In den Fängen der GPU
Von Moulin wußten wir nichts, zu den Besprechungen war er nicht mehr erschienen. Wahrscheinlich hielt er sich irgendwo verborgen. Nur am Abend steckten wir die Nase hinaus, verließen aber nie das Hafenviertel. Da hinein wagte sich die Polizei nämlich selten, und wenn, dann nur in größeren Abteilungen.
Überzeugt, daß der revolutionäre Schwung der spanischen Arbeiter und Bauern gebrochen war und der Bürgerkrieg mehr und mehr zu einem seichten Abklatsch imperialistischer Gegensätze geriet, überlegten wir uns, ob es nicht besser sei, Spanien zu verlassen. Wir wollten nicht unbedingt von der russischen Geheimpolizei entführt und dann als unbekannte Opfer aufgefunden werden. Auch Wolf, der jetzt unserer Einschätzung beipflichtete, hielt es für ratsamer, dem Land Valet zu sagen, bevor es zu spät war. Die Tatsache, daß wir dreimal von der Polizei aufgesucht und verhört und freigelassen worden waren, bewies uns, daß wir von den spanischen Behörden nichts zu befürchten hatten. Aller Existenzmöglichkeiten bar, konnten wir in dem kleinen Zimmer der Wolfs nicht bleiben, ohne auch sie in Gefahr zu bringen. Auch ihnen gingen die Mittel aus. Von verschiedenen Seiten hatte man uns gewarnt, die stalinistischen Agenten suchten eifrig nach dem Verfasser der Broschüre «Für die Arbeiterrevolution in Spanien»; früher oder später mußten sie das Pseudonym durchschauen. Die Angabe des Erscheinungsorts «Dynamo-Verlag» Zürich im Impressum erleichterte ihnen ihre Nachforschungen erheblich.
Wenn bei den spanischen Behörden nichts gegen uns vorlag, mußte eine legale Ausreise möglich sein. Dank ihres Pumpgenies beschaffte uns Margot das Geld für die Schiffsreise. Da sich überall im spanischen Polizei- und Staatsapparat die GPU-Agenten eingenistet hatten, ergriffen wir einige Vorsichtsmaßregeln. Schön aufgeputzt, von Wolfs Frau kunstgerecht geschminkt, das Haar prächtig frisiert, ging Clara die Ausreisepapiere besorgen. Es klappte.
Auf einem französischen Dampfer, der in vier Tagen nach Marseille abgehen sollte, belegten wir zwei Plätze. Bewegter Abschied von Wolf und seiner Frau; dann schleppten wir unser Gepäck in den Hafen. Die Hafenbehörden visitierten anstandslos unsere Pässe, die Zollbeamten fanden nichts, weil wir nichts zu verbergen hatten. Vor uns lag das Schiff. Neben der Passerelle, auf der sich schon die Passagiere drängten, prüften zwei Zivilisten an einem Tischchen nochmals die Papiere. Sie verglichen jeden Namen mit ihren auf dem Tisch festgeklemmten Listen. Als die Reihe an uns kam, tuschelten die zwei miteinander. Der eine der Männer entfernte sich. Wir mußten warten. Wenig später kehrte der Mann mit bewaffneten Guardias de Asalto zurück, die uns umringten. Laut und heftig protestierten wir. «Regen Sie sich nicht auf, es handelt sich nur um eine Formalität.
Sie müssen schnell mit uns auf das Kommissariat kommen. Ihr Gepäck dürfen Sie ruhig hierlassen, Sie können das Schiff noch nehmen», versuchte einer der Agenten uns zu beruhigen. Wir glaubten ihm kein Wort und verlangten, sofort an Bord gelassen zu werden. Vier Bewaffnete hinderten uns am Betreten der Schiffstreppe, wir wehrten uns, im Strom der Passagiere entstand ein Gedränge. Clara erwischte zufällig den ihr bekannten französischen Vizekonsul am Ärmel, der Landsleute auf das Schiff begleitete, und schrie ihm ins Ohr: «Melden Sie den ausländischen Behörden, daß man uns verhaftet, wir sind die Schweizer Journalisten Thalmann ...» Trotz unseres Widerstandes zogen und zerrten uns die Agenten in einen heranrollenden Wagen und fuhren mit uns davon.
