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Kapitel III Österreichische Kinder- und Jugendliteratur nach 1945 bis zur Gegenwart



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Kapitel III

Österreichische Kinder- und Jugendliteratur nach 1945 bis zur Gegenwart


Im folgenden Kapitel wird die vergangene zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur unter die Lupe genommen werden, wobei vor allem die preisgekrönte Prosa der untersuchten Autorinnen und Autoren akzentuiert werden wird.




1. Die Zeit nach 1945 bis in die sechziger Jahre

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges stand die österreichische Kinder- und Jugendliteratur, wie die österreichische Literatur überhaupt, vor einem völlig neuen Anfang. Durch die hermetische Absperrung der Grenze nach Deutschland von den Alliierten waren alle Verbindungen abgebrochen. Man war auf die Eigeninitiative und auf das Papier, das die vier Besatzungsmächte verwalteten und nur spärlich zuteilten, angewiesen. Es erschienen häufig billige Abenteuerhefte, die teilweise als „Schmutz- und Schundliteratur“ abgelehnt wurden, und kitschig aufgemachte kleine Hefte und Bücher, die als „kindgemäße“ Schriften bezeichnet wurden. Von den Autoren, die 1946 ihre Werke veröffentlichten, wurde nur Vera Ferra-Mikura (1923–1997) in den nächsten Jahren zur Klassikerin. Bis in den Anfang der fünfziger Jahre wurde die Produktion weitgehend von der Notlage der Autoren und Verleger bestimmt.


Die Forderung von Heinrich Wolgast (1860–1920) auf Vermittlung von Werten in einer, kindgemäßen‘ Kinder- und Jugendliteratur hatte in den ersten Nachkriegsjahren zur Folge, dass zuerst die sog. „Jugendbuchklassiker“ neu verlegt wurden, später auch Kleinformen wie Märchen und Sagen.
Im Bereich der realistischen Erzählung stellt Karl Bruckner (1906–1982) mit seinen Büchern Weichen für die weitere Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur. Sein Kinderroman Mein Bruder Ahual (1952) trägt den Untertitel Ein Jugendroman für alle, die einander Brüder sein wollen. Bruckner verbrachte nach dem Ersten Weltkrieg zwei Jahre in Brasilien, im Zweiten Weltkrieg war er in Frankreich, am Balkan und in Polen, wo ihn seine Kameraden zum Schreiben ermunterten. Erster Erfolg kam mit dem Roman Die Spatzenelf – Untertitel Ein lustiger Bubenroman (1949). Mit dem ebenfalls 1949 erschienen Werk Pablo der Indio entdeckt Bruckner den sozialkritischen Roman für die österreichische Kinder- und Jugendliteratur. In diesem Genre wird soziales Elend am Leid der Kinder, die am stärksten betroffen sind, dargestellt. Bruckners im Jahre 1961 erschienener Roman Sadako will leben stellt mit Sicherheit einen Meilenstein in der Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur dar. In diesem Hiroshima-Roman wird in Anbetracht einer internationalen Diskussion Kritik an dem West-Ost-Konflikt der Weltmächte geübt.
Das folgende Zitat aus dem Roman zeigt, wie stark das kranke Mädchen Sadako war, und wie hilflos war der Arzt, der gegen die tödliche Krankheit mit medizinischen Mitteln kämpfte:
Um acht hatte Doktor Owens auf einem Sessel neben dem Krankenlager der Patientin Sasaki Platz genommen… Nie zuvor hatte er so schmerzhaft empfunden, wie ohnmächtig der Arzt gegenüber dem Willen des Todes war. Mit diesem tückischen Tod hatte er wochenlang um das Leben dieser Vierzehnjährigen gerungen. Was war der Erfolg aller von ihm ersonnenen Behandlungsmethoden gewesen? Nur dieser: Das Sterben des Kindes hatte er um Tage verzögern können. Jetzt faltete es den neunhundertneunzigsten Kranich. Es tat dies mit dem letzten Funken seines Willens. Und er mußte untätig zuschauen, wie dieser Wille erlahmte. Tausend Papiervögel brauchte Sadako. Nur mehr zehn fehlten. Denn diesen einen, den ihre kraftlosen Finger zurechtbogen, wird sie noch vollenden. Und wenn das Wunder geschieht, daß sie auch die zehn fehlenden Kraniche fertigbringt, wäre das Gesundung für sie? [K. Bruckner 1961, S. 187]
Die stille Hoffnung der kleinen, vom Strahlentod gezeichneten Sadako auf Überleben-Dürfen wird in Zukunft die in militärischen Siegen denkende Geschichtsschreibung übertönen. Karl Bruckner hat damit als einer der Ersten ein Mahnmal gegen die Atombombe errichtet und vor der Atomkraft gewarnt. [Vgl.: Ellbogen 1997, S. 129]
Karl Bruckner verfolgt in seinem Werk das Ziel, den Widerspruch von individuellem Glück und sozialem Elend zu überbrücken. Er ist stets bemüht, Perspektiven zu weisen. Bruckners soziale Kritik ist keine trostlose Bestandsaufnahme, sondern er prangert an, indem er seine Buchhelden Auswege aus ihrer schlechten Situationen suchen und finden lässt. Sein idealisiertes Weltbild erklärt sich aus dem Bidlungsgedanken, einem Anspruch, den er an seine Werke stellt. Die Figuren müssen sich gewöhnlich gegen eine höhere Macht, gegen überindividuelle Widerstände in einer Bewährungsprobe durchsetzen. Seine Geschichten sind Prüfungsgeschichten, wo die soziale Bewährung des Einzelnen im Vordergrund steht. [Vgl.: Mikulášová 2004, S. 65]
Mira Lobe (1913–1995), aus Görlitz in Schlesien stammende Autorin jüdischer Herkunft, veröffentlicht 1948 ihr in hebräischer Sprache geschriebenes Buch Insu-Pu, die Insel der verlorenen Kinder, wo sie nicht nur die Schwierigkeiten des Miteinander aufzeigt, sondern auch persönlicher Verantwortung das Wort redet. Sie wanderte 1936 nach Palästina aus und kehrte 1950 mit ihrem Ehemann Friedrich Lobe, Schauspieler und Regisseur, nach Europa zurück. Insu-Pu wurde ins Deutsche übersetzt und es wurden weitere Bücher in Auftrag gegeben. 1953 erscheint im Schönbrunn Verlag ihr Buch Der Tiergarten reißt aus. Dieses Buch enthält bereits viele literarische und inhaltliche Elemente, die auch für alle späteren Bücher der Autorin bezeichnend sind: Sprachspiel und Humor, Verbindung von Phantasie und Realität, die Selbstverständlichkeit, mit der Tiere in die Handlung eingebunden werden, ohne ,vermenschlicht‘ zu werden.

Der Tiergarten wurde von einer Grafikerin illustriert, die Mira Lobe bei der Arbeit in der Redaktion einer Kinderzeitschrift kennen gelernt hatte: Susi Weigel (1914–1990). Mit diesem Werk begann die lange Reihe der, Mira-Susi-Bücher‘. Erst in den siebziger und achtziger Jahren kamen auch andere IllustratorInnen dazu: Angelika Kaufmann (geb. 1935), die 2004 den Österreichischen Würdigungspreis für Kinder- und Jugendliteratur erhielt, Christina Oppermann-Dimow (geb. 1947) und Winfried Opgenoorth (geb. 1939).


Eine vollständige chronologische Übersicht der Jugendbuchproduktion in Österreich in den Jahren zwischen 1945 und 1967 bringt H. Hladej in seiner Dissertation Das österreichische Kinder- und Jugendschrifttum nach dem Zweiten Weltkrieg (1968). Schon um 1948 gab es eine ziemlich hohe Kinder- und Jugendbuchproduktion, die dann in den fünfziger Jahren sank und erst in den sechziger Jahren wieder stieg.

