Roman wendet sich gegen die angemaßte Macht der Erwachsenen, insbesondere der Väter. Er ist die Analyse von Macht und Selbstbefreiung am Beispiel einer fiktiven Figur, des Gurkenkönigs. Zwischen den Elternteilen ist das Beziehungsgeflecht gestört. Die Mutter ist in ihrer Rolle mit den Kumi-Ori Untertanen vergleichbar. Auf dem Höhepunkt der Geschichte wird das Autoritätsproblem der Familie Hogelmann auf die phantastische Ebene verschoben. Die Familie grenzt den Vater aus und wendet sich gemeinsam gegen die phantastische Figur, ohne dass damit das eigentliche Problem verloren geht, denn indirekt wendet sie sich damit auch gegen den Vater. Das harmonische, auf faulen Kompromissen beruhende Familienleben ist enttarnt. Der Kumi-Ori spiegelt das für das gestörte Interaktionsverhältnis verantwortliche Verhalten. Er stellt für das Oberhaupt der Familie eine explizite und implizite Identifikationsfigur dar, in deren Bannkreis sich der Vater vollständig begibt. Als die phantastische Figur am Schluss der Erzählung aus dem Haus geschafft wird, deutet sich auch beim Vater eine Verhaltensveränderung an. [Vgl.: K. J. Dilewsky, 1993, S. 54]
So eine Figur wie Kumi-Ori erscheint in der zeitgenössischen Kinder- und Jugendliteratur nicht zum ersten Mal. Eine ähnliche Funktion wie der Gurkenkönig übernimmt das Unugunu in der gleichnamigen Erzählung der deutschen Kinder- und Jugendbuchautorin Irina Korschunow (geb. 1925). Jedoch ist die durchaus negative Rolle und die zwischenmenschlichen Beziehungen allmählich zerstörende Kraft von Unugunu diesmal noch mehr gesteigert. Das Unugunu, das Monster in Gestalt eines aufgepumpten Luftballons, tyrannisiert alle Familienangehörigen, am brutalsten jedoch den schwächsten von ihnen, den Großvater. Die Tyrannei des schaudernden Unwesens wächst mit der Zeit beinahe in eine tragische Geschichte hinüber. Erwachsene handeln unter seinem Druck in der Öffentlichkeit wie verabscheuungswürdige Menschen: Der Vater verpetzt seine Arbeitskollegen, die Mutter verleumdet ihre beste Freundin. Wenn die Familie fast alle ihre Freundschaftsbeziehungen vernichtet hat, bietet sich wie im Gurkenkönig eine einfache, jedoch geniale Lösung an, wie das Unugunu vernichtet werden könnte. Wieder übernimmt die aktive Rolle ein kindlicher Protagonist: Der Junge nimmt eine Nadel und in einer äußerst gespannten Situation der physischen Bedrohung des Großvaters sticht er einfach das Monster durch. Nur übrig gebliebene unangenehm riechende Lacke beweist, dass vor kurzem in der Familie etwas nicht in Ordnung war.


2.2.1.3. Hugo, das Kind in den besten Jahren

Das dritte Werk des phantastischen Genres, das ich näher betrachten möchte, ist der im Jahre 1984 zum zweiten Mal erschienene Roman Hugo, das Kind in den besten Jahren. ‚Phantastik‘ ist hier als ‚Nonsens‘ zu verstehen, im Sinne eines spaßhaften Spiels mit dem Ziel, Vergnügen zu bereiten. [Vgl.: K. J. Dilewsky, 1993, S. 26]