Puerta del Angel
Vor einem großen Gebäude unweit des Hafens wurden wir ausgeladen und durch einen Korridor auf eine Terrasse im Hinterhof geführt. Dort marschierte rauchend und leise flüsternd ein Dutzend Leute umher. Mit Erstaunen und gemischter Freude erkannten wir Michel Michaelis und eine Anzahl seiner Kameraden aus Pina. «Ah, seid ihr auch angekommen», begrüßte uns Michaelis lakonisch. «Wer hat denn euch und uns verhaftet?» fragten wir zurück. «Die Russen, die GPU, wir sitzen hier schon seit acht Tagen ohne Verhör. Es sind mindestens dreihundert Gefangene im Haus, wir haben noch kaum die Hälfte gesehen. Jeden Tag lassen sie uns eine Stunde auf die Terrasse. Wenn uns die FAI nicht herausholt, kommen wir nie frei.» «Was ist das hier für ein Haus?» «Es heißt ‹Puerta del Angel› (Tor der Engel) und gehörte einem spanischen Grafen.»
Clara und ich schauten uns an; sie hatten uns also erwischt. Uns blieb keine Zeit, die Situation zu überdenken; denn schon kam ein breiter, gedrungener Mann mit einer zerquetschten Boxernase im Gesicht und forderte Clara auf, ihm zu folgen. Obwohl er sich bemühte, korrekt Spanisch zu sprechen, war der russische Akzent unverkennbar. Michel, den ich fragte, bestätigte mir, daß nach Aussagen aller Gefangenen der «Boxer» der leitende Agent sei. Knapp eine Viertelstunde später kehrte Clara in Begleitung des «Boxers» zurück. Höflich öffnete er Clara die Tür und ließ sie zuerst auf die Terrasse hinaustreten. So konnte sie mir mit unbewegter Miene rasch zuflüstern: «Broschüre - nein!» Die Reihe war an mir. Hinter einem langen Tisch saßen fünf Männer, die mich schweigend fixierten. Ein noch junger, hochgewadisener Mann, ragende Stirn, beginnender Kahlkopf, gut geschnittenes Gesicht, führte den Vorsitz. Er leitete das Verhör in deutscher Sprache und war zweifellos deutscher Abstammung. «Kennen Sie einen Franz Heller?»
«Bevor ich Ihnen antworte, möchte ich wissen, vor welcher Behörde ich stehe», antwortete ich ihm.
Er wurde nervös; der «Boxer», der neben ihm saß, tuschelte ihm etwas ins Ohr.
«Sie stehen vor einem spanischen Gericht, wir haben das Recht, verdächtige Elemente zu verhören.» «Spanisches Gericht», höhnte ich, «Sie sind doch Deutscher, neben Ihnen sitzt ein Russe, und die anderen sehen genauso spanisch aus wie Sie!»
Da liefen die Köpfe blutrot an, der Vorsitzende schlug auf den Tisch, brüllte wütend: «Ihre Frechheit wird Ihnen wenig helfen, Herr Thalmann, wir werden herausfinden, was Sie in Spanien treiben.» «Vor einem ordentlichen spanischen Gericht bin ich bereit, auszusagen, vor einem kommunistischen Parteigericht habe ich keine Erklärungen abzugeben.»
«Wir können die Verhandlungen auch auf Spanisch führen, ich wiederhole Ihnen, daß wir hier das spanische Volk vertreten.» «Das ändert gar nichts, wir sind Schweizer Journalisten und verlangen unsere sofortige Freilassung.» «Was denken Sie über die Volksfront?» erkundigte sich der «Boxer» plötzlich.
«Darüber habe ich meine eigene Meinung, die ich vor jedem spanischen Gericht vertrete.” «Sie sind Trotzkist?» fragte der Vorsitzende.
«Ich bin Journalist und protestiere gegen unsere unrechtmäßige Verhaftung.» Nach kurzer, im Flüsterton geführter Unterhaltung geleitete mich der «Boxer» auf die Terrasse zurück. Clara befand sich dort allein. Sie war in ähnlicher Weise verhört worden, hatte protestiert und nach dem Konsul unseres Landes verlangt. Es blieb uns wenig Zeit zur Unterhaltung, zwei Wächter kamen, uns zu holen. Sie führten uns durch einen Saal, welcher der Wachmannschaft als Schlafraum diente. Im Hintergrund des Saales öffneten sie eine Tür. Wir traten in ein geräumiges Zimmer, unsere «Zelle». Die Tür zum Schlafsaal der Wachen blieb unverschlossen.