Bis in den Anfang der fünfziger Jahre wurde das kinderliterarische Schaffen weitgehend von der Notlage der Autoren und Verleger bestimmt. Man schrieb, um sich etwas ,dazu zuverdienen‘ und die Verlage nahmen, was sich ihnen bot, eine Flut von Namen, die heute völlig vergessen sind. [Vgl.: Doderer 1984, S. 597]


Zur Klassikerin ist Friedl Hofbauer (geb. 1924) geworden, die seit 1960 Erzählungen, Hörspiele, Romane und Lyrik für Erwachsene schrieb. 1962 erschien ihr erstes Kinderbuch. Der literarische Durchbruch erfolgte mit ihren formal und inhaltlich innovativen Kindergedichten. Hofbauers Kinderlyrik ist Lyrik für Kinder im besten Sinne des Wortes, indem sie vom kindlichen Wortschatz und Satzverständnis ausgeht und sich über einen experimentellen Umgang mit Sprache in den Formen und Rhythmen der postmodernen Lyrik nähert. Wie auch in der später geschaffenen Prosa (z. B. im Roman Federball), sind ihre Kindergedichte oft den behinderten Kindern gewidmet:
Auf der Schaukel sitzt ein Kind
Auf der Schaukel sitzt ein Kind.

Es kann nicht gehen, es kann nicht sehen,

es ist lahm und blind.

Es sitzt zum erstenmal auf einer Schaukel.

Aber es hat doch nichts davon, sagen die Leute,

das arme Kind ist lahm und blind!

Warum soll es nicht trotzdem schaukeln?

fragt die Schwester.

Und das Kind

schaukelt und lacht

und ruft ganz aufgeregt:

Ich spür´den Wind!

Ich spür´den Wind!

[F. Hofbauer 1991/92, S. 26]


In ihrem 1964 veröffentlichten Roman Eine Liebe ohne Antwort schildert F. Hofbauer Lebensgefühle Jugendlicher der ersten Nachkriegsgeneration.
Anfang der 60er Jahre, wo die Vergangenheit des Zweiten Weltkrieges noch als unangenehmer Schatten verdrängt werden muss, entstehen erstmals Werke der Autorinnen und Autoren, die die Verbrechen des Nationalsozialismus und die grauenhaften Folgen für die Jugend thematisieren und problematisieren. Im Roman Die toten Engel (1963) von Winfried Bruckner (geb. 1937) wird die präzis geplante Ermordung von Menschen jüdischer Herkunft und die Vernichtung des Warschauer Ghettos im Jahr 1943 aufgezeichnet. Dem Vietnam-Krieg widmete sich W. Bruckner im Roman Aschenschmetterlinge (1967), gerade zu der Zeit, als die Glorifizierung des amerikanischen ‚way of life‘ ins Wanken geriet.

Ein anderes Werk zum Thema Zweiter Weltkrieg – Das Schattennetz (1964) von Käthe Recheis – hat auf die Öffentlichkeit eher zwielichtig gewirkt.


Um die Hälfte der 60er Jahre verlegt Lene Mayer-Skumanz, eine Autorin, die sich durch ihre subtile religiöse Schreibweise von den anderen unterscheidet, ihr Erstlingswerk Ein Engel für Monika (1965). Sie wird auch in den nächsten Jahrzehnten ihr so konzipiertes Werk weiter fortsetzen.
Ende der 60er Jahre, genau 1968, debütierte Barbara Frischmuth (geb. 1941) mit ihrem autobiographisch gefärbten, tagebuchänlichen Werk Die Klosterschule. Obwohl dieses als auch ihr nächstes Werk Amoralische Kinderklapper (1969) nicht im eigentlichen Sinne Kinderbücher sind, sehen sie doch Kindheit in einer Weise, in der die Grenzen zur Erwachsenenliteratur aufgehoben scheinen. [Vgl.: Sollat 1994, S. 26]
Die Klosterschule thematisiert die Auseinandersetzung mit den autoritären Strukturen unserer Gesellschaft. In vierzehn kurzen Kapiteln lässt die Autorin die enge Welt eines katholischen Mädchenpensionats entstehen, seiner Lehrerinnen und ihrer Vorschriften, seiner Schülerinnen und ihrer Wünsche.
Diese Klosterschule hat ihre eigenen Regeln, und das heißt vor allem ihre eigenen Sprachregelungen. Sie sind Ausdruck einer konsequenten Erziehung zur Unfreiheit der Gefühle, des Intellekts und der Sexualität. [B. Frischmuth. Die Klosterschule, Umschlag des Buches, 1978]


2. Siebziger Jahre

Zwischen 1967 und 1976 liegt die Jahresproduktion von Jugendbüchern laut Statistik zwischen 200 und 300 Titeln. Untersucht man die in die Statistik aufgenommenen Titel genau, so zeigt sich, dass rund zwei Drittel davon eher als Kalender, Broschüren oder Hefte zu bezeichnen sind. Die Produktion von Kinder- und Jugendbüchern betrug rund 50 % gegenüber der Erwachsenenliteratur. [Vgl.: Doderer 1984, S. 597]


Obwohl der Anfang der siebziger Jahre vor allem mit dem Schaffen der zwei großen Persönlichkeiten der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur verbunden ist, Christine Nöstlinger und Renate Welsh, ist für den Beginn einer neu konzipierten Kinder- und Jugendliteratur dieses Jahrzehnts in Österreich das Werk einer deutschen Autorin, Ursula Wölfel, (geb. 1922) signifikant. Ihre Geschichtensammlung Die grauen und die grünen Felder, die 1972 mit der Hans-Christian-Andersen-Medaille ausgezeichnet wurde, ist ein Signal für eine neue, problembezogene und sozialkritische Art von Kinderliteratur. Die Geschichten führen die Leser in größtenteils gesellschaftlich verursachte Konfliktsituationen ein; auch Probleme der Dritten Welt, des Kolonialismus und der Ausbeutung werden angesprochen. Weiter handelt es sich um Themen wie Außenseiter, Randgruppen und Vorurteile.
Der folgende Abschnitt ist aus der gleichnamigen Einstiegsgeschichte des Werkes:
Zuerst wohnte die eine Juanita im Dorf am Berg. Ihre Eltern hatten dort ein kleines Haus, das war grau wie die Steine vom Berg. Sie hatten auch zwei Felder, die waren ebenso grau von Staub und Steinen. Alle Felder dort oben sahen so aus. Die Erde war so trocken, daß kaum etwas wachsen konnte, nur ein bißchen Weizen und ein paar kleine Kartoffeln, gerade genug für die Familie […] Dann kochten sie die Bananensuppe mit sehr viel Wasser. Für eine Stunde wurde man satt davon.

Die andere Juanita wohnte unten im Tal in dem schönen Haus hinter der weißen Mauer. […] Ihnen gehörten die grünen Felder im Tal, die Zuckerrohrfelder und der Bananenwald. Auch die vielen Lastwagen und die Zuckerfabrik gehörten ihnen.