Tolkiens Kleiner Hobbit ähnelt in manchen Charakterzügen und Peripetien seiner abenteuerlichen Erlebnisse Nöstlingers Hugo, einem Kind, das mehr als fünfzig Jahre alt ist.
Der Arbeitsweise der ‚Graphikerin’ Ch. Nöstlinger kommt entgegen, Geschichten nach Bildern zu erzählen. Bisher brachte der Verlag Beltz & Gelberg zwei Romane, deren Illustrationen zuerst, also vor dem Text vorhanden waren, heraus. Inspiriert von den Graphiken Jörg Wollmanns – acht schwarz-weißen Bildtafeln – entstand der phantastische Roman Hugo, das Kind in den besten Jahren. Jede Figur, die Ch. Nöstlinger durch ihre Beschreibung mit Leben füllt, korrespondiert mit den phantastischen Radierungen. In jeder Reiseepisode des Protagonisten Hugo entsprechen Einzelheiten den Details aus den vielschichtigen Graphiken, die durch die Erzählweise in einen kausalen Zusammenhang und einen temporalen Ablauf gebracht werden. [Vgl.: S. Fuchs, 2001, S. 136]
Inhaltlich-thematische Analyse
Hugo gehört zu den Kindern in den besten Jahren. Er ist das Kind, das nie erwachsen wird. Hugo möchte allen alt gewordenen und unterdrückten Kindern helfen. Dabei wird er selbst von seinen Eltern, Miesmeier 1 und 2, ordnungsliebevoll unterdrückt.

Durch gemeine List und ungewöhnliche flugtechnische Kenntnisse – er reist stets im eigenen Papierflugzeug – verschafft er sich nächtelangen Ausgang, unternimmt ausgedehnte, gefährliche Reisen. Hierbei macht er selbst gewisse Wandlungen durch. Er lernt z. B., dass es noch andere unterdrückte Minderheiten gibt.


Hugo, der die Fähigkeit des Fliegens der feuerroten Friederike wieder aufnimmt, ist diesmal anstelle von Christine Nöstlinger der Anwalt der Schwächeren. Sein Manifest für Kinder ist das Erziehungskonzept einer Antipädagogin, das aus dem bisher geltenden erzieherischen Leitmotiv, ich akzeptiere dich nicht so wie du bist, entspringt. Christine Nöstlinger war zunächst davon überzeugt, dass diese Bilder gar keines Textes bedürfen, da Kinder sich diese anschauen und sich dann selbst eine Geschichte ausdenken können. [Vgl.: K. J. Dilewsky, 1993, S. 81]
Sie sagt zu den Bildern von Jörg Wollmann wie folgt:
Ich hab halt eine Zeitlang zwischen diesen Bildern gelebt und hab mir eigentlich aus den Bildern immer nur Details, die mich speziell fasziniert haben und die alle total irrsinnig sind, herausgesucht …Da gibt es zum Beispiel ein Mädchen, das steht dort, schaut aus wie Alice im Wunderland und hat so eine Luftballonschnur in der Hand, und an dem Luftballon oben ist so ein typisches amerikanisches Einfamilienhaus und gleich daneben radelt einer mit einem langen Schnurrbart auf einem Fahrrad durch die Luft, und darunter gehen 20 Hunde im Trenchcoat spazieren – zu jedem ist mir dann etwas eingefallen…“
Jörg Wollmann sagt zu seinen Zeichnungen und zu seiner Arbeit folgende Worte:
Jeden Frühling gibt es eine Kinderbuchmesse in Bologna, und da wollte ich einmal hinfahren. Neue Bücher sehen, Leute treffen, eigene Arbeiten herzeigen – und vielleicht etwas verkaufen. Wie man sich das halt so vorstellt. Aber natürlich geht das nicht so einfach. Um die Wahrheit zu sagen, ich kann jedem, der etwas herzeigen und verkaufen will, nur dringend davon abraten, dorthin zu fahren. Wie ein Vertreter für ein bekanntermaßen schlechtes Haarwuchsmittel wird man da behandelt, wenn man mit einer Mappe herumgeht. [In: Ch. Nöstlinger. Hugo, das Kind in den besten Jahren, 1984]


2.2.2. Realistische Geschichten

Dieses Genre bildet einen wichtigen Bestandteil des Werkes von Christine Nöstlinger, da sie eine ausgezeichnete Beobachterin der Welt ist, in der Kinder ihren Alltag verbringen. Anhand der Lektüre ihrer Meinung nach nur stichprobenweise ausgewählter Zeitungen glossiert sie die Welt der Kinder folgendermaßen:


Schon Kindergartenkinder verletzen einander ungeheuer brutal beim Raufen.