Als «Zelle» war das Zimmer groß und komfortabel. Ein breites Bett, zwei Stühle und ein Tisch sowie eine alte, schön geschnittene Kommode bildeten das Mobiliar. Die hohen Fenster an beiden Seitenwänden waren bis in Kopfhöhe mit einem Gitter verziert. Rechts konnte man ein kleines Stück der Terrasse und der Treppe in die unteren Räume sehen; links führte das Fenster auf einen Lichtschacht, aus dem zuweilen Stimmengewirr heraufdrang. Lehnten wir uns weit genug hinaus, so erblickten wir links unter unserem Fenster einen Teil einer Gemeinschaftszelle, in der sich schätzungsweise zwanzig Personen aufhielten. Die Spanier nennen diese Art Haft «Comunicado»: Man lebt gemeinsam in einer großen Zelle, darf lesen und schreiben, Post erhalten, wer über Geld verfügt, kann sich Eß- und Tabakwaren kommen lassen. Auch Besuche der Angehörigen sind erlaubt. «Incomunicado» ist Einzelhaft, der Gefangene lebt von der Außenwelt abgeschnitten. Neben dem Fenster an der linken Wand ragte ein Erker in das Zimmer hinein. In zwei Meter Höhe befand sich ein kleines Fenster mit bleigefaßtem Buntglas. Neugierig kletterten wir auf die Fensterbrüstung, um durch das Erkerfenster zu gucken. Es ließ sich leicht öffnen und gab den Blick frei in eine kleine Hauskapelle mit Altar und einem Dutzend Betstühlen.
Wo zum Teufel waren wir nur? Was war das für ein merkwürdiges Haus? Clara, neugierig, öffnete die Schubladen der alten Kommode und kramte darin herum. Außer einem alten, zerschlissenen Exemplar des Don Quijote in spanischer Sprache fand sie ein Stück feinsten Seidentuches, das wahrscheinlich in der Hauskapelle als Altartuch gedient hatte. Daraus zogen wir den Schluß, im Zimmer des ehemaligen Hauskaplans zu logieren. Abends um sieben Uhr brachte man uns das Essen, eine dicke Reissuppe mit einem großen Stück Brot. Zahllose Fragen bedrängten uns. Warum lassen sie uns zusammen in einem fast feudalen Gemach mit Bett? Wie sollen wir uns verhalten? Was wissen sie über unsere Einstellung und Tätigkeit? Wer sitzt noch in Haft außer den Bekannten, die wir auf der Terrasse getroffen hatten?
Wahrscheinlich wußte die kommunistische Polizei über unsere politische Aktivität nichts Genaues; unsere Papiere waren in jeder Hinsicht einwandfrei, man hatte in unseren Effekten nichts Verdächtiges entdeckt. Also tappte diese Polizei wohl noch im dunkeln und wollte keinen Fehler begehen, bis sie Gewißheit hatte.
Lange besprachen wir das Problem einer voraussichtlichen Trennung. Wir einigten uns, sie gegebenenfalls mit einem Hungerstreik zu beantworten. Bei weiteren Verhören wollten wir jede Auskunft über uns und unsere Bekannten verweigern und unentwegt protestieren. In den nächsten zwei Tagen ließen sie uns in Ruhe. Wir hatten Muße, uns mit den Gewohnheiten des «Hauses» bekannt zu machen. Am Morgen durfte man nach unten gehen und eine Toilette benützen, die dauernd verstopft war und einen fürchterlichen Gestank verbreitete. Im unteren Raum gab es auch Milchkaffee und Brötchen für die Zahlungskräftigen. Dabei konnte man mit anderen Gefangenen sprechen, obwohl das im Prinzip verboten war, doch drückten die spanischen Wachen gern ein Auge zu. Unter den Gefangenen waren alle Nationen und politischen Richtungen vertreten - Spanier, Deutsche, Franzosen, Engländer, Belgier, Jugoslawen, Italiener, Polen. Sie gehörten entweder zur POUM, zu anarchistischen Organisationen, zur spanischen Sozialistischen Partei oder zu den italienischen Maximalisten, deren Führer Pietro Nennt war. Es befanden sich auch waschechte Stalinisten darunter, die dauernd ihre Treue zum großen Führer beteuerten. Mit einem Exemplar dieser Gattung sollten wir auf merkwürdige Weise Bekanntschaft machen. Aus dem Lichtschacht tönten eines Tages deutsche revolutionäre Lieder herauf. Sehen konnte man den wackeren Sänger nicht. Als er eine Pause einlegte, rief ich hinab:
«Hallo, Sänger, bist du Deutscher?»