Im Tal gab es genug Wasser, da waren die Felder fruchtbar und saftig grün. Alle grünen Felder gehörten diesen Leuten aus dem Haus hinter der Mauer. Vielleicht gehörten ihnen auch die Leute im Dorf? [Vgl.: Wölfel 1972, S. 21–23]
Dieses Buch von einer deutschen Autorin erhielt den Österreichischen Jugendbuchpreis. Die Brisanz der Geschichten aus dem realen Alltag, die ohne Beschönigung kindliche Lebenswelten darstellen, führt zu der Frage, was denn dem heranwachsenden Leser zugemutet werden darf. Kinder- und Jugendliteratur erhebt Anspruch auf Eigenständigkeit ihrer literarischen Gestaltungs- und Darstellungskraft und beginnt, sich Schritt für Schritt einer pädagogischen Bevormundung zu entziehen. Die Hinwendung zur Welt, soziales Lernen, sensibel werden für die Not, die Trauer, aber auch die Freuden anderer, werden zentrale Themen der Kinder- und Jugendliteratur, der Wandel zur allgemein realitäts-, vor allem auch gesellschaftsbezogenen Literatur findet statt. Bisher wurden viele Themen im Sinne der kindlichen sog. ‚heilen Welt’ tabuisiert. Nun werden Beziehungen und Krisen im engeren und weiteren Bereich wie Familie, Schule, peer-group, Außenseiter in der Gruppe, die immer wieder aktuelle Frage der Gewalt, der Verantwortung, Krieg, Dritte Welt, Sexualität, Tod, Behindertsein u. a. als Inhalte literarisch verarbeitet und wollen durch die formale Gestaltung aufrütteln und zum Nachdenken anregen. [Vgl.: Ellbogen 1997, S. 132]
Gleich das erste Werk von Christine Nöstlinger, die 1970 veröffentlichte phantastische Geschichte Die feuerrote Friederike deutet an, dass ab nun in der Kinder- und Jugendliteratur alles anders wird: Die rothaarige Protagonistin könnte Assoziationen mit Pippi Langstrumpf von Astrid Lindgren hervorrufen, ihr Schicksal ist jedoch anders, sie wird von den Mitschülern wegen ihrer roten Haare und ihrer molligen Figur gehasst, physisch attackiert, bis sie mit ihren Freunden und ihrer Tante in ein freundlicheres Land flüchtet. Die Lösung der Geschichte hat also eine eskapistische Funktion.
Beginnend mit Die feuerrote Friederike bringt Nöstlingers umfassendes Werk, auch unter dem Einfluss der 68er Bewegung, neue Aspekte in die Literatur für junge Menschen ein: Eine Hinwendung zum realistischen Alltagsleben der Kinder aus Durchschnittsfamilien, der starke Einbezug der sozialen und psychischen Situationen führt bei Nöstlinger nicht zuletzt auf Grund ihres eigenständigen sprachlichen Stils – eine Verbindung des österreichischen Dialekts wienerischer Prägung mit Versatzstücken einer Jugendsprache – zu treffenden Milieuschilderungen mit starker sozialkritischer Tendenz. Ihre Parteinahme für die Schwächeren und ihre Betonung der Rechte der Kinder wandte sich nicht selten auch gegen herkömmliche Familien- und Schulstrukturen. [Vgl.: Sollat 1994, S. 68]
Auf der Seite der Kinder steht Nöstlinger auch in ihrer anfangs der siebziger Jahre veröffentlichten Kinderlyrik. Ende der 60er Jahre beginnt eine neue kinderliterarische Epoche: die Epoche der Kinderliteratur der zweiten, der sog. Anderen Moderne, als Reaktion auf die Erste Moderne, einer Lyrik der Idylle, der durchweg heiteren, autonomen Kinderwelt oder gar einer unbeschwert komischen Nonsenswelt (z. B. Kinderlyrik von Joseph Guggenmos). Moderne Kindheit, wie sie hier dargestellt wird, ist eingebunden in eine Welt der Hochhaussiedlungen und des Straßenverkehrs, der Konsumangebote und der Werbung. Zu den führenden Autoren der Anderen Moderne gehören Susanne Kilian (geb. 1940), Hans Manz (geb. 1931) und Regina Schwarz (geb. 1951). Das Gedicht Kindsein ist süß? von Susanne Kilian, das unzählige, an das Kind gerichtete Befehle und Ermahnungen der Erwachsenen beinhaltet, dient als Programmgedicht der ganzen Gruppe.

Ch. Nöstlinger fügte sich zur Lyrik der Anderen Moderne mit dem Gedicht Mein Vater hinzu:


Mein Vater
Cola schmeckt wie Wanzengift,

sagt mein Vater

immer nach dem ersten Bier.

Cola ist ein ausländischer Dreck,

sagt mein Vater

immer nach dem zweiten Bier.

Cola frißt den Magen auf,

sagt mein Vater

immer nach dem dritten Bier.

Cola zersetzt das Hirn,

sagt mein Vater

immer nach dem vierten Bier.

Nach dem fünften Bier

sagt er nichts mehr.
Renate Welsh erkannte anfangs der 70er Jahre als eine der ersten Autorinnen die Möglichkeiten einer sozial-kritischen Dichtung. Ihrem Werk liegt ein soziales Engagement zugrunde, es thematisiert Bereiche wie sozial schwächere Menschen, Außenseiterdasein, behinderte Kinder, Eingliederung der Ausländer in die Gesellschaft oder Gewalt in der peer-group. Sie widmet sich den großen politisch-historischen Themen, wie z. B. der Zwischenkriegszeit im Roman Johanna oder der nationalsozialistischen Vergangenheit Österreichs in der Erzählung Kriegslinzertorte (veröffentlicht in den 80er Jahren).
Mira Lobe lässt in ihrem Jugendroman Die Räuberbraut von 1974 ihre Protagonistin, die 13jährige Mathilde, in eine Robin-Hood-Traumwelt flüchten und gegen die Ungerechtigkeit der Welt kämpfen. In Isabella della Ponte verwandelt, gelingt es Mathilde gemeinsam mit dem kühnen Don Diego durch ‚edle Räubertaten‘ den Menschen Hilfe zu bringen und Not zu lindern. Nach dem Motto „Was du nicht willst, das man dir tu, das füge auch nicht andern zu“ werden die Besitzer des Hauses, die den für sie arbeitenden Gastarbeitern nur zwei Quadratmeter Wohnraum zubilligen, verurteilt, selber für ein paar Stunden in zwei Quadratmetern zu leben.

Mathilde (Tilli) lernt immer mehr ihre Nachtträume mit der Realität in Verbindung zu bringen: Sie gründet mit anderen ein „Kollektiv“, das Mitschülern und älteren Menschen hilft; sie engagiert sich für die Umwelt. Ihre nächtlichen Ausritte als Isabella braucht sie nicht mehr:


Ach Alin! Natürlich will ich. Es ist nur alles irgendwie anders geworden, weißt du. Unser Kollektiv…“

Sind das deine neuen grünen Gesellen?“ fragte er.

Ja. Aber sie reiten nicht zu Pferd, sie gehen zu Fuß drei Stockwerke hinauf und schleppen sich ab für alte Leute …” Alin nickte: „Don Diego weiß es. Er sagt, es gibt eine Zeit zum Träumen und eine Zeit zum Handeln.“

Gehört das nicht zusammen, Alin? Ohne Träume möchte ich nicht leben – und ein bißchen Isabella werde ich immer bleiben, auch wenn ich hundert Jahre alt werde. Das sollst du Don Diego ausrichten.“ [M. Lobe 1974, S. 205f.]


Hans-Heino Ewers bezeichnet diesen Roman als „einen Musterfall antiautoritärer bzw. emanzipatorischer Kinder- und Jugendliteratur der frühen 70er Jahre“.


3. Achtziger Jahre

Schon Ende der 70er Jahre wurden in Österreich Bedingungen zur Enttabuisierung einiger bisher verschwiegenen Themenbereiche in der Kinder- und Jugendliteratur geschaffen. Das bisher tabuisierte Thema Sexualität bekommt für die Gattung Mädchenbuch ab nun neue Akzente: Sexualität und den Umgang mit ihr. An dieser Stelle sind zwei Werke von Christine Nöstlinger zu nennen: Der 1975 veröffentlichte Stundenplan und das 1980 erschienene Werk Pfui Spinne.

Diese thematische Öffnung korrespondiert mit der stattfindenden gesellschaftspolitischen Veränderung in Österreich, die auch in der Gesetzgebung niedergeschrieben wird: 1970 wird per Erlass Sexualkunde in die Unterrichtspläne aufgenommen, 1975 wird der Schwangerschaftsabbruch bis zum 3. Monat legalisiert, Koedukation wird endgültig zur Regel schulischer Erziehung und Anfang der 80er Jahre wird Homosexualität unter Erwachsenen straffrei gestellt.

Im erstgenannten Roman Stundenplan wird die Sexualität Jugendlicher im Wesentlichen noch auf theoretischer Ebene erzählend abgehandelt und damit noch Rücksicht auf den pädagogischen Anspruch von Kinder- und Jugendliteratur genommen. In Pfui Spinne schildert Nöstlinger bereits eine konkrete sexuelle Begegnung. [Vgl.: Ellbogen 1997, S. 136–7]


Adoleszente Protagonistinnen der beiden Werke schonen das Aussehen ihrer Mütter nicht vor scharfer Kritik, man spürt sogar eine tiefe Abneigung und ostentative Gefühlskälte. Es handelt sich nicht gerade um harmonische Beziehungen zwischen der Mutter und der Tochter, wie der Abschnitt aus dem Stundenplan beweist:
Die Mutter starrt noch immer auf das Kreuzworträtsel.