Lehrer leiden unter dem Burn-Out-Syndrom, sind fix und fertig, zittern, kriegen Schweißausbrüche, wenn sie eine Klasse betreten müssen.

Kinder sind, wenn es um Kaufkraft geht, die Maßgeblichen in der Familie. Eltern konsumieren nach der Kinder Diktat. Eltern schieben der Schule alle Aufgaben zu.“ [Vgl.: Woltron, 1995]
Das Leben der Protagonisten und Protagonistinnen ihrer realistischen Werke ist eindeutig in Österreich, meistens in Wien lokalisiert. Identifikation erreicht die Autorin mit detaillierten Beschreibungen von Wohnungen, Schulsituationen und dem vorgeführten Aktionsradius. Die Probleme und Themen, die in den realistischen Büchern für ältere Kinder, Jugendliche und Erwachsene auftauchen, reichen von Schulschwierigkeiten, Isolation der Protagonisten, Familienstreiten, Scheidung, erster Verliebtheit, Partnersuche, Reflexion über die eigene Person, Liebesprobleme bis zu gesellschaftlichen Zwängen.
Im tschechischen Milieu ist wohl ihr Roman Die Ilse ist weg (1974) am bekanntesten, der auch unter dem Titel Ilse Janda, 14 veröffentlicht wurde.
Die jüngere Schwester von Ilse, Erika, denkt retrospektiv über ihr gemeinsames Leben nach. Es werden allmählich Gründe und Ursachen für Ilses Flucht vom Zuhause, aus der bürgerlichen Scheinidylle enthüllt: Nach der Scheidung leben die beiden Kinder bei den Großeltern, wo sie sich wohl fühlen. Mit der zweiten Ehe entwickelt die Mutter den Ehrgeiz, eine wohl geordnete Familie entstehen zu lassen, vor allem, nachdem zwei weitere Kinder geboren werden. Da aber die Fassade mehr Stellenwert einnimmt als wirkliches Verständnis, bleiben die Schwierigkeiten Ilses unbeachtet. Sie erträumt sich ihre eigene Welt, die als banale ‚Lüge‘ entlarvt, aber nicht nach ihrer stabilisierenden Funktion für die Psyche der Pubertierenden hinterfragt wird. Der Ausbruch sollte sie ihren Vorstellungen näher bringen, doch weiterhin entsagt sie der Realität. Wieder zu Hause, überlegt sie die nächste Flucht.

Ch. Nöstlinger zeigt hier deutlich die Verantwortung der Erziehungsberechtigten für das emotionale Vakuum, in dem sich die Heranwachsende befindet. Die Flucht wird nur als subjektiv empfundene Lösung dargestellt, im Familienzusammenhang zeigt sie erst die schwellenden Konflikte auf. [Vgl.: S. Fuchs, 2001, S. 91]


Ein Zitat aus dem analysierten Buch zeigt, was für Beziehungen unter den Familienangehörigen herrschen, konkret, wie die Mutter die zurückgekehrte, lügende Ilse ihre Überlegenheit fühlen lassen möchte:
Die Ilse sagte gerade:

Und dann wollte uns der Vater von der Evi Taxis besorgen, aber es waren keine aufzutreiben!“

Ein Jammer“, sagte die Mama höhnisch.