«Ich bin deutscher Kommunist, hoch lebe Stalin.» «Nanu, wieso bist du denn hier, was hast du ausgefressen?»
«Gar nichts, eine pure Gemeinheit fraktioneller Elemente. Ich komme bald raus. Diese Schweine haben mich hier in die Zelle neben der verfluchten Scheiße gesteckt, ich ersticke beinahe. Und trotzdem werden wir siegen, mit Stalin an der Spitze.»
Seine Hochrufe auf Stalin entbehrten an diesem Ort nicht der Komik, waren aber nicht nach dem Geschmack mancher anderer Gefangenen. Von verschiedenen Seiten tönte es in den Schacht hinunter: «Halt die Schnauze, du Idiot!»
Jeden Nachmittag durften wir eine halbe Stunde auf die Terrasse und trafen dort mit anderen Gefangenen zusammen. Vor der Tür räkelte sich jeweils eine schläfrige Wache. Auf einem dieser Spaziergänge unterrichtete uns Michel, er sei mit vierzig Kameraden in der Garage eingeschlossen. Ohne Strohsäcke oder Decken schliefen sie auf dem nackten Zementboden. Ein belgischer Sozialist mit einer schweren Beinwunde, der bisher trotz aller Proteste ohne ärztlichen Beistand geblieben war, erschwerte ihnen ihr Los durch seine Fieberfantasien. Ein Teil seiner Gefährten sei entschlossen, in den Hungerstreik zu treten, sofern ihre Lage nicht geändert werde. Weder in der überfüllten Garage noch in den anderen Zellen gab es einen einzigen Faschisten oder Monarchisten, sämtliche Gefangenen waren Antifaschisten aller Richtungen.
In der dritten Nacht holten sie Clara zum Verhör. Ziemlich erschöpft kam sie nach zwei Stunden zurück; bevor sie mir etwas erzählen konnte, wurde ich weggeführt. Dieselben «Beamten» empfingen mich, wollten wissen, was wir während der Maitage getrieben hätten, fragten nach Moulin, nach anderen Bekannten, versuchten, mir politische Bekenntnisse abzulisten. Die Komödie dauerte über eine Stunde, dann führte mich die Wache zurück.
So vorteilhaft unser Zimmer mit dem zweischläfrigen Bett war, es hatte den Nachteil, Hinterzimmer zu sein. Wenn wir auf die Toilette, zum Waschen oder zum Morgenkaffee gehen wollten, mußten wir jedesmal an die Tür klopfen und den Schlafraum der Wachmannschaft durchqueren, was bei den dösenden Wachsoldaten stets einen Entrüstungssturm auslöste. Für diese Störungen hatte ich schon einige Fußtritte und Kolbenschläge erhalten, aber an eine Frau wagten sie sich nicht heran.
Drei Nächte hintereinander gab es Fliegeralarm; das Licht ging aus, Schüsse krachten, Gefangene sangen, Frauen kreischten. Das Wachkommando brachte sich in Sicherheit. Bis Sirenen das Ende anzeigten, herrschte ein heilloses Durcheinander. Ein komischer Zwischenfall bewirkte eine seltsame Veränderung unserer Haftbedingungen. Auch wenn wir die dicke Reissuppe, die wir täglich löffelten, herzlich verachteten, so war sie doch die einzige feste Nahrung. Was wir an wenigem Geld noch besaßen, verwendeten wir für Kaffee und Zigaretten. Eines Abends kam unsere Suppe nicht wie gewöhnlich um sieben Uhr. Wir warteten. Vergeblich. Schließlich verlor Clara die Geduld, stieß die Tür zum Wachraum auf und legte den Wachsoldaten eine Skandalszene hin. Sie warf ihnen spanische Flüche an den Kopf, stieß sie zur Seite, sprang auf die Terrasse hinaus und schrie laut nach dem Chef. Von allen Seiten liefen die Wachen herbei, fragten, wollten sie beruhigen. Schließlich erschien irgendein spanischer Beamter, den wir noch nie gesehen hatten, erkundigte und entschuldigte sich mit dem Versprechen, sofort für Essen zu sorgen. Gespannt harrten wir der Dinge. Um elf Uhr nachts tauchte ein befrackter Kellner auf und tischte uns ein feudales Abendessen auf: Fleisch, Gemüse, Obst und Wein. Derselbe spanische Beamte begleitete den Kellner und entschuldigte sich nochmals für das Versehen. Wir fielen aus allen Wolken.