Anika – vor ihr stehend – sieht auf die tizianroten Haarbüschel. Sie hat Lust, mit der Faust auf die Haarbüschel zu dreschen. Einmal – zweimal – dreimal, bis die Mutter aufhört, so gemein zu sein. Aber der Zehner muß her. Wer mit der Faust auf tizianrote Haarbüschel drischt, kriegt keinen Zehner. Kriegt gar nichts mehr.

Dann gib mir einen Zehner!“

So nicht, mein Kind!”

Die Hinterseite der Mutter ist scheußlich. Durch den Pullover sieht man den Büstenhalter. Man sieht sogar, daß der Büstenhalter am letzten Haftel geschlossen ist, und über dem Büstenhalter und unter dem Büstenhalter wölbt sich Speck. Der Hintern ist kariert. Ein karierter Breitarsch. Karierter Breitarsch, plattgedrückt am Sessel, quillt kariert unter den Armlehnen durch, zwischen den Stäben der Rücklehne durch. [Ch. Nöstlinger 1975, S. 18–19]

Den gleichen Abscheu der Protagonistin gegenüber der Mutter beobachtet man auch im Werk „Pfui Spinne!“. Der emotionale Abstand ist mit der Bezeichnung der Mutter als „die Frau“ komprimiert, in der ganzen Ausdrucksweise spürt man Kälte und Gefühlslosigkeit:
Dick und weiß und weich sitzt die Frau im braunen Plüsch. Stundenlang sitzt sie schon. Kugeläugig schaut sie dem Fernsehloch zu. Ihr rechter Zeigefinger steckt in einem Nasenloch. Ihre Zungenspitze gleitet zärtlich über die Oberlippe, von einem Mundwinkel zum anderen und wieder zurück. Der Fernsehkoch klopft behutsam auf Fleischscheiben herum. Vertraulich klärt er sie über den innigen Zusammenhang von zu früher Salzzugabe und Saftverlust auf. Sie holt die Zunge in den Mund zurück. „Soll ich das morgen kochen?" fragt sie. „Das schaut doch schön aus – oder?“ [Ch. Nöstlinger 1990, S. 5]

Das gleiche Motiv der Abneigung und des Ekels der pubertären Tochter gegenüber der Mutter, bzw. den Eltern ist auch für das 1974 veröffentlichte Werk von Nöstlinger Der Spatz in der Hand signifikant. Lotte Prihoda, die Protagonistin dieser Geschichte, lebt mit ihren Eltern, die einen Gemüseladen betreiben, in einer Wohngemeinde eines Arbeiterbezirks in Wien:


Sie setzte sich im Bett auf, beugte sich vor und schaute durch die offene Kabinettür den Eltern beim Ausziehen zu.

Sie sind häßliche Menschen, dachte sie. Sie sind zu dick und zu klein. Ihre Gesichter sind zu rund und ihre Nasen zu groß. Sie haben Fettbäuche, und am Hintern haben sie Grübchen im Speck. Ich will nie so werden, wie sie sind, dachte sie. Sie ließ sich im Bett zurücksinken, schloss die Augen und lächelte, weil ihr einfiel, dass sie früher ihre Eltern schön gefunden hatte, dass sie früher dem Mundi einmal einen Tritt gegeben hatte, weil er gesagt hatte, ihre Mutter und seine Mutter schauten sich ähnlich.

Sie schauen sich wirklich ähnlich, dachte sie. Alle schauen sich ähnlich, dachte sie. Da, wo ich wohne, da gibt es überhaupt nur zwei Sorten, die Dicken und die Dünnen. Alle Dicken sind gleich. Und alle Dünnen sind gleich. Alle sind häßlich! Sie fragte sich, wo die schönen Menschen wohnten. Und ob die schönen Menschen in den schönen Häusern wohnten. In den Häusern mit den Gärten herum und den Gitterzäunen davor. [Ch. Nöstlinger 1974, S. 37–38]

Viele Werke von Ch. Nöstlinger sind durch meisterhafte Schilderung der für Wien so typischen Atmosphäre der Innenhöfe mit den nicht weniger idyllischen Nachbarsbeziehungen charakteristisch:


Wenn sie auf der Klomuschel stand, konnte sie in den Hof hinunterschauen; auf die Abfallkübel, die Klopfstange und die zerzausten Fliederbüsche. Und wenn sie sich am Fensterbrett hochzog und den Kopf zum Fenster hinausstreckte, konnte sie ins Zimmer vom alten Franz schauen; auf den Petroleumkocher und das zerwühlte, schmutzige Bett und das große Bild an der Wand… Es roch nach Gurkensalat und Augsburgern. Hinter der Tür piepste der Kanarienvogel Hansi. Hinter einer anderen Tür schepperte jemand mit Blechdeckeln oder Blechhefen. Das Ganglicht war eine matte, fünfzehner Birne ohne Schirm. [Ebda 1974, S. 36–37]

In der Kinder- und Jugendliteratur der achtziger Jahre wird oft die Großeltern-Generation und ihre Annäherung zu den Enkelkindern dargestellt. Das Altwerden ist ein lebenslanger, vielschichtiger Prozess, bei dem soziale, biologische und psychische Aspekte eine Rolle spielen. Wenn sich die Gesellschaft auf Werte wie Erwerbsfunktionalität, Vitalität, Jugendlichkeit, Dynamik konzentriert, ist es für alte Menschen, die nicht erwerbstätig sind und mit körperlichen Beschwerden kämpfen, nachteilhaft. Die Bedeutung alter Menschen für eine Gesellschaft pendelt zwischen Ehrfurcht vor der Würde und Weisheit des Alters und Ausgrenzung von als unnütz – im Sinne von unproduktiv – eingestuftem Leben. [Vgl.: Cevela 1996, S. 17]


Wo eine konkrete Lebenserfahrung in Bezug auf Großeltern fehlt, tritt Sehnsucht an ihren Platz, die wie z. B. im Werk von Mira Lobe Die Omama im Apfelbaum in der Phantasie des Kindes in Form einer Ersatzgroßmutter zum Ausdruck kommt.

Elfie Donnelly (geb. 1950) bringt in ihrem Werk ebenfalls tabuisierte Themen zur Sprache: Im Werk Servus Opa, sagte ich leise wird ein kleiner Junge mit dem sterbenden Großvater konfrontiert. Sie sprechen aufrichtig und offen über den Tod miteinander und lehnen falsche Mitleidsgefühle ab:


Der Opa haut mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte. Ein paar Fotos hüpfen hoch, als ob sie sich erschrocken hätten.

Sag ehrlich, Michi, findest du die Leut nicht auch blöd?“ Der Opa regt sich auf. „Beisetzung statt Begräbnis. Heimgegangen statt gestorben…“

Er ist verschieden“, fällt mir ein.

Oder eingeschlafen, entschlafen. Der Herr hat ihn zu sich gerufen…“

„…ins Gras gebissen“, rufe ich. Das sagen die im Fernsehen, in den Wildwestfilmen. „Die Veilchen von unten anschauen…“

Der Opa weiß noch mehr. „Den Löffel abgeben. Sein letztes Stündlein hat geschlagen …Und keiner traut sich mehr zu sagen, daß jemand gestorben ist. Einfach gestorben, tot. Mausetot. Punktum.“ [E. Donnely 1977, S. 81]
Auf eine andere, religiöse Weise drückt Lene Mayer-Skumanz die Sehnsucht der Kinder nach den Großeltern aus, wenn die Familie in der Krise ist, wenn sich die Eltern scheiden lassen. Im Roman Hanniel kommt in die Stadt (1989) nimmt Christians Engel Hanniel die Rolle des sterbenden Herrn Pospischil, des Ersatzgroßvaters des kleinen Christian, auf sich.
Renate Welsh schreibt 1985 zum Thema Großelterngeneration versus Enkelkinder einen Briefroman mit dem Titel Eine Hand zum Anfassen.