Die Ilse merkte den Hohn nicht. […]

Die Mama war wütend, weil ich ihr die Show gestohlen hatte. Sie hatte sich das bestimmt genau ausgemalt. Sie hätte die Ilse zu Ende erzählen lassen, und dann hätte sie schön langsam und zynisch gesagt:

Und wieso liegt der liebenswürdige, nette Vater von der Evi seit Stunden im Bett und weiß das alles nicht?“ [Ch. Nöstlinger, Die Ilse ist weg, 1984, S. 58]


Solche Werke, in denen der Protagonist über einen Freund, Bruder oder Schwester retrospektiv nachdenkt, erscheinen in der gegenwärtigen Kinder- und Jugendliteratur ziemlich oft. Es handelt sich vor allem um solche Erzählungen, in denen es um zugespitzte Situationen geht, wie z. B. Flucht der Adoleszenten aus der Familie, Probleme in der ‚peer-group‘, Selbstmordversuche u. ä. Auf diese Weise gelingt den Autoren mittels des erzählenden Protagonisten eine beinahe objektive, neutrale Schilderung der sozialen Hintergründe und Ursachen, die oft zum tragischen Ende führen. Ein gutes Beispiel ist die Erzählung Die Sache mit dem Christoph der zeitgenössischen russisch-deutschen Jugendbuchautorin Irina Korschunow.


2.2.2.1. Realistische Geschichten mit dem historischen Aspekt

In diesem Teil meiner Arbeit möchte ich mich den Geschichten widmen, die autobiographische Züge der Autorin tragen und die sich dem Zweiten Weltkrieg bzw. der Nachkriegszeit zuwenden. Die erste von ihnen heißt Maikäfer flieg (1973).


Mit dem Thema Krieg kontrastieren Themen wie Familie, Freundschaft oder Kindheit. Zwar spielt der Roman am Ende des Zweiten Weltkrieges, doch hat das behandelte Thema auch um die Jahrtausendwende nichts von seiner Aktualität verloren. Der Roman eröffnet neue Perspektiven zum Thema Zweiter Weltkrieg und enthält zahlreiche Informationen über die damaligen Lebensumstände (Lebensmittelknappheit, Zerstörung, Bombenangriffe usw.). Das Buch trägt den Untertitel Mein Vater, das Kriegsende, Cohn und ich und wurde mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet.

Das Ende des Zweiten Weltkrieges in Wien wird aus der Sicht eines neunjährigen Mädchens Christine geschildert. Politische, soziale und wirtschaftliche Lebensbedingungen zur Zeit des Kriegsendes werden anhand des persönlichen Schicksals der Ich-Erzählerin verdeutlicht. Es ist die eigene Familiengeschichte der Schriftstellerin.


Maikäfer flieg! Der Vater ist im Krieg, die Mutter ist im Pulverland, Pulverland ist abgebrannt, Maikäfer flieg!“, dieses Lied haben Kinder in unterschiedlichen Varianten in Österreich und Deutschland während des Krieges gesungen. Christine Nöstlinger beginnt ihre persönliche Pulverlandgeschichte, indem sie das Lied zitiert. Der Untertitel Mein Vater, das Kriegsende, Cohn und ich benennt die Figuren, die für das Mädchen in dieser kurzen Zeitspanne eine wesentliche Bedeutung hatten.

Der Roman beginnt, als bei einem wiederholten Bombenangriff auf die Wiener Arbeiterviertel die Wohnung der Eltern zerstört wurde. Die Wohnung der Großeltern blieb bewohnbar, so dass diese das Viertel nicht verlassen mussten.

Es geht nicht um objektiv nachprüfbare Wahrheit, sondern um subjektives Erleben. Durchgängig wird tradiert, dass zum Ende der Kriegszeit die Familie das Glück hatte, eine vorübergehende Unterkunft in einer sehr sicheren und noblen Gegend zu erhalten. Noch dazu gelang es dem Vater, trotz seiner schweren Verletzungen mit gefälschten Urlaubsscheinen zu fliehen.
In Neuwaldegg lernte das neunjährige Mädchen zum ersten Mal eine bürgerliche Wohnung mit Bibliothek kennen. Die Villa bedeutete eine andere, unbekannte Welt, ohne Platzmangel, auch wenn die Schwiegertochter der Hausbesitzerin mit ihren beiden Kindern später die Villa mitbewohnte.