«Wir haben kein Geld, um dieses Essen zu bezahlen», erklärten wir sofort.
«Sorgen Sie sich nicht darum, das geht auf unsere Kosten.» Wir schmausten wie die Könige, unterbrachen aber unsere Mahlzeit öfters und lachten laut hinaus. Es kam noch besser. Tags darauf, punkt zwölf Uhr, trat der Kellner in Begleitung eines Agenten abermals auf und servierte schweigend ein herrliches Mittagessen. Wir vertilgten es mit Appetit, fragten uns jedoch verwundert nach dem Wieso, und ob es wohl auch wieder ein solches Souper geben werde? Und siehe, das Tischleindeckdich kam nun jeden Tag zweimal zu uns, solange wir im Zimmer des Hauskaplans lebten. Zum Überfluß brachte man uns auch noch die dicke Reissuppe, die wir souverän ignorierten.
Mit dieser unerwarteten Verpflegung aus dem Hotel nahm es noch eine andere kuriose Wendung. Als wir aus dem Erkerfenster der Hauskapelle eines Nachmittags Stimmen hörten, kletterte ich auf das Fenstergitter und sah in der Kapelle sechs Leute auf Strohsäcken herumliegen. Ich erkannte unter ihnen Fred Hünen, Egon Korsch und einige andere Milizionäre, mit denen wir in der Hundertschaft von Michaelis zusammengewesen waren. Auf meinen Anruf hin stieg Fred auf die Lehne eines Betstuhls, um mit mir zu reden.
«Warum seid ihr hier untergebracht?» fragte ich ihn. «Wir sind seit gestern im Hungerstreik, darum hat man uns von den anderen in der Garage getrennt und uns hierher verlegt.» Rasch erklärte ich ihm, Clara und ich hätten massenhaft zu futtern, wir könnten sie glatt heimlich verpflegen. Lachend akzeptierten sie. Jeden Mittag und Abend steckten wir den «Hungerstreiklern» die besten Bissen unserer Mahlzeiten zu. Die groteske Situation amüsierte uns köstlich: Stoisch verweigerten die sechs die Reissuppe und labten sich dann am guten, von der GPU finanzierten Essen. Die Komödie dauerte allerdings nur vier Tage, dann wurden die Insassen der Hauskapelle disloziert. Gerüchtweise verlautete, sie seien nach Valencia gekommen. Eines Nachts holte man mich zum Verhör. Der deutsche Vorsitzende begrüßte mich grinsend mit den Worten: «Trotz Alledem, Herr Thalmann.»
Er gab mir damit zu verstehen, daß er genau über mich Bescheid wußte - «Trotz Alledem» war ja der Titel der monatlichen Zeitschrift der Schweizer Trotzkisten, an deren Schaffung ich mitgeholfen hatte.
«Sie waren drei Jahre in Rußland, nicht wahr?» bohrte er. Ich gab keine Antwort.
«Sie kennen doch den Herrn Nelz in Zürich. Sie sind auch der Verfasser der trotzkistischen Broschüre ‹Für eine Arbeiterrevolution in Spaniern›, die hier verteilt wurde. Sie sehen, wir sind gut orientiert. Ihr Leugnen und auch Ihr Schweigen nützt Ihnen nichts mehr.» «Ich habe nichts zu erklären, vor diesem Forum verweigere ich jede Aussage.» Sie führten mich ab. Ich war kaum drei Minuten bei Clara, da drangen drei Agenten ins Zimmer und schleppten sie trotz unseres Widerstandes hinaus. Daraufhin trat ich gemäß unserer Verabredung in den Hungerstreik.