Die Protagonistin Nickel besucht in den Ferien die Großmutter, die in England in einer Klinik für Krebskranke liegt. Nickel erlebt mit, wie die Großmutter und viele andere Patienten dem Tod entgegensehen. Doch ihr anfängliches Entsetzen weicht einer wachsenden Fähigkeit, sich in die Kranken hineinzuversetzen. In Briefen an den Freund Felix schildert Nickel ihre Erlebnisse und Eindrücke. Das Schreiben hilft ihr, ihre Empfindungen zu ordnen und zu begreifen, dass der Tod zum Leben gehört:


Lieber Felix,

heute früh, als ich nach St. Luke´s kam, begegnete mir auf dem Gang ein Mann, der schob einen grauen Metallsarg vor sich her. Unten an dem Sarg waren vier Beine mit Gummirädern daran, und über den Sarg gebreitet war eine von den bunten Patchworkdecken…

Der Mann nickte aufmunternd, sagte irgendetwas wie:

,Der Gang ist breit genug für uns beide‘ und dann, ‚Lovely morning, isn´t it, love.‘

Ich mußte dreimal schlucken, bis ich, ‚It is, isn´t it?‘ herausquetschte.

Er ging weiter, endlich, kam zur Tür, blieb stehen und bat mich, ihm die Tür aufzuhalten. […]

Ich zuckte zurück, als hätte ich heißes Eisen angefaßt, mitten in dem Entsetzen war es mir noch furchtbar, daß er vielleicht mein Zurückzucken bemerkt hatte.

Das schreibe ich Dir nur, damit Du weißt, wie unrecht Du hast, wenn Du mich bewunderst. Ich kann damit nicht umgehen, mit dem Sterben nicht, mit dem Tod nicht, mit der Angst nicht, mit dem Schrecken nicht, mit gar nichts.“ [R. Welsh 1985,
S. 66–67]
Barbara Frischmuth, die überwiegend als Erwachsenenautorin bewertet wird, setzt in den achtziger Jahren ihr Schaffen für Kinder und Jugendliche weiter fort. Als Feriengeschichte aus dem Rang Problembuch könnte ihr Jugendroman Die Ferienfamilie bezeichnet werden. Nora, eine junge geschiedene Frau, verbringt Ferien auf dem Lande mit drei Kindern aus geschiedenen Ehen. Mit ihrem eigenen Sohn Pu, mit Fenek, dem älteren Sohn ihres geschiedenen Mannes und mit Laja, der Tochter ihrer Schwester. Im Buch erscheinen Motive der Scheidung der Eltern, der zerrissenen Familie oder der Sehnsucht der Kinder nach den Eltern in den Ferien:
Es war Laja, die auf ihrem Bett lag und weinte, und sie weinte so bitterlich, daß es Nora das Herz abschnitt. Vorsichtig setzte sie sich an den Rand des Bettes, Laja hatte sie womöglich gar nicht kommen gehört. „Laja-Mädchen“, sagte sie sanft und begann Laja zu streicheln. Da setzte sich Laja auf, und bevor Nora noch wußte, wie ihr geschah, hatte Laja ihren Kopf in Noras Schoß fallen lassen. „Was ist denn los?“ fragte Nora. „Was hast du denn, daß du so furchtbar weinen mußt?“ Laja schüttelte nur eine Weile den Kopf und griff nach einem Taschentuch… Sie sagte: „Der Fenek hat heute einen Brief von seiner Mutter aus Australien bekommen. Stell dir das vor, die schreibt sogar aus Australien, und meine Mutter? Meine Mutter sitzt in Wien und schreibt mir nicht, dabei ist das viel näher, und kosten tut es auch nicht soviel.“ [B. Frischmuth 1981, S. 86]
Die Kinder- und Jugendliteratur, die sich mit der jüngeren österreichischen Zeitgeschichte befasste, wurde immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, keine umfassende Information zu bieten. Dieser Vorwurf wurde jedoch abgewendet, weil darin eine mögliche falsche Erwartungshaltung sichtbar war – die Kinder- und Jugendliteratur wollte nicht Ersatz für zeitgeschichtlichen Unterricht oder politische Bildung sein, sondern durch die Darstellung individueller Schicksale und subjektiver Erfahrungen über ein Geschehen aufrütteln und nachdenklich machen.

Rosmarie Thüminger (geb. 1939) erzählt in realistischer Weise in ihrem Jugendroman Zehn Tage im Winter von der Zivilcourage einer Tiroler Bergbauernfamilie, die wenige Tage vor Ende des Zweiten Weltkrieges einen geflüchteten russischen Kriegsgefangenen auf dem Dachboden versteckt und ihm dadurch das Leben rettet. [Vgl.: Ellbogen 1997, S. 38]


Maria, die Protagonistin des Buchs entdeckt, dass ein verletzter russischer Kriegsgefangener auf dem Dachboden ihres Hauses versteckt ist. In der Schule hat sie gelernt, dass Russen primitiv, feige und hinterhältig sind. Es gelingt der Familie, Boris, wie der russische Soldat heißt, unentdeckt gesundzupflegen. Maria sieht am Ende alles mit anderen Augen:
Großmutter nickte. „Briefe gehen verloren, Soldaten werden getötet, Kinder gehen zugrunde.“

Ich hasse den Führer“, sagte Maria und erschrak im gleichen Augenblick. Was hatte sie gesagt? Aber plötzlich wußte sie, daß es stimmte. Ja, wirklich, sie haßte Hitler. Warum hatte er den Krieg angefangen? Warum gab es Konzentrationslager? Warum wurden Zigeuner umgebracht und Juden? Warum wurden Menschen eingesperrt, nur weil sie einem halbverhungerten Gefangenen ein Stück Brot gaben oder einen ausländischen Sender hörten?

Da kannst du viele hassen“, sagte Großmutter. „Hitler, ja, und dazu diejenigen, die mitgemacht haben, weil es ihnen geschmeichelt hat, Übermenschen zu spielen, und jene, die sich Vorteil ergattert haben. Und vor allem jene, die den Hitler an die Macht gebracht haben.“ [R. Thüminger 1989, S. 126]

Ende der achtziger Jahre veröffentlichte Mira Lobe einen realistischen Kinder- und Jugendroman mit der Thematik der körperlichen Kindesmisshandlung, Die Sache mit dem Heinrich (1989).

Mira Lobe schildert nicht nur den schrecklichen Akt der Misshandlung, sie geht den Ursachen auf den Grund. Die Schilderung des Milieus, in dem der zwölfjährige Heinrich aufwächst, und der Alkoholismus des Stiefvaters, der keine Hemmschwelle mehr wahrzunehmen imstande ist und darauf losschlägt, wenn ihm gerade danach ist, ist in der österreichischen Literaturgeschichte für Kinder und Jugendliche ein Unikum. Die Autorin spricht hier offen aus, was seit je her ein Problem darstellt. Die Aggressivität des Vaters steht symptomatisch im Widerspruch zur wehrlosen und vor allem willenlosen Mutter. Die Großmutter, die Nachbarn, nicht einmal die Klassenlehrerin wollen sich einmischen, sie unternehmen nichts. [Vgl.: Mikulášová 2004, S. 114]
Heinrichs Mitschülerin Julia ist selbst engagiert und rettet Heinrich aus dem asozialen Familienklima, als sich die sozial kranke Atmosphäre in der Familie unerträglich zugespitzt hat:
Es war im ersten Stock, als oben die Tür aufgerissen wurde und der Heinrich Hals über Kopf die Treppe herunterpolterte. Der Onkel brüllte: „Raus mit dir, du Scheißkerl! Du Mistvieh! Du Verbrecher!” …Julia wagte sich ein paar Stufen weiter hinauf. Der Heinrich war bewußtlos und voll Blut im Gesicht… eine Nachbarin bot ihre Hilfe an. Sie legten den Heinrich im offenen Vorzimmer auf den Boden, den Kopf zur Seite, damit er nicht an seinem Blut erstickte. Julia hörte, wie Wolfgang über sein Funkgerät Verstärkung anforderte und einen Rettungswagen… Die Polizisten überwältigten den tobenden Onkel, der mit einer leeren Bierflasche wütend um sich hieb.