Es war die gesamte Welt der Neunjährigen, die plötzlich zusammenbrach. Eingeprägt hatte sich in die Erinnerung des Mädchens die Befreiung durch die russischen Soldaten, auch wenn sich im Alltag wieder nicht allzu vieles veränderte:


Warum wir jedoch plötzlich keine Deutschen mehr waren, das begriff ich nicht. Wo ich doch in der Schule mindestens einmal gehört hatte, dass ich von der Vorsehung dazu auserwählt war, ein deutsches Mädchen zu sein.“ [Ch. Nöstlinger, Maikäfer flieg!, 1980, S. 81–82]
Im Laufe der Befreiung und Besetzung mussten einige Zimmer der Villa für die russischen Offiziere geräumt werden. Diese waren keine Schreckgestalten, auch wenn sie betrunken manchmal gefährlich erscheinen mochten. Die Schauergeschichten, die der Schwester erzählt wurden, stellten sich als Lügen heraus. [Vgl.: S. Fuchs, 2001, S. 43–44]
Eine wichtige Rolle spielt in dieser Geschichte die Figur des russischen Kochs namens Cohn, dessen Äußeres als Gnom von der Autorin meisterhaft detailliert beschrieben und charakterisiert wird:
Der Mann auf dem Kutschbock war sehr klein. Er hatte einen kugelrunden Bauch, eine Spiegelglatze, dünne Arme, gebogene Beine und schwarze, gekräuselte Haarbüschel hinter den abstehenden Ohren. Er trug eine altmodische Nickelbrille vor den Augen. Er hatte zu wenige schiefe, verfaulte Zähne im Mund. Seine Haut war gelb und glänzte fett. Er hatte einen Uniformrock an, der aber nicht wie eine Uniform aussah. Einen Revolver oder ein Gewehr hatte er nicht. Der kleine, sonderbare Kutschbockmann hielt mit seinem Fuhrwerk dicht vor dem Lusthaus im Märzenbecherbeet. Er kletterte vom Wagen, schaute sich um, schaute uns an, lächelte zaghaft, schüchtern, lächelte schief. [Ch. Nöstlinger, Maikäfer flieg!, 1980, S. 81–82]
Im Laufe der Zeit befreundet sich die Protagonistin mit diesem seltsam aussehenden Mann und erlebt mit ihm einige Abenteuer im zerbombten Wien.
Ich liebte den Koch, weil er kein Krieg war. Nichts an ihm war Krieg, gar nichts. Er war Soldat und hatte kein Gewehr und keine Pistole. Er hatte eine Uniform, aber die war ein Lumpensammlergewand. Er war ein Russe und konnte deutsch reden. Er war ein Feind und hatte eine sanfte, tiefe Schlafstimme. Er war ein Sieger und bekam Tritte, daß er quer durch die Lusthausküche flog.“ [Ebd., 1980, S. 94]
In kleinerer Form widmet sich die Autorin dem Thema des Zweiten Weltkrieges in der Sammlung der Geschichten mit dem Titel Eine mächtige Liebe. (1994)
Die Sammlung erschien erstmals mit dem Titel Geschichten für Kinder in den besten Jahren und wurde für diesen Band um die Beiträge Anna und Wut, Auszug aus einer alten Stadtchronik, Sepp und Seppi und Die Zwillingsbrüder erweitert.
Die Erzählung Zuckerschlecker erzählt von der Verletzung des Vaters von Christine Nöstlinger an der russischen Front. Auf Zuspruch des Bruders der Mutter, der Nazi war, wird der Vater als ein prominenter Patient von einem jüdischen Arzt, der aus dem Ghetto kommt, geheilt. Der jüdische Professor spricht mit dem Vater kein Wort, er verachtet ihn, weil viele andere verwundete Soldaten sterben müssen. Die Mutter wartet im Gang und schämt sich, dass sie eine Deutsche ist.
Eine Krankenschwester erzählte meinem Vater, daß der Chefarzt dem jüdischen Arzt das Erschießen angedroht hatte, für den Fall, daß er meinen Vater nicht vom Sterben abhält. Vielleicht hat der jüdische Arzt meinen Vater nur deshalb gesund gemacht. Andererseits hat der jüdische Arzt sicher gewußt, daß ihn die Deutschen demnächst ohnehin umbringen. Aber niemand kann wissen, wozu man sich zwingen läßt, um ein paar Wochen länger am Leben zu sein. Auch wenn das ein Leben hinter Stacheldraht, in Dreck und Hunger ist. [Ebd., S. 196–197]
Von der Knappheit der Nahrungsmittel im Hinterland, für die man Lebensmittelkarten benötigte, aber auch von der Sehnsucht nach dem im Krieg kämpfenden Vater erzählt ebenfalls die autobiographische Geschichte Als die Väter weg waren aus dem Sammelband Eine mächtige Liebe. Die Gestalt des Vaters wird durch seine Abwesenheit in der Phantasie der adoleszenden Protagonistin stark idealisiert. Heimlich meint die Tochter die Oberhand über ihre Mutter deswegen zu haben, weil sie sich besser als die Mutter an den fehlenden Vater erinnern konnte:
Ich ging oft in das kleine Kammerl. Ich setzte mich auf den grünen, zerschlissenen Diwan und kramte in dem alten Kasten. […] Ich betrachtete die Fotos im gelben Pappumschlag. Auf jedem Foto war mein Vater. Ich war starr vor Glück, so einen schönen Vater zu haben. […] Meine Mutter sagte oft: ‚Die Christel, die kann sich an den Vater gar nicht erinnern! So lange ist er schon weg!‘ Da irrte sich meine Mutter. Ich erinnerte mich sehr gut an meinen Vater. An die vielen schwarzen Haare auf seinem Kopf, und an meine Hand, die sich an den Haaren festhielt. An seine Haut, die viel dunkler und wärmer war als die der meisten Leute. An seine langen, dünnen Finger und die Zigaretten dazwischen und die blaue Schachtel NIL daneben. [Ebd., S. 188–189]