Von anderen Gefangenen erfuhr ich, Clara sei im vierten Stock in einem Einzelzimmer eingesperrt. Auch sie war sofort in den Hungerstreik getreten. Außer Wasser nahm ich nichts zu mir, rauchte weniger. Die ersten zwei Tage waren verhältnismäßig leicht; erst am dritten Tag begann der Hunger, quälend zu werden. Die GPU, von unserem Hungerstreik unterrichtet, versorgte mich noch immer mit dem herrlichen Essen aus dem Restaurant. Mittags und abends zur gewohnten Stunde kam der schweigende Kellner und deckte unter den wachsamen Augen des Wächters den Tisch. Wie die Katze den heißen Brei, umwanderte ich den Tisch, schnupperte die dampfende Suppe und den Fleischgeruch. Mit Mühe bezwang ich mich, nicht von den köstlichen Birnen und Weintrauben zu naschen. Auch die Reissuppe erhielt ich täglich zweimal. Dem Kalfaktor, der sie brachte, versuchte ich einen Zettel für Clara mitzugeben, aber er verweigerte sich. Dafür steckte er mir am anderen Tag einen Zettel von Clara zu; sie schrieb: «Im Hungerstreik, es geht gut, ich machte die Bekanntschaft von Sundelewitsch.» Der Name sagte mir nichts. Die folgenden Tage vergingen wie im Rausch, Schwindelanfälle stellten sich ein, die meiste Zeit verdöste ich auf dem Bett. Der Reissuppenträger, den Clara offenbar gut bearbeitet hatte, überreichte mir von ihr gedrehte Zigaretten, die ich aufwickelte, um ihre Botschaften zu lesen. Sie war schwach, jedoch guten Mutes.
Eines Tages, während ich auf dem Bette döste, drangen deutsche Laute aus der Gemeinschaftszelle herauf. Ich fragte am Fenster nach unten: «Sind Deutsche da?»
«Ja, hier ist Stautz, ich bin Journalist», tönte es als Antwort. Ich nannte meinen Namen, da wir uns flüchtig kannten. «Bist du der einzige Deutsche und warum bist du verhaftet?» «Die Verhaftung muß ein Irrtum sein, mit mir ist noch der Journalist Wolf verhaftet.»
Ich erschrak. Wolf, Trotzkis Sekretär aus Norwegen! Hatte die GPU seine Identität bereits aufgedeckt?
Um mir Gewißheit zu verschaffen, stieg ich etwas später zur Toilette hinunter. Durch ein kleines Fenster konnte ich im Vorbeigehen einen Teil der Gemeinschaftszelle überblicken. Ich sah Wolf unruhig hin und her wandern, machte ihm ein Zeichen. Er kam ans Fenster, und ich flüsterte ihm zu: «Achtung, wir sind in einem GPU-Gefängnis, in einer Stunde komme ich wieder runter.»
Er nickte mir zu. In meinem Zimmer kritzelte ich mit Bleistift auf einen Fetzen Papier die Worte: «Achtgeben, casus belli deine Frau mit Paß ausgestellt in H.»
Trotzki befand sich zu dieser Zeit in dem kleinen norwegischen Ort Hönefoss, und das wußte die GPU. Der Paß von Wolfs Frau war in Hönefoss ausgestellt, wie ich gesehen hatte. Wies sie ihren Paß vor, um nach ihrem Mann zu fragen, mußte es für die GPU ein Kinderspiel sein, die Idendität Wolfs zu enthüllen. Trotzdem die Wachen im Vorzimmer maulten und mir einige Fußtritte versetzten, ging ich nach einer Stunde wieder hinunter und konnte Wolf meinen Zettel zustecken.
Fünf Minuten später stürzte ein Wachsoldat zu mir ins Zimmer und schrie mir in größter Aufregung auf Spanisch zu: «Sie haben einem Gefangenen einen Zettel zugesteckt, das wird böse Folgen für Sie haben!»
Ich spielte den Sprachunkundigen, zuckte die Achseln. Was werden sie nun unternehmen? Was wird mit Wolf geschehen? Ich fand keinen Schlaf.
Wir standen nun schon zehn Tage im Hungerstreik. Den spärlichen Mitteilungen des Kalfaktors zufolge war Clara sehr schwach und verschiedentlich zu nächtlichen Verhören geholt worden. Der Mann verspürte einen stillen Respekt für sie, in den sich viel Mitleid mischte. Jedenfalls hatte Clara ihn herumgekriegt, daß er mir unter dem Teller der Reissuppe täglich eine Botschaft von ihr brachte. Auf diesem Wege unterrichtete ich Clara über den Zwischenfall mit Wolf, damit man sie in einem Verhör nicht überrumpeln konnte. Um ein Uhr nachts holten sie mich. Der «Boxer» war diesmal nicht zugegen. Höhnisch lachte der Vorsitzende: «Nun, Herr Thalmann, wollen Sie noch immer nicht reden?»
Ich gab keine Antwort.
«Sie können Ihren Hungerstreik noch lange fortsetzen, uns kümmert das wenig, wir haben Geduld.»