Überall im Haus waren Türen aufgegangen, die Leute standen aufgeregt flüsternd beieinander: „So weit hat´s kommen müssen…“

Julia vernahm es wie aus der Ferne und wunderte sich über so viel Scheinheiligkeit: Warum war denn keiner von denen, die sich jetzt aufregten, bereit gewesen, den Onkel anzuzeigen? [M. Lobe 1989, S. 119–120]

4. Neunziger Jahre

Im Gegensatz zur Kinderliteratur der 70-er Jahre werden in den kinderliterarischen Texten der 90-er Jahre einengende Rollenerwartungen entschieden abgelehnt. Sei es durch die Negativdarstellung der Frau und Mutter, sei es durch positive Darstellung nicht geschlechtsrollenkonformen Verhaltens von Mädchen und Jungen oder durch die Kritik an männlichen, karriereorientierten Konzepten, die die Familie zurückstellen. Die Texte der 90-er Jahre zeigen, dass durch Ich-Stärke die eigene Rolle weitgehend selbst entworfen und gelebt werden kann. Es kommt zum Abbau der Grenzen zwischen Eltern und Kindern im Sinne der klassischen Rollenkonzepte. Erwachsene werden nicht mehr durchgängig als psychisch und sozial stabil gedacht, sie repräsentieren für ihre Kinder nicht mehr die starken, allwissenden Ratgeber. Dadurch werden die Kinder verstärkt in die Situation der ‚Früherwachsenheit‘ gedrängt. Sie entwickeln Verständnis und Empathie für die Situation der Eltern und avancieren zum Teil zu Ratgebern der Eltern.


Ein gutes Beispiel der frühzeitig erwachsenen Protagonistin ist Sarah aus dem Kinderroman Disteltage (1996) von Renate Welsh. Sie nimmt die mütterliche Rolle in der Führung des Haushaltes auf sich, weil die Mutter nach der Scheidung nicht imstande ist, ihr eigenes Leben zu bewältigen.
Wo Renate Welsh das Problem der Scheidungsfamilie auf realistische Weise darstellt, benutzt Christine Nöstlinger phantastische Mittel in der Verarbeitung dieses Themas. Als ihre Anna im Kinderroman Der Zwerg im Kopf (1989) das ewige Zanken und Streiten ihrer Familienangehörigen nicht mehr verkraftet, schlüpft ihr ein Zwerg ins Ohr, der sie in den auswegslosen Situationen berät.
In den kinderliterarischen Texten der 90er Jahre können die Fehler der Erwachsenen durch Herstellung von Kommunikation und Offenheit revidiert werden. Somit wird Kommunikation in den Texten zur Norm. Kindern wird die Fähigkeit zugesprochen, ihre Probleme und Bedürfnisse artikulieren zu können, sofern die soziale Umwelt Möglichkeiten bietet. Die Kinderliteratur neuester Zeit zeigt zwar Gefahren wie Vereinsamung, Isolation, Frustration, etc., ermöglicht jedoch ihren kindlichen Protagonisten, ihre Individualität zu entfalten und in der sozialen Umwelt zur Geltung zu bringen. [Vgl.: Schilcher 2001, S. 250–2]
So muss sich z. B. Anna, die Protagonistin des Jugendromans Solange die Zikaden schlafen von Jutta Treiber, an die neue Partnerin ihres Vaters gewöhnen, die zu ihnen nach dem Tod ihrer Mutter eingezogen ist.
Nicht das Kind, das Ansprüche stellt, Eltern und Lehrer terrorisiert, nur die neuesten Markenprodukte konsumiert und den Eltern immer länger und immer stärker auf der Tasche liegt, ebenso wenig das lärmende, trotzige, faule, subversive, dumme oder hässliche Kind steht im Mittelpunkt, sondern das intelligente, selbständige, kooperationsbereite, offene und meist hübsche Kind, das im Großen und Ganzen den Anforderungen zunehmender Modernisierung gewachsen ist.“ [A. Schilcher 2001, S. 252]
Rosmarie Thüminger widmet sich im Kinderroman Ab morgen ist Papa zu Haus (1994) dem äußerst zeitgeschichtlichen Problem der Arbeitslosigkeit. Julia und ihr kleiner Bruder finden es zunächst ganz schön, dass der Vater nun so viel Zeit für die Familie hat. Doch immer öfter streiten die Eltern:
Kurzarbeit“, sagte der Papa. Er spuckte das Wort aus, als sei es ein Schimpfwort. „Jetzt ist die gesamte Belegschaft schon drei Monate in Kurzarbeit!“ [R. Thüminger 1994, S. 12]
Letztendlich bekommt der Vater Arbeit und das Buch kann optimistisch enden:
Hört, hört, ihr Lieben! Wißt ihr, wer, mir geschrieben hat? Die Firma Aufhuber. Ich soll am Montag zu einem Vorstellungsgespräch kommen. Die Chancen stehen gut, daß ich die Stelle für die ich mich beworben habe, bekomme. Bin ich erleichtert! Ich kann euch gar nicht sagen, wie glücklich ich bin! …Ich werde selbstverständlich einige Zeit brauchen, um mich einzuarbeiten. Vielleicht muß ich auch noch den einen oder anderen Kurs belegen oder eine Art Umschulung machen…“ [R. Thüminger 1994, S. 93–94]
An verschiedenen Beispielen ließe sich ausführen, dass die Grenzen zwischen Behinderung und Gesundheit, Alter und Jugend, Ausländern und Deutschen usw. verwischt werden, dass Gemeinsamkeiten betont und Differenzen minimalisiert werden.
An dieser Stelle sind noch zwei Mädchenbücher von Rosmarie Thüminger zu nennen. Das erste ist die realistische Geschichte mit dem Titel Die Entscheidung. Christines Mutter wird mit dem Risiko konfrontiert, ein behindertes Kind zur Welt zu bringen. Die Protagonistin kämpft mit den positiven und negativen Gefühlen, mit Freude und Skepsis. Da in der Familie eine offene, aufrichtige und kommunikative Atmosphäre herrscht, entscheiden sich die Eltern, dass das Kind mit dem Down-Syndrom geboren wird. Die Protagonistin teilt den Kummer ihrem Tagebuch mit:
Liebes Tagebuch, ich muß dir etwas Schreckliches erzählen… Also, die Mutti ist heute vormittag vom Büro direkt in die Klinik gegangen, um die Ergebnisse der Untersuchungen abzuholen… Und nun hat sich herausgestellt, daß unser Baby wahrscheinlich nicht normal ist… Mit der Zeit hat sie mir erzählt, was los ist, nämlich, daß nichts ist mit einem gesunden, hübschen, schwarzhaarigen und blauäugigen Baby. Die Mutti wird ein behindertes Kind bekommen. Ein geistig behindertes Kind, ein Langdon-Down-Kind… Was das ist? Keine Ahnung. Wahrscheinlich etwas Furchtbares, wenn sich die Mutti so kränkt.“ [R. Thüminger 1992, S. 23]

Im Mädchenbuch Fidan widmet sich R. Thüminger der Problematik der in Österreich lebenden Türken.