Zusammenfassung


Dass Christine Nöstlinger in der Entwicklung der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur einen hervorragenden Platz einnimmt, braucht nicht begründet zu werden. Kaum eine andere Autorin ist so vielfach pädagogisch, ideologisch und politisch interpretiert worden wie sie. Unter den österreichischen Kinderbuchautorinnen und –autoren wurde sie am meisten zu Selbstinterpretation herausgefordert. In ihrer Rede an der Frankfurter Universität (1992) gibt Ch. Nöstlinger selbst einen knappen Überblick über ihren literarischen Werdegang, den ich an dieser Stelle zitieren werde:
[…] was man von uns über erwachsene Menschen sagen kann, das gilt auch für Kinder, sagte ich mir. Man mußte statt „Menschheit“ nur „Kindheit“ sagen, statt „unterdrückte Klasse“ bloß Kinder, aber auch bei Kindern bestimmt das Sein das Bewusstsein, und um zu einem besseren, gerechteren Leben zu kommen, hatten sie sich ihrer Haut zu wehren und Widerstand zu leisten, gegen alle Obrigkeiten, welche sie stutzen und biegen, verformen, erziehen und in Abhängigkeit halten wollten und infamerweise noch forderten, daß die Opfer einsehen mögen, dies alles geschehe zu deren Besten! Kurz und gut: Die Kinder hatten sich zu emanzipieren!“ (zit. nach Nöstlinger 1996, 104) [Vgl.: E. Seibert, 2005, S. 325]


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