Aus der Tischschublade zog er ein längliches Glasstück heraus, auf dem mein Zettel an Wolf aufgeklebt war. Der Agent hatte versucht, das stark zerknüllte und nasse Stück Papier glattzustreichen. «Sie haben einem Gefangenen einen Kassiber zugesteckt. Sie geben zu, daß das Ihre Handschrift ist? Wer ist die Frau mit dem Pandurengestell?»
Ich wäre beinahe vom Stuhl gefallen. Frau mit Pandurengestell? Was meinte er wohl damit?
Da ich beharrlich schwieg, ließ er mich abtreten. Auf dem Zimmer grübelte ich über die «Frau mit dem Pandurengestell» nach. Mein Papier war naß und zerknittert gewesen; also hatte Wolf es wohl rasch in die Klosettschüssel geworfen, wo es einer der Agenten herausfischte. Meine schlechte Schrift und das Wasser mußten den Zetteltext unleserlich gemacht haben. Plötzlich kam mir die Erleuchtung: Er hatte «Frau mit Paß ausgestellt in H.» als «Frau mit Pandurengestell» entschlüsselt und witterte dahinter nun irgendein Pseudonym. Da könnt ihr noch lange suchen, freute ich mich.
Als ich am Morgen zur Toilette hinunterstieg, fragte ich nach den zwei deutschen Journalisten. Sie seien alle beide heute früh entlassen worden, versicherten mir die Insassen der Gemeinschaftszelle. Was steckte dahinter? Hatten sie Wolf nicht erkannt oder ihn nur freigelassen, um ihn zu beobachten? Fragen ohne Antworten ... Trotz des Hungerstreiks ließ man uns - aber mich nie mit Clara zusammen - eine halbe Stunde auf die Terrasse. Während meines Spaziergangs am Tage von Wolfs Entlassung entstand Lärm im Flur. Die Tür zur Terrasse wurde aufgerissen, und ich sah Michel Michaelis, der sich mit einem Wachsoldaten herumzankte. Er wurde auf die Terrasse geschickt. Unter der Wachmannschaft war große Aufregung zu spüren, sie liefen wie aufgeschreckte Hühner umher, einige kamen an die Tür, um Michel wie ein Wundertier zu bestaunen. «Was ist los?», fragte ich ihn.
«Ich bin ausgerückt und freiwillig wieder zurückgekommen, der wachhabende Trottel will das nicht wahrhaben.» «Freiwillig zurückgekommen?» meinte ich ungläubig.
«Gewiß, letzte Nacht vergaß die Wache, das Tor zur Garage abzuschließen, wir hätten alle abhauen können. Wir stritten uns die halbe Nacht, was wir tun sollen. Falls wir alle ausflögen, befürchteten wir, daß die GPU gegen die zurückbleibenden Kameraden mit Repressalien vorgehen würde. Schließlich einigten wir uns, ich sollte allein verduften, das Nationalkomitee der FAI über das hier bestehende Privatgefängnis ins Bild setzen und dann wieder zurückkommen. Ich war bei der FAI, sie sind dort jetzt orientiert über die Puerta del Angel und werden uns herausholen. Nach meiner Rückkehr bin ich einfach zum Haupteingang hineinspaziert, und nun wollen mir die Burschen das nicht abnehmen.»
Das war ganz Michel - unbedingte Solidarität und grenzenloses Vertrauen in seine Anarchisten, verbunden mit unglaublicher Naivität und totaler Verkennung der Lage. Wenige Minuten später holten sie ihn.
Ich war entschlossen, den Hungerstreik abzubrechen. Je länger er dauerte, desto fester wurde meine Überzeugung, daß er zu keinem Resultat führen werde. Hungerstreik, weil man im Gefängnis nicht mit seiner Frau Zusammensein kann, war kein geeignetes Kampfobjekt. Außerdem wußte kein Mensch außerhalb des Gefängnisses um unsere Aktion, sie konnte kein Echo finden. Das waren die politischen Erwägungen, doch dürften die große körperliche Schwäche und die Sorge um Clara mitgespielt haben. Dem Reissuppenträger, der täglich erschien, gab ich einen Zettel an Clara mit, des Inhalts, sie möge gleichzeitig mit mir den Hungerstreik abbrechen. Ihre Antwort kam am nächsten Tag: «Kann weitermachen, bin aber einverstanden.» Langsam begann ich, Nahrung zu mir zu nehmen, die dauernden Schwindelanfälle wurden weniger, und drei Tage später konnte ich normal essen. Gleich nach der Beendigung des Streiks war auch die Speisung aus dem Restaurant ausgeblieben, die Reissuppe wurde wieder die Regel.