Fidan, ein zwölfjähriges kurdisches Mädchen, lebt mir ihrer Familie in Österreich. Die Eltern wollen später wieder in die Türkei zurückkehren und erwarten von ihren Kindern, dass sie sich an die Regeln der islamischen Tradition halten. Zozan, Fidans ältere Schwester, verstößt gegen die strengen Moralvorstellungen der Moslems. Heimlich trifft sie sich mit einem jungen Österreicher. Der Familie bleibt dieser Kontakt nicht verborgen und sie beschließt, Zozan zurück in die Türkei zu den Verwandten zu bringen und dort zu verheiraten. Zozan spricht mit Fidan über die Anpassung und über das Leben in Österreich:
Ich glaube, das Problem ist das: Die Eltern nehmen uns mit nach Österreich, sie schicken uns in die Schule, in die Lehre. Wir sehen, wie die Menschen dort leben. Auch wir leben in Österreich ein anderes Leben. Wir verändern uns. Und unsere Eltern wollen ja auch, daß wir uns verändern und uns anpassen. Sonst könnten wir dort ja gar nicht bestehen. Ich muß mich anpassen, wenn ich auf meiner Lehrstelle zurechtkommen will. Aber gleichzeitig wollen die Eltern, daß wir dieselben bleiben. Daß wir uns nicht verändern. Daß wir weiter leben, wie wir in der Türkei gelebt haben, damit wir später hier wieder leben können.“ [R. Thüminger 1993, S. 99–100]

Anfangs der 90er Jahre widmete sich Barbara Frischmuth weiter dem Schreiben für Kinder, wie die zwei folgenden Titel beweisen. Der im Jahre 1992 in der 2. Auflage veröffentlichte Kinderroman Sommersee wird als eine humoristische Feriengeschichte bezeichnet.

Die Familie Wagner aus Deutschland verbringt ihren Urlaub im Salzkammergut. Ihr Sohn Manfred befreundet sich mit den Kindern aus dem Ferienort und alle erleben einen wunderbaren Sommer.

Die Sprache und der Stil von Barbara Frischmuth sind vollkommen. Die Autorin behandelt humorvoll die Sprachunterschiede des Deutschen und der österreichischen Variante des Deutschen:


In Deutschland spricht man deutsch, in der Schweiz und in Österreich auch. Das heißt aber noch lange nicht, daß in den Ländern und erst recht nicht in den einzelnen Bundesländern, Kantonen und Provinzen dasselbe Wort immer für dieselbe Sache steht. Besonders deutlich zeigt sich das beim Essen. Was den einen ihr Kloß, ist den anderen ihr Knödel. Was manchenorts als Sahne bekannt ist, heißt anderswo Obers, gar nicht zu reden vom alten Wettstreit zwischen Paradeiser und Tomate, Marille und Aprikose, Stelze und Eisbein; und bei den Würstchen, wie sie als Wiener heißen, während man bei Frankfurtern von Würsteln spricht, kehrt sich alles vollends um.“ [B. Frischmuth 1992, S. 13]
An dieser Stelle sind auch Bemerkungen von Renate Welsh über österreichische Varianten des Deutschen zu erwähnen. Im Artikel „Gott gab uns unsere Familie: Österreich. Was ist österreichisch an der österreichischen Kinderliteratur?“ drückte Renate Welsh 1995 unter anderem ihre Meinungen über österreichische Kinderliteratur sui generis aus. Sie lehnt ab, wenn den österreichischen KinderbuchautorInnen norddeutsche Grammatik aufgezwungen wird:
Ich weiß nicht mehr, wo ich gelesen habe, die leidvolle Verliebtheit in den eigenen Wortschatz unterscheide den Österreicher von anderen Deutschsprachigen. Das stimmt wohl.

Es kränkt uns, wenn deutsche Verleger uns norddeutsche Grammatik überstülpen, fast noch mehr, wenn österreichische Verleger das in vorauseilendem Gehorsam tun, um den Vorwurf der Provinzialität gar nicht erst aufkommen zu lassen. Für uns folgt der Feststellung: ‚Ich habe gestanden‘ automatisch die Frage ‚Was hast du gestanden?‘, während wir in der Straßenbahn bloß gestanden sind… Wenn mir eine Lektorin nicht gestattet, das schmutzige Geschirr abzuwaschen und ich es statt dessen spülen muß, dann habe ich es für mein Gefühl nur kurz unter den Wasserstrahl gehalten, und die Küche wird durchs Fegen statt Kehren aus Wien weg in eine nördliche Stadt versetzt.“ [R. Welsh 9/95]
Das nächste Buch aus dem Bereich der Kinderliteratur ist Barbara Frischmuths Biberzahn und der Khan der Winde (1990), eine Tier- bzw. Umweltgeschichte für die kleinsten Kinder.

Der kleine Max bekommt beim Spielen mit dem Ball eins auf den Kopf. Die Kinder lassen ihn unter einem Baum schlummern. Max beginnt zu träumen. Ein unbekannter Erzähler, der in einer Baumkrone sitzt, erzählt Max ein Märchen über die Prinzessin Biberzahn. Der Khan der Winde liebt die Prinzessin. Beide können miteinander nicht leben, aber sie mögen sich. Der Wind nimmt Biberzahn auf die Reise um die Welt und zeigt ihm sein Schloss über den Wolken.


Barbara Frischmuth schildert den Khan der Winde:

Wer oder was ist ein Khan?“

Eine Art Fürst oder ein Herrscher. Früher bin ich häufiger welchen begegnet. Zum Beispiel Dschingis-Khan, dem wilden Mongolenherrscher.“ … „Dann nennen wir ihn doch gleich Windis-Khan.“ … „Für ihn ist die Welt voll vom besten Material. Zum Beispiel Laub. Weißt du, wie gern er es zu einer Wirbel-Pyramide weht? Eine knisternde Köstlichkeit. Er sieht sich nämlich als großer Künstler, als eine Art Weltgestalter, und behauptet, daß die meisten Landschaften ihm ihre Form verdanken.“ [B. Frischmuth 1990, S. 10]
Die Prinzessin wird bald unglücklich und möchte in ihren See zu ihren Bäumen zurückkehren. Von der Erdwarte aus sehen sie, was am See passiert, wo Biberzahn zu Hause ist: Zwei Vermessungsingenieure stehen gerade am Ufer und wollen auf dem See der Biber ein Erholungsgebiet bauen lassen. Jetzt muss auch der Vater des Windis-Khans, der Nordwind, helfen. Er beginnt einen riesengroßen Sturm zu pfeifen und zu pusten. Beide Geometer lassen ihre Vermessungsgeräte liegen und flüchten aus der gefährlichen Gegend. Das Reich der Prinzessin Biberzahn ist gerettet.
Pusten?“ fragt Biberzahn, ohne stehenzubleiben.

Du willst doch, daß die Menschen wieder abhauen, daß sie sich verziehen?“

Natürlich“, schreit Beiberzahn beim Packen. „Natürlich will ich das. Sie haben den Bibern so viele Flüsse weggenommen, diesen Fluß geben wir nicht her. Die Menschen können nicht alles haben…“ [B. Frischmuth 1990, S. 54]
In dieser Hinsicht ist Biberzahn und der Khan der Winde eine moderne Umweltgeschichte, wie Michael Sahr diesen Begriff formuliert hat:
Wenn Literatur das Kind auf seine Lebenswirklichkeit vorbereiten will, muß sie von Anfang an und zunehmend stärker auch ‚unheile‘, gefährdete und kränkelnde Welt darstellen. Um nicht mißverstanden zu werden: Es geht nicht darum, das Bild von Umwelt und Heimat willkürlich einzuschwärzen, es geht vielmehr gegen die Neigung, es aufzuhellen und zu vergolden. Denn dann entstehen Lügengespinste, die unweigerlich zur Folge haben, daß einem ihre Bedrohung und allgegenwärtige Ausbeutung entgeht. Soweit darf es nicht kommen, dazu sind Umwelt und Heimat für den jungen Menschen zu wichtig.“ [Vgl.: Sahr 2001, S. 153]
Die Problematik des Umweltschutzes bildet ebenfalls das Sujet des Jugendromans Nagle einen Pudding an die Wand von Christine Nöstlinger.

Konrad Kurdisch junior, genannt Koku, ein Gymnasialschüler, ist sehr aktiv in den ökologischen Fragen; seine Handlungen beschränken sich jedoch nicht nur auf den Kontakt zu Greenpeace. Mit einigen Klassenkameradinnen und -kameraden organisiert er Geheimaktionen in der Stadt, um das Umweltbewusstsein der Erwachsenen wachzurütteln. So beschmiert z. B. seine Gruppe umweltschädliche Produkte mit schwarzer Farbe, der unsortierte Hausmüll wird einfach im Innenhof entleert und Windschutzscheiben der straßenverstopfenden Autos werden mit grüner Farbe versehen.