Die fünfte Woche unserer Haft brach an. Der stalinistische Sänger hatte sich noch ein paarmal bemerkbar gemacht und dann einen Hungerstreik angekündigt. Täglich erkundigte ich mich bei ihm, wie er ihn durchstehe. Nach drei Tagen kapitulierte er. Übrigens verschwand er einige Tage darauf; gesehen habe ich diesen Mitgefangenen nie.
Mehrere Tage lang führten sämtliche Gefangenen einen gemeinsamen Kampf gegen die Wachmannschaften. Die Wachsoldaten amüsierten sich in ihrer Freizeit auf verschiedenen Musikinstrumenten. Sie hatten in dem ehemaligen gräflichen Haus ein altes Klavier entdeckt und hämmerten nun scheußlich darauf herum, brachten es aber nicht bis zur einfachsten Tonleiter. Das dauerte stundenlang, das ewige Geklimper ging schrecklich auf die Nerven, rief überall Protest hervor. Noch schlimmer wurde es, als ein krächzender Phonograph alle möglichen Schlager quäkte. Wohl aus Unkenntnis spielten die spanischen Wachen eine Platte ab mit dem - Horst-Wessel-Lied! Das führte zur allgemeinen Rebellion. Mit Fäusten und Stühlen und allen harten Gegenständen hämmerten wir Gefangene an die Türen, die Wände, gegen den Fußboden, viele stimmten die Internationale an, bis die Wachen herbeieilten. Es kam zu Verhandlungen, man mußte ihnen erklären, wenn man uns schon ins Gefängnis sperre, könnten wir es nicht dulden, auch noch mit faschistischen Liedern gefüttert zu werden. Sie gaben kleinlaut zu, Melodie und Texte dieser Lieder nicht zu kennen. Fort an blieben die Musikanten stumm. Seit dem Verhör nach der Affäre Wolf war ich nicht mehr vernommen worden. Mitte Juli holten sie mich um Mitternacht. Diesmal hieß es, ich solle meinen Koffer packen. Ich weigerte mich entschieden, ohne meine Frau wegzugehen. «Ihre Frau erwartet Sie im Flur, Sie werden beide nach Valencia gebracht», teilte mir einer der Agenten mit. Das war immerhin möglich. Wie Gerüchte im Gefängnis wissen wollten, hatte man nach Michels Abenteuer alle Gefangenen der Garage nach Valencia transportiert. Ich packte meine Habseligkeiten zusammen und trat auf den Korridor. Wirklich, da stand Clara, bleich und mager. Wir umarmten uns. Zwei Soldaten, das Gewehr in der Hand, begleiteten uns. Wir durften nicht miteinander reden, befahlen sie - worum wir uns einen Pfifferling scherten. So marschierten wir zu Fuß zum Bahnhof. Dort warteten wir einige Stunden auf den Zug. Zu unserem Erstaunen wurden wir in ein gewöhnliches Abteil geführt, in welchem schon einige Reisende Platz genommen hatten. Clara und ich saßen einander gegenüber, jedes an seiner Seite einen Soldaten. Die Mitreisenden warfen uns neugierige und mißtrauische Blicke zu. Um ihre Neugierde zu befriedigen, knüpften einige der Fahrgäste ein Gespräch mit den zwei Soldaten an, und bald beteiligte sich das ganze Coupe an der Unterhaltung.
«Die zwei sind Faschisten», behaupteten unsere Zerberusse. Erbost schrie Clara: «Das ist eine Lüge, wir sind Sozialisten, und die GPU hat uns verhaftet, wir haben an der Front mitgekämpft!» Immer mehr Leute mischten sich in die Debatte, unsere naiven Bewacher wußten nicht mehr ein noch aus. Deshalb trennten sie uns schließlich und setzten mich in ein anderes Abteil. Dafür gingen wir jetzt alle zehn Minuten auf die Toilette, wo wir uns gegenseitig Nachrichten hinterließen. Jedesmal begleiteten uns die Soldaten bis vor die Tür und warteten geduldig. Sie waren im Grunde gutmütig, behandelten uns anständig und hatten Mitleid.
Gegen Mittag kamen wir in Valencia an. Unsere Begleiter waren froh, uns an ihre Vorgesetzten abliefern zu können. Im Polizeigebäude ließen sie uns eine Stunde allein in einem Zimmer; dann separierten sie uns, diesmal gab es keinen Ausweg. Nach einer langen Umarmung wurden wir einzeln abgeführt
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