In diesem Roman geht es nicht nur um die Lösung jugendspezifischer, sondern auch gesamtgesellschaftlicher Probleme.
Zur Gattung Mädchenbuch kehrt Ch. Nöstlinger 1996 in der Geschichte Villa Henriette zurück.

In einer Villa in Wien lebt eine große Familie: Die Eltern der Protagonistin Mariechen, ihre zwei ledigen bzw. geschiedenen Geschwister, Mariechens Oma und ihr Bruder, Mariechens Großonkel. Wegen falscher Geschäfte der Oma droht die Villa verkauft werden zu müssen. Der Großonkel, den alle für irre halten, rettet das Haus, weil er Mariechen zur Erbin bestimmt. Die kauft das Haus für die Familie zurück:


Dr. Käfer räusperte sich und sprach: „Ich fasse also zusammen. Sie, liebste Henriette, haben Ihrer Enkeltochter Maria Magdalena Henriette das Grundstück Birkenstraße 58 samt darauf befindlichem Hause überschrieben, und Sie, lieber Albert, haben Ihrer Großnichte Maria Magdalena Henriette den Betrag geschenkt, der nötig ist, um Grund wie Haus wieder schuldenfrei zu machen.“ [Ch. Nöstlinger 1996, S. 213]
Die Autorin schildert in ihrem Werk ein ganz normales kleinbürgerliches Leben einer österreichischen Familie, aus dem die optimistische Figur der Protagonistin Mariechen emporsteigt. Dieses emanzipierte Mädchen ist typisch für die Werke Nöstlingers der 90er Jahre. Sie behauptet ihre Überlegenheit mit selbstbewusster Leichtigkeit. Sie allein durchschaut die Enge der Lebensverhältnisse, indem sie stets einen gewissen Abstand hält.
Souveräne, selbständige Heldinnen und Helden werden in der Kinder- und Jugendliteratur der 90er Jahre immer häufiger. Die Kinder müssen sich nicht nur mit den ‚ungenügend erwachsenen‘ Eltern abfinden, sie haben auch mit der Gewalt in der Schule zu kämpfen. Neben der schon oben erwähnten Erzählung Sonst bist du dran (1994) von Renate Welsh mit dem Thema der Brutalität unter Gleichaltrigen bearbeitet auch Lene Mayer-Skumanz in ihrem Werk Das Lügennetz (1993) Motive der Gewalt, aber auch der Empathie in der peer-group.

Der zwölfjährige Protagonist der Geschichte Roman ist in seine Mitschülerin verliebt. Aus diesem Grund gerät er in Terminnöte in der Schule und zu Hause. Gerade zurzeit, da er die blonde Sissy zur Flötenstunde begleiten will, soll er sich um die Großtante Steffi kümmern. Es entsteht ein ganzes Netz von Lügen, denn bei der Tante soll Roman seinen Freund Zlatko vertreten. Die Wahrheit wird enthüllt, aber es stellt sich heraus, dass die Tante Steffi sowieso schon am Anfang alles wusste. Ein friedliches Ende ist vorprogrammiert: Alle, auch Tante Steffi, besuchen ein Konzert.

Lene Mayer-Skumanz bearbeitet in diesem Werk auch andere Motive: Nächstenliebe, bürgerliche Initiativen, Integration der Bosnier in Österreich, Initiative gegen Ausländerfeindlichkeit:
Tschusch! Zlatko bückt sich nach seiner Tasche und schielt dabei zu Tante Steffi hoch. Ein Segen, daß sie so schwerhörig ist! Sie ist nicht zusammengezuckt, starrt nur auf die Bücher und Hefte im Gras.

Der Bursch setzt sich neben Zlatko und winkt seinen Freunden. „Da kommt´s her! Wenn die Alte weiterrückt, können alle hier sitzen! Was braucht die so viel Platz!“

Und noch immer schweigen die Leute ringsum.

Pack deine Sachen, Roman, wir gehen!“ sagt Tante Steffi mit ihrer tiefen lauten Stimme. Dann nimmt sie den Zwanzigschillingschein, der neben ihrem Teller liegt, und schiebt ihn dem Anführer der Burschen zu. „Da, junger Mann, das ist für Sie! Kaufen Sie sich einen Strick! Damit Sie sich aufhängen können, bevor Sie alt werden!“ [L. Mayer-Skumanz 1994, S. 28]


Die Domäne von Lene Mayer-Skumanz sind Geschichten mit religiöser Thematik und Geschichten mit subtilen phantastischen Elementen. So auch ihr Werk Ein Löffel Honig aus dem Jahre 1994. Das Thema des Buchs sind leise Gespräche mit dem Gott, Nachdenken über Handeln und Benehmen der Mitmenschen und über die Tugenden allgemein. Der Gott – im Buch verwendet die Autorin für ihn die Abkürzung IBD-IBME, d. i. ich bin da – ich bin mit Euch – sieht alles und reagiert darauf:
Meine Julia!“ sagt IBD-IBME. „Sie hat eine besonders hübsche Nase, und sie lernt sie zu gebrauchen. – Fühlt ihr euch nun besser, meine Felder, meine Wiesen, meine Bäume, mein Moos auf dem Felsen?“

Danke, viel besser!“ ruft ein fröhlicher Chor. „Wir loben dich mit jedem nassen Halm, mit jedem feuchten Blatt, mit jedem aufgeweichten Krümelchen. Sei gelobt aus Wurzelgrund!“ [L. Mayer-Skumanz 1994, S. 91]


Der kleine Faun (1993) von Lene Mayer-Skumanz ist eine phantastische Geschichte, situiert in Rom. In einem der römischen Museen wird eine kleine Statue des Fauns gestohlen. Da die Statue jedoch eine Seele hat, wird er lebendig und flüchtet vor den Dieben aus dem Auto. Er versteckt sich in einem der Innenhöfe, lernt die zehnjährige Carina kennen und erlebt einige Abenteuer. Ihn zu finden, ist ein riesengroßer Finderlohn versprochen. Der Faun und Carina arrangieren die Sache so, dass zwei bedürftige Familien aus der Nachbarschaft eines Tages die Statue des Fauns finden und belohnt werden.

Die Intention der Autorin, christliches Zusammenleben und Nächstenliebe zu thematisieren, kommt in diesem Buch wieder stark zum Vorschein.


Abschließend passen wohl zur Charakteristik der Kinder- und Jugendliteratur der vergangenen fünfzig Jahre die Worte von Gundel Mattenklott, die die deutschsprachige Literatur definierte. Diese Definition passt meiner Meinung nach sehr gut auch auf die österreichische Kinder- und Jugendliteratur des letzten Halbjahrhunderts.
Die deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur ist […] – mit wechselnden Schwerpunkten – in den Händen der Umwelt- und Friedenspädagogen, der Antiatomkraftbewegung und des Feminismus, der Vertreter interkultureller Erziehung und politischer Korrektheit. Sie tritt ein für die Rechte der Alten und Behinderten, der Ausländer und Aussiedler, der vernachlässigten und der sexuell mißbrauchten Kinder. […] Insgesamt kann man feststellen, daß die Kinder- und Jugendliteratur völlig übereinstimmt mit den Erziehungs- und Lernzielen und -inhalten, wie sie z. B. in den bundesdeutschen Rahmenplänen formuliert sind. Wir haben eine Kinderliteratur, die in hohem Maße den Anforderungen unserer Gesellschaft an eine pädagogische Institution und dem gesellschaftlichen Konsens entspricht. Dieser Konformismus steht nicht im Widerspruch zum kritischen und emanzipatorischen Anspruch vieler Autoren, denn Emanzipation im Sinne von Mündigkeit, Selbstbestimmung und der Fähigkeit zum kritischen Denken gehört zur geringen Zahl der höchstrangigen Erziehungsziele unserer Demokratie, aus denen alle anderen abzuleiten sind.“ [G. Mattenklott 1997, S. 20–29]